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Kein Ort, nirgends. Der Fernsehturm steht wie ein Baum aus Stein im Zentrum, alles dreht sich um ihn.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Ein Abschiedsbrief an Berlin-Mitte: Meine verlorene Stadt

Der U-Bahnhof Vinetastraße an einem nasskalten Werktagsmorgen. Die Menschen sind unterwegs auf ihren Alltagswegen, laufen über die Ampel zur Tramstation, schieben Kinderwagen durch den Nieselregen, gucken blinzelnd unter Kapuzen hervor, haben Zug und Ziel.

Der U-Bahnhof Vinetastraße an einem nasskalten Werktagsmorgen. Die Menschen sind unterwegs auf ihren Alltagswegen, laufen über die Ampel zur Tramstation, schieben Kinderwagen durch den Nieselregen, gucken blinzelnd unter Kapuzen hervor, haben Zug und Ziel.

Ich bin keiner von ihnen, gehöre nicht dazu. Ich sitze unter dem Dach der Bushaltestelle, an altbekanntem Ort, und weiß doch nicht, wo ich bin. Ich sehe mein Haus da drüben auf der anderen Straßenseite, aber schon dieser Satz stimmt nicht. Es ist ja gar nicht mein Haus, schon lange nicht mehr. Sechs Jahre ist es her, dass ich zum letzten Mal da drüben durch die Holztür gegangen bin.

Neu lackiert ist sie, nicht mehr grün wie damals und voller Graffiti-Tags, stattdessen nun einfach ganz grau. Sie steht offen, die Tür, das wundert mich, noch gegen Ende meiner Zeit hatten sie einen automatischen Schließer am Türrahmen installiert, eine erste Sicherheitsmaßnahme aus der Zeit der modernen Stadt. Fortan kackten uns immerhin die Penner nicht mehr in den Hausflur, fanden wir auf der halben Treppe kein Alupapier mehr von den Nachbarschaftsjunkies.

Meine erste eigene Bude: Vorderhaus, 2. OG links, Einzug Anfang März 2004, das erste Semester an der FU lag gerade hinter mir. Zwei große, aufrichtig abgerockte Altbauzimmer für knapp 350 Euro warm direkt an der U2, eine Station weiter schon der Ringbahnhof Schönhauser, zehn Minuten weiter der Alex. Meine Familie ließ ich in Spandau zurück, zufrieden in ihrem Reihenendhäuschen am Stadtrand, die Straße runter kamen nur noch die weiten, öden Felder von Brandenburg. Ich aber war jetzt mittendrin.

Und nun? Will ich Abschied nehmen. Abschied von meiner Gegend, meiner Vergangenheit, über zwölf Jahre habe ich hier verbracht, erst gut sechs Jahre an der Vineta, dann noch mal sechseinhalb am Mauerpark, nur eine Haltestelle runter Richtung Fernsehturm, Richtung Stadt.

Eine andere Stadt ist das jetzt, eine andere Gegend hier oben. Ein anderes Leben auch: Aus dem 21 Jahre alten Uni-Neuling von damals ist ein Familienvater von 34 Jahren geworden. Ein seltsamer Satz, wenn man ihn so dastehen sieht, aber es ist, wie es ist: Nur noch ein paar Tage, dann ziehen wir weg von hier, in unser neues Zuhause, ich, meine Frau, unsere beiden Töchter. Sehr weit weg. Wieder rüber da, in den anderen Teil der Stadt. Ins alte, kalte, schicke Berlin-West. Nicht der Liebe wegen. Sondern für die einzige Wohnung, die irgendwie zu haben war.

Und Al Stewart singt "Year of the Cat"

Bald schon werde ich dann nie mehr hier hochkommen. Warum auch? So funktioniert es doch, dieses seltsam verfranste Ding Berlin. Was nicht auf dem täglichen Weg liegt oder im direkten Umkreis, nicht zwischen Wohnung und Stadt, das existiert nur in der Vorstellung oder in der Erinnerung vielleicht. Das ist er, der eigentliche Wesenskern des Scheinriesen Berlin, sein paradoxer Minimalismus: hunderttausend verschiedene Möglichkeiten zu haben jeden Tag beim Aufstehen - und abends dann doch wieder in die gleichen zwei Läden gegangen zu sein. Oder nur nach Hause.

Ich verliere jetzt das, was so lange mein Zuhause war. Den Mauerpark. Die Nähe zum Alex. Den Blick auf den guten, alten Fernsehturm, das ist fast das Schlimmste. Seine Ruhe und Unverrückbarkeit. Die Gewissheit, dass er immer da ist, hinter der nächsten Ecke, am Ende der Straße.

In meiner Erinnerung ist es nicht kühl und nass, sondern strahlender Frühling. Ich sehe mich im T-Shirt auf meinem alten Balkon sitzen, ganz rechts im Zweiten, da wo heute die sorgsam drapierten Blumenkästen stehen, eine Tasse schwarzen Tee in der Hand, die Kreuzung im Blick, und hinter den offenen Fenstern singt Al Stewart „Year of the Cat“.

