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100 Jahre Groß, Berlin. Der Pankower Kurt Groß kann nicht mehr gut laufen und sehen. Aber er kann noch viel erzählen über Berlin im Wandel eines Jahrhunderts.

©  Robert Ide

Ein Jahrhundert in Berlin: „Wenn du hier weg willst, fang rechtzeitig damit an“

Kurt Groß wird 100 Jahre alt. Seine Feier fällt aus. Im Interview erzählt er von Hertha am Gesundbrunnen, Bombennächten und Kartoffelzügen durch die DDR.

Onkel Kurt hat sich diesen Mittwoch anders vorgestellt. Für die Familie sollte es Kaffee und Kuchen geben, hinterher einen Korn und einen Haufen Erinnerungen. Der Bezirksbürgermeister wollte in der kleinen Pankower Wohnung, in der Kurt mit seinem Sohn Klaus wohnt, zum Gratulieren vorbeikommen. „100 wirste schließlich nur ein Mal im Leben“, sagt Onkel Kurt.

Vor 100 Jahren, im April 1920, wurde Groß-Berlin gegründet. Ein neues Leben begann in der Großstadt, die alles Schlechte und Gute der Welt in sich vereinte: Republik und Armut, Weltkrieg und Massenmord, Befreiung und Teilung, Revolution und Mauerfall. Kurt Groß wurde am 22. April 1920 in Niederschönhausen geboren.

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Vor seinem Jubiläum war ich mit Onkel Kurt – er ist der Bruder meiner Oma – verabredet zum Blättern in Fotoalben und Familiengeschichten. Dann kam Corona. Kurt muss heute mit seinen Söhnen Eberhard und Klaus allein feiern. Helga, seine Freundin aus dem Märkischen Viertel, kann sowieso nicht kommen; ihr geht es gesundheitlich nicht gut. Der Rest der Familie steht heute Nachmittag unten am Balkon und lässt Kurt mit Abstand hochleben.

Ich habe Onkel Kurt gefragt, ob er mir nicht am Telefon seine Geschichten weitererzählen will. Und dann habe ich mich gefragt, ob man sie nicht aufschreiben sollte für andere in der Großstadt. 100 wird man schließlich nur ein Mal im Leben.

Kurt, wie schafft man es, 100 zu werden?
Ich hab immer Sport getrieben, viel gearbeitet, bin gern gewandert. Jetzt fällt mir das Laufen schwer, ich sehe nicht mehr gut. Aber was ich noch schaffe, mache ich. Gestern habe ich mit meinem Sohn Klaus eine Möhrensuppe gekocht. Ich hab Möhren geputzt und geschnitten; er hat Fleisch gemacht. Dit hat jeschmeckt.

Was war bisher das Schlimmste in Deinem Leben?
Soldat zu sein. Viereinhalb Jahre war ich als Funker im Krieg. Wir waren in Frankreich als Besatzer, mussten die Funkkommandos der Wehrmacht weitergeben. Ich habe das ganze Elend gesehen, das Krieg anrichtet. In Russland wurden wir mit Granatwerfern beschossen. Wir warfen uns in die Büsche, aber ein Splitter schlug in meinem Rücken ein. In einem provisorischen Lazarett lag ich drei Tage auf einer Wiese. Dann wurde ich nach Dnepropetrovsk ausgeflogen und operiert. Später kam ich mit einem Lazarettzug nach Oppeln. Da durften mich mein Vater und Hilde, meine Schwester, besuchen.

Im Krieg passieren viele Verbrechen. Was hast Du davon mitbekommen?
Man kämpft um Leben und Tod, alles ist verbrecherisch. Wir haben im Wald gelebt wie Strauchdiebe, Bunker gebaut, Wasser aus Benzinkanistern getrunken, den Tod gesehen. Das Schlimme ist, dass man im Krieg dem Sterben so ausgeliefert ist. Ich saß zum Glück meist im Funkwagen, wir haben die Russen abgehört. Die haben das umgekehrt auch gemacht, die waren ja nicht dümmer als wir.

Hast Du das Kriegsende in Berlin erlebt?
Ja. Meinen 25. Geburtstag im April 1945 feierte ich im Zoo-Bunker; da hatten wir Funker ein Zimmer. Draußen fielen die Bomben. Wir haben auf dem Fußboden Kaffee getrunken mit den Nachrichtenhelferinnen vom Zimmer unter uns. Kuchen haben wir uns am Bahnhof Zoo von den Marken geholt, die meine Mutter gesammelt hatte. Der Bunker war voller Leute, die Zuflucht suchten; dann wurde der Flakturm geräumt. Die Russen waren im Anmarsch. Ich wollte versuchen, den britischen Truppen entgegenzugehen, marschierte nach Spandau, übernachtete in der Zitadelle, schlug mich durch die Mark Brandenburg. Es nützte nichts.

