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Blick von der Galerie in den Sitzungssaal des Berliner Abgeordnetenhauses.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

„Ein Parlament für alle“: So bildeten Ost- und West-Berliner das Gesamtberliner Abgeordnetenhaus

Am 11. Januar 1991 versammelten sich erstmals Abgeordnete aus beiden Teilen der Stadt – problemlos war das nicht. Ein Gastbeitrag.

Ralf Wieland, 64, ist Mitglied der SPD und seit 2011 als Nachfolger von Walter Momper der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses.

Vor genau dreißig Jahren konstituierte sich das erste Gemeinsame Berliner Abgeordnetenhaus in der Nikolaikirche. Das Datum 11. Januar war bewusst gewählt, ebenso der Ort der Versammlung. Denn am 11. Januar 1809 konstituierte sich die erste Stadtverordnetenversammlung in besagter Nikolaikirche. Das Datum war also eine Verbeugung vor den Ursprüngen des Stadtparlaments.

Es war im 19. Jahrhundert durchaus üblich, dass die gewählten Volksvertreter den göttlichen Beistand suchten. Das berühmteste Beispiel ist das Paulskirchenparlament in Frankfurt am Main, die Deutsche Nationalversammlung von 1848. Es war ein Eingeständnis, dass die Politik auf christlichem Fundament steht. Geist und Moral des Christentums waren die Paten in den Anfängen des deutschen Parlamentarismus. So auch in Berlin.

Das Gemeinsame Abgeordnetenhaus ging aus den ersten Einheitswahlen vom 2. Dezember 1990 hervor. In das neue Stadtparlament, das auch Landesparlament ist, wurden von den Wählerinnen und Wählern 241 Abgeordnete entsandt. Davon waren 91 aus dem ehemaligen Ost-Berlin. Stärkste Fraktion wurde die CDU. Sie stellte auch mit Hanna-Renate Laurien die erste Abgeordnetenhaus-Präsidentin im wiedervereinigten Berlin.

Unabhängig von der Senatsbildung, die erst noch nach Koalitionsverhandlungen erfolgen musste, hatten die neuen Gesamt-Berliner Abgeordneten drei Probleme zu lösen. Da war zunächst die Frage, wie die Wahlperioden gezählt werden sollten. War es jetzt die erste oder die zwölfte Wahlperiode für das neue Abgeordnetenhaus? Die Mehrheit sprach sich für die zwölfte Wahlperiode aus. Sie wollten die Kontinuität zum West-Berliner Abgeordnetenhaus betonen, das seit 1950 aus freien Wahlen hervorging. Aus dieser Sicht war die Teilung der Stadt ein Interregnum, das nun überwunden war.

Ralf Wieland, Präsident des Abgeordnetenhauses Berlin.
Ralf Wieland, Präsident des Abgeordnetenhauses Berlin.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Befürworter der Neuzählung sahen hingegen im neuen Abgeordnetenhaus einen kompletten Neuanfang. So unbedeutend dieser erste Disput im Parlament anmutet, er traf einen wunden Punkt, der sein Selbstverständnis berührte. Und er machte deutlich, dass die Teilung der Stadt zunächst noch in den Köpfen der Abgeordneten fortlebte.

Deutlich wurde dies auch am zweiten Problem, das das neue Abgeordnetenhaus lösen musste. Sollte die Stadt eine neue Verfassung bekommen oder reichte es aus, die Verfassung von West-Berlin an die neuen Verhältnisse anzupassen? Auch hier prasselten die gegensätzlichen Auffassungen bei den Abgeordneten aufeinander, zumal die Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung im Juni 1990 eine neue Verfassung verabschiedet hatte. Und in dieser Frage verlief die Antwort der Mandatsträgerinnen und Mandatsträger ebenfalls meist entlang der einstigen innerstädtischen Grenze.

Das Abgeordnetenhaus in Zahlen
Das Abgeordnetenhaus in Zahlen

© Tagesspiegel/Rita Böttcher • Recherche: Corinna Cerruti • Quellen: parlament-berlin.de, Tagesspiegel • Stand: Januar 2020

Doch es wurde ein Kompromiss gefunden: Zunächst wurde mehrheitlich die Verfassung von West-Berlin übernommen – unter dem Vorbehalt, sie zu überarbeiten und durch eine Volksabstimmung legitimieren zu lassen. Hierzu wurde eine Enquetekommission eingesetzt. Am 18. Mai 1994 lag dann ihr Schlussbericht vor. Dreizehn Monate später, am 22. Juni 1995, beschloss das Parlament einen Kompromiss auf der Grundlage des Kommissionsberichts als neue Verfassung von Berlin. Mit Ausnahme der PDS stimmten alle Fraktionen zu. Die Volksabstimmung zur neuen Verfassung am 22. Oktober 1995 ergab eine 75-prozentige Zustimmung. Allerdings fiel sie in den östlichen Bezirken mit 67 Prozent geringer aus als im Westteil Berlins.