Der Anfang eines Lebens. Es fällt mir schwer zu begreifen, wie lange das alles wirklich her ist. Durch den Niesel sehe ich die Solarzellen da oben auf dem Dach, Solarzellen!, schreit etwas in mir, überhaupt, dieses ganze schicke, sicher topdichte, komplett neu gedeckte Dach, wie jedes andere sieht es jetzt aus. Keine Spur mehr von meiner Sat-Schüssel und dem rostigen Antennenmast, an dem sie treu hing, nach jedem halben Sturm musste man hoch und neu ausrichten, mit dem Handy die unten fragen: Jetzt besser? Und vor dem Schließen der Dachluke noch ein Nicken in Richtung des langen Gefährten da am Horizont. Grüß dich, Fernsehturm, du guter, alter Ostler. Schön, dass es dich gibt.

Die Vergangenheit ist ein seltsamer Magnet, sie zieht näher und stößt ab, oft beides gleichzeitig.

Ich will weg hier, es macht mich alles traurig. Vorher aber will ich da noch mal reinschauen, die offene Haustür ist eine zu große Verlockung. Schon bin ich über die Straße, durch die Haustür, drin im Flur. Ich komme mir vor wie der Eindringling, der ich ja auch bin, aber kein Mensch ist zu sehen, nur die Briefkästen da an der Wand, so groß und neu und perfekt ausgerichtet. Schnell weiter, geradeaus durch den Gang, durch die Glaseinsätze der Hoftür sehe ich schon den ersten Stock der Remise, auch sie nun vollständig renoviert und beige gestrichen wie alles andere, mittlerweile auf zwei Etagen bewohnt. Hat nicht mein Vater eben noch auf dem Hof unter seinem kaputten VW-Bus gelegen?

Die Hoftür fällt hinter mir zu, und ein schlimmes Gefühl der Enge packt mich. Alles ist jetzt ausgefüllt und durchgeplant, wo früher nur Matsch und Unkraut war. Links von mir ein Unterstand für Fahrräder und Recyclingtonnen, zum Hinterhaus geht es auf schmalem Pflaster, und daneben, überall, sind jetzt diese ... Thujahecken! Ich schieße noch ein schnelles Foto, stemme dann die Tür auf, laufe raus auf die Straße. Es war keine gute Idee herzukommen. Ich hatte ganz vergessen, dass in der Vergangenheit wenig mehr zu finden ist als Sehnsucht, sinnlos, unerfüllbar.

Wir waren der Easyjetset

Kein Ort, nirgends. Der Fernsehturm steht wie ein Baum aus Stein im Zentrum, alles dreht sich um ihn.
Kein Ort, nirgends. Der Fernsehturm steht wie ein Baum aus Stein im Zentrum, alles dreht sich um ihn.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Aber was hatte ich nur erwartet? Dass sich gar nichts verändert hätte, seit ich mit Barbara hinten vor der groben Backsteinwand Bewerbungsfotos gemacht habe - und die Glatze aus dem Dritten sonntagmorgens besoffen feuchte Spanplatten abfackeln wollte? Mit dieser nutzlosen Erinnerung stehe ich draußen an der roten Ampel, trete ungeduldig von einem Bein aufs andere und sehe den f6-Kiosk drüben, wo Rogan und ich früher die Berliner nachgeholt haben, wenn das Bier aus war. Auf der anderen Straßenseite kommt jetzt ein bulliger Typ mit Stoppelhaarschnitt angewatschelt, einer von den alten Pankow-Fightern. Er hat seinen Kampfhund dabei und lässt ihn neben sich hochspringen. Locker bis auf Nackenhöhe kommt er, der gute Hasso, und Herrchen ist so richtig stolz. Fast will ich sie beide umarmen. Der wilde Osten lebt noch, ein bisschen.

2004, die Nullerjahre - Zeit des Aufbruchs für mich und für die große Stadt. Damals ging das Ganze erst richtig los mit dem Hotspot Berlin, das MoMA war in meinem ersten Zentralberliner Sommer zu Gast in der Neuen Nationalgalerie, ein Jahr später standen wir geduldig drei Stunden Schlange für Goya. Dieter Kosslick machte die Berlinale zum Starereignis, holte Namen wie Roland Emmerich und Charlotte Rampling in die Jury. Und den WM-Sommer 2006 schließlich feierte Berlin eh durch, mit Schweden, Kroaten, Brasilianern und wem nicht alles. Auch ich saß nach einem Spiel Unter den Linden vor einem Wohnmobil und ließ mir von schlagseitenen blau-gelben Fans Lakritzschnaps nachschenken.

Sicher kein Zufall, dass im Mai 2004, nur Wochen nach meinem Einzug, eine orangefarbene Billig-Airline den alten Ost-Flughafen Schönefeld entdeckte und die ersten sechs Strecken in europäische Großstädte eröffnete. Am Ende dieses großen, langen Sommers hatte ich ein paar lockere Scheine an der Uni gemacht und eine Freundin aus Athen gefunden. Zu zweit flogen wir für lange Wochenenden nach Barcelona, Budapest und Paris, liefen durch die Straßen der großen Metropolen, in der sicheren Gewissheit, dass wir am Ende wieder in die beste von allen zurückkehren würden, in unsere kleine, ranzige Nicht-Metropole.