Welche schönen Erinnerungen an Deine Kindheit hast Du?
Ich war im Turnverein in Niederschönhausen; wir haben uns an der frischen Luft bewegt. Ferien machten wir in Oranienburg beim Onkel, er beschlug Pferde in seiner Schmiede. Auf dem Bauernhof der Tante in Schmachtenhagen wurden Brot und Pflaumen gebacken, wir Kinder haben beim Melken mitgeholfen. Viele meiner Freunde sind marschieren gegangen bei der Hitlerjugend. Aber ich habe mich geweigert, da einzutreten. Ich wollte frei sein, nicht unter Zwang stehen.

Bist Du deshalb Eisenbahner geworden?
Ach, das war Zufall. Ich war sehr klein, wie alle in unserer Familie, und hatte kein Abitur. Nach der Volksschule brauchte ich Arbeit – und in unserem Vereinslokal saß auch der Direktor der Niederbarnimer Eisenbahn am Tresen. Der hat mich zu sich nach Hause bestellt und abgefragt; so kriegte ich eine Lehrstelle. Mit 14 fing ich an zu arbeiten: Schreibmaschine lernen, Frachtbriefe ausfüllen an den Güterbahnhöfen Niederschönhausen und Weißensee. Mein erstes Geld waren 95 Mark. Davon bezahlte ich Fahrgeld und habe mich selbst gekleidet. Vater und Mutter musste ich Kostgeld geben. Mein Vater war Laternenanstecker und Schuster, der durfte im Keller unseres Hauses eine Werkstatt einrichten, weil er im Winter Schnee schippte. Meine Mutter nähte zu Hause Hosen. Auch meine Schwester Hilde hat gearbeitet, erst als Verkäuferin um die Ecke; im Krieg musste sie dann in eine Rüstungsfabrik am Gesundbrunnen. Wir lebten im Souterrain, aber immerhin mit zwei Zimmern. In den Bombennächten hockten alle im Keller, vor den Fensterluken lagen Sandsäcke.

Wie hast Du Berlin nach dem Krieg erlebt?
Ich hab mich gleich bei der Eisenbahn zurückgemeldet im Mai 1945. Da ich unbelastet war, nicht in der Hitlerjugend und in der Partei war, wurde ich sofort wieder eingestellt. Ich betreute die Industriebahn in Wilhelmsruh, die hatten die Russen umgenagelt auf Breitspur, um mit ihren Zügen die Reparationen in die Sowjetunion abzufahren. Dann war ich Fahrdienstleiter in Rosenthal, hab Fahrkarten verkauft und die Züge abgefertigt. Der Mann mit der roten Mütze, dit war icke.

Wie war das Leben nach dem Krieg?
Die Berliner sind rausgefahren nach Basdorf. Vor der Stadt haben sie Stoffe, Bettwäsche, ihre guten Dinge aus dem Hausstand eingetauscht gegen Lebensmittel. In Rosenthal fing sie manchmal die Militärpolizei ab und nahm ihnen das Brot wieder weg. Manche Leute konnte ich warnen, die sind dann nach Berlin reingelaufen. Es gab viel Tauschhandel. Weil ich ihm Saatgut organisiert hatte, bekam ich von einem Bauern am Stadtrand einen Sack Kartoffeln. Den hab ich mit dem Handwagen nach Hause gezogen.

Gab es auch Lebensfreude?
Klar, hinter der Kirche war ein Wald mit Lichtung, da haben wir Fußball gespielt. Aber im Winter haben Leute die Bäume gefällt, weil sie Feuerholz brauchten. Ich betreute am Güterbahnhof die Kohlenzüge für den Winter. Später war mein Spitzname „Knollenkutte“, weil ich für die Bahn die Kartoffeltransporte organisierte. Im Herbst konnte sich jeder bevorraten mit drei Zentnern Kartoffeln im Keller, gleich neben den Kohlen. Wir haben das aus Mecklenburg angefahren, jeden Morgen um vier kam der Kartoffelzug – das ging sechs Wochen so. Die Aktion war politisch brisant. Der Staat wollte nicht, dass die Leute in den Westen abhauen, weil sie nichts zu essen haben.

Welche Erinnerungen hast Du an das ungeteilte Berlin?
Wir hatten nie viel Geld, aber Langeweile auch nicht. Ich war ja Fußballfan, bin zu Hertha gegangen an der Plumpe. Das Stadion am Gesundbrunnen war gleich am Bahnhof, manchmal flog ein Ball auf die Gleise. Die Tribünen lagen tiefer, ein richtiger Kessel. Hanne Sobek hat ein Tor nach dem anderen geschossen. Ich weiß noch, der Mann vom Elektroladen in der Florastraße in Pankow war auch so ein Fußballfanatiker. Wenn du da eine Glühbirne gekauft hast, hat er dir eine halbe Stunde von Hertha erzählt. Wir waren auch beim VfB Pankow in Schönholz, der Verein wurde später durch die Mauer getrennt. Manchmal gingen wir in Vergnügungsgaststätten, aber immer bei uns im Norden, ganz bescheiden. Oder ins Kino. Im „Blauen Stern“ in Niederschönhausen hat Heinrich, der Mann von Hilde, als Filmvorführer gearbeitet. Dein Vater hat ihm geholfen und die Filme gebracht.