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Das dritte Problem des neuen Abgeordnetenhauses betraf nach der Konstituierung im Januar 1991 die profane Frage: Wo sollte der künftige Sitz des Abgeordnetenhauses sein? Im Grunde war das neue Parlament heimatlos. Weiterhin im Rathaus Schöneberg, dem Sitz des West-Berliner Abgeordnetenhauses, zu tagen, war keine Option. Schon längst platzte es aus allen Nähten. Und das Rote Rathaus, in dem die Stadtverordnetenversammlung beheimatet war, schied als Sitz aus. Umfangreiche Bauarbeiten verhinderten einen Umzug dorthin. Außerdem sollte es das Domizil des Regierenden Bürgermeisters werden.

Das Abgeordnetenhaus in Zahlen
Das Abgeordnetenhaus in Zahlen

© Tagesspiegel/Rita Böttcher • Recherche: Corinna Cerruti • Quellen: parlament-berlin.de, Tagesspiegel • Stand: Januar 2020

Es musste also eine neue Lösung her für die langfristige Unterbringung des Abgeordnetenhauses. Präsident Jürgen Wohlrabe griff im Juni1990 eine Idee des damaligen Abgeordnetenhausdirektors Werner Gohmert auf: Er hatte den ehemaligen Preußischen Landtag vorgeschlagen, das Gebäude gegenüber dem Martin-Gropius-Bau stand leer. Und es war als Parlamentsgebäude konzipiert worden. Gemeinsam mit der Präsidentin der Stadtverordnetenversammlung, Christine Bergmann, wurde der Plan umgesetzt. Wegen Sanierungsarbeiten tagte das Abgeordnetenhaus noch bis April 1993 unter engen Bedingungen weiter im Rathaus Schöneberg.

Das Parlament spiegelte die Probleme der Vereinigung wieder

Blickt man zurück in die Zeit der Konstituierung des Gemeinsamen Abgeordnetenhauses, dann spiegelte das Parlament all die Probleme wider, die der Vereinigungsprozess insgesamt mit sich brachte. Zwei völlig unterschiedliche Mentalitäten kamen zusammen. Die Abgeordneten aus dem West- und dem Ostteil der Stadt waren komplett anders sozialisiert.

Die einen lebten seit Jahrzehnten in einer Demokratie, wirkten an ihr mit, kannten die Mechanismen politischer Willensbildung und Durchsetzung politischer Ziele. Die anderen hingegen waren mit einem für sie neuen Politikbetrieb konfrontiert, ohne zu ahnen, dass der gute Wille allein nicht ausreicht, um politische Ziele durchzusetzen. Dadurch entstand ein Klima des gegenseitigen Unverständnisses, das sich in den 90er Jahren auch in einem sehr unterschiedlichem Wahlverhalten im Ost- und Westteil der Stadt verdeutlichte und sich erst langsam entlang der politischen Parteigrenzen normalisierte.

Das Abgeordnetenhaus in Zahlen
Das Abgeordnetenhaus in Zahlen

© Tagesspiegel

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Zur Entspannung der Ost-West-Befindlichkeiten trug dann meiner Ansicht nach auch die Koalitionsbildung von 2001 bei. Das Aufkündigen der Großen Koalition, der Tabubruch der Tolerierung eines rot-grünen Minderheitssenats durch die PDS und die kurz darauffolgenden Neuwahlen pflügten die politische Landschaft Berlins um, ohne dass dies in dem Maße vorhersehbar gewesen wäre.

Mit Rot-Rot koalierten dann die zu diesem Zeitpunkt jeweils stärksten Parteien aus den beiden Stadthälften und konnten aus meiner Sicht als Katalysator für die städtische Vereinigung wirken. Und es war, davon bin ich zutiefst überzeugt, die einzige politische Konstellation, die die gewaltigen Sparmaßnahmen, vor denen Berlin stand, parlamentarisch durchsetzen und in beiden Stadthälften gesellschaftlich verankern konnte.

Die Hauptstadtfunktion und das Wirtschaftswachstum zogen viele Menschen aus dem In- und Ausland nach Berlin. Für sie spielte die ehemalige innerstädtische Grenze keine Rolle, eine dadurch in vielen Bezirken stark veränderte Bevölkerungsmischung sorgte auch dafür, die ehemaligen Gegensätze zu nivellieren.

Es war sicher ein langer Prozess von der Konstituierung des Gemeinsamen Abgeordnetenhauses bis heute. Auch der Wandel braucht eben Zeit. Aber inzwischen wird Berlin von den hier Lebenden als eine Stadt wahrgenommen. Im Parlament sieht jede Abgeordnete, sieht jeder Abgeordnete zunächst die Verantwortung für die ganze Stadt, ohne die lokale Verankerung in den Wahlkreisen zu vernachlässigen. Aus dem Gemeinsamen Abgeordnetenhaus ist daher längst ein Parlament für alle geworden – eben das Berliner Abgeordnetenhaus.

Ralf Wieland

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