Wir waren der Easyjetset, hatten immer nur leichtes Handgepäck dabei.

Und wenn dann nach drei, vier Tagen woanders draußen vor den Sichtluken des sinkenden Fliegers wieder der gute, alte Fernsehturm gegen die Dämmerung anblinkte, dann schlug mein Herz noch mal einen Tick schneller. Und wie missmutig die Gesichter plötzlich alle aussahen in der Ringbahn, wie grau die Anoraks in den Straßen. Wie dunkel alles war und wie abgefuckt von November bis April. Aber es war nicht schlimm, der nächste Sommer würde kommen, und der nächste Trip. So lange hatten wir hier unsere Basis.

Mein Freund, der Fernsehturm

Und weil kein 21-Jähriger die großen Entwicklungen im Kopf hat, sondern immer nur das nächste Wochenende, hat keiner von uns irgendwas von dem kommen sehen, was schon längst begonnen hatte - nicht zuletzt durch uns. Wir pickten noch sorglos Tapas in engen Gassen, tranken Bier in alten Gemäuern und Cappuccino auf sonnigen Plätzen, und die jungen Menschen in Paris, in Budapest, in Barcelona kamen zu uns, und es gefiel ihnen gut, und viele kamen wieder und viele blieben hier, weil es nirgendwo so billig war und nirgendwo so geil.

Nach Jahren des Schrumpfens und der Stagnation wuchs Berlin jetzt und wuchs noch mehr. Seit 2004 jedes Jahr. Zunächst um die fast rührend kleine Zahl von 1700 Neuzugängen netto, dann immer schneller und schneller. Spätestens seit 2011 sind wir in dieser Statistik satt im fünfstelligen Bereich, Jahr um Jahr, immer neue Rekorde stellt Berlin-City auf. Um 42 800 Bewohner ging es nach oben im ersten Halbjahr 2016 allein, mehr als vor Kurzem noch in einem ganzen Jahr. Dreieinhalb Millionen sind wir hier schon, knapp vier Millionen sollen es 2030 sein.

Als Klaus Wowereit Ende 2003 seinen lässigen „Arm, aber sexy“-Spruch in die Welt setzte, fanden wir das noch ziemlich lustig, weil: lächerlich. Heute aber lacht keiner mehr. Eins hat good old Wowi nämlich nicht gesagt: Dem normal armen Berlin-Bewohner, der seine Zehn-Euro-Kaltmiete nicht mehr zahlen kann, nützt am Ende auch der kesseste Augenaufschlag nichts mehr.

2010 war es für mich so weit. Nach sechs Jahren in meinem zugigen Zwei-Zimmer-Paradies oben an der Vineta zog mir die neue Hausverwaltung den Stöpsel. Der Vorgang ist bekannt, in den letzten Jahren zigfach verhandelt und in allen Details aufgeschrieben worden. Los ging es mit ein paar Verschönerungsmaßnahmen im Treppenhaus, am Dach, an der Elektrik, dazu die gesetzlich zulässige Mietspiegelanpassung sowie eine strikte Durchsetzung des Untermietverbots, und plötzlich kostet dich die gleiche Bruchbude knapp drei Mal so viel wie vorher.

Mit ein paar routinemäßigen Winkelzügen und Drohgebärden schafften sie es, dass ich schon bald die Segel strich. Was sollte der Geiz, dachte ich mir, und ließ mich für eine lächerliche Abfindung vertreiben. Wurde eh Zeit für einen Tapetenwechsel, das Studium vorbei, die Freundin wieder ausgezogen, der Kiez da oben auch nie richtig vom Fleck gekommen. Ich war jetzt 27, verdiente erstes Geld als Journalist, also machte ich, was doch alle seit Jahrzehnten immer gemacht hatten und was auch nie ein Problem gewesen war: Ich suchte mir eine neue Bude.

Und obwohl, wie ich schnell merkte, die Dinge sich bereits sehr verändert hatten zwischen 2004 und 2010, obwohl winzige WG-Zimmer plötzlich 350 Euro kosteten, mich Massenbesichtigungen in Starkraucherbuden nach wenigen Minuten in die Flucht schlugen: Ich wurde fündig. Sogar oben, in meiner gleichen alten Einflugschneise, ein paar Ecken weiter nur, zwischen Schönhauser Allee und Voltastraße, tat ich mit einem Freund eine WG-taugliche Zwei-Zimmer-Wohnung auf, vierter Stock im 80er-Jahre-Neubau mit viel Licht und Luft und Grün vor dem Fenster und einem unverbauten Blick über den weiten, weiten Mauerpark. Preis sehr okay: 600 Euro warm für 70 Quadratmeter. Aber vor allem, das Wichtigste und