Das Kino gibt es heute noch.
Wirklich? Wenn ich mit meinem Sohn Eberhard mit dem Auto zum Friedhof durch die Stadt fahre, sieht nichts mehr aus, wie es war. Auch bei uns draußen ist es voller geworden, und die Menschen sind anders. Jeder guckt auf sich oder auf sein Handy. Bei der Arbeit sitzen viele vorm Computer im Büro oder zu Hause - Du doch auch, oder? Wir haben damals noch jeden Tag Bewegung gehabt.

Hast Du an den Sozialismus geglaubt?
Icke? Nö. Ich war auch nicht in der Partei. Mein Vater war alter Sozialdemokrat, aber als die sich mit den Kommunisten vereinigen sollten zur SED, ist er ausgetreten. Bei der Eisenbahn haben mich meine Chefs bekniet, ich solle doch mitmachen, dann würde ich befördert werden. Aber ich hab mich nicht breitschlagen lassen. Später habe ich sogar gelogen, denn meine Frau Luzie hatte Westverwandte. Ich habe gesagt, dass sie sich von ihr lossagen, wenn wir Kommunisten werden. Das konnten die ja nicht überprüfen. Ich hab mich sonst nicht verweigert, war in der Gewerkschaft – aber Parteiauftrag? Ich wollte machen, was ich will. Meine Söhne waren in der Partei, ja. Eberhard war sogar im Ministerium, er hatte auch Freikarten beim BFC Dynamo, wo die ganze Staatsprominenz auf der Ehrentribüne saß. Da sind wir manchmal zusammen hingefahren oder zum FDGB-Pokal ins Stadion der Weltjugend am Nordbahnhof. Einmal stand Hansa Rostock im Finale, da haben die Fans nach einem Tor frische Fische auf den Rasen geworfen.

Von mehr Freiheit außerhalb der DDR hast Du nie geträumt?
Wir waren zufrieden. Luzie war Kindergärtnerin, in den Ferien waren wir in Ferienobjekten von der Eisenbahn: Angeln auf Usedom, Kahnfahren in Lychen. Oder bei Verwandten in den Gärten. Ich weiß noch, wie Deine Eltern die Laube in Rosenthal bekommen haben, direkt an der Mauer. Auf dem freien Feld wurden Bauteile abgeladen, damit haben wir die Laube gebaut. Und dann die Lauben von den Nachbarn. Früher hat man viel zusammengesessen, nach Betriebsschluss Skat gespielt. Heute erzählen sich Kollegen ja nicht mal, was sie verdienen. Jeder setzt sich in sein Auto und weg ist er. Wir waren viel unterwegs mit den Eisenbahnern oder mit der Familie. Mit Euch Kindern haben wir Pilze in Birkenwerder gesucht. Es war alles familiärer. Schade, dass die Zeit so schnell vergangen ist.

Den Mauerfall hast Du schon als Rentner erlebt.
Ja, deshalb durfte ich mit Luzie schon vorher öfter nach West-Berlin. Wir hatten Freunde drüben, die hatten ein Häuschen in Rudow. Als die Mauer gefallen war, haben die uns sogar im ersten Stock ein eigenes Zimmer eingerichtet, wir hatten einen Schlüssel und durften ein- und ausgehen. Wir haben da frei gelebt, bis sie gestorben sind. Ich hab den Mann noch auf dem Sterbebett rasiert. Mit guten Freunden kommt man durch jede Zeit.

Nach dem Tod von Luzie kamst Du mit Helga zusammen, sie wohnt im Märkischen Viertel.
Wir telefonieren zwei oder drei Mal am Tag – gerade jetzt, weil wir wegen Corona alle Kontakte vermeiden sollen. Ich will ja auch keinen anstecken. Wir trinken dann Kaffee und erzählen uns am Telefon, wie wir gemeinsam auf Mallorca waren, am Strand spazieren gegangen sind, abends gab es Unterhaltungsmusik.

Hast Du Dich jemals gelangweilt?
Nö, eigentlich nicht. Man muss sich selbst beschäftigen können. Ich habe gerne gebastelt. Zu Hause haben wir eine elektrische Eisenbahn mit den Kindern auf eine Spanplatte montiert, die haben wir im Flur mit Seilen an die Decke gezogen, weil die Wohnung so klein war. Man muss sich immer was einfallen lassen.

Wolltest Du nie weg aus Berlin?
Berlin ist meine Heimat, was soll ich woanders? Ich hatte eine gute Arbeit, war in der Eisenbahn zu Hause und bekam als Rentner Freifahrten. Berlin ist eine Großstadt, es ist laut, früher war vor meinem Fenster ein Rangierbahnhof, dann der Flughafen Tegel. Aber ich bin mit Berlin verwachsen, wat willste da machen? Ich kann den Leuten nur sagen: Wenn Du hier weg willst, fang rechtzeitig damit an.

Was ist für Dich heute ein guter Tag?
Mit 100 kannst Du keine Bäume mehr ausreißen. Ich bin Invalide, komme die Treppen kaum runter. Manchmal setze ich mich in den Liegestuhl auf den Balkon und trinke ein Bier. Ich beobachte die Nachbarskatze, die den ganzen Tag auf einem Tisch sitzt. Der geht's auch gut.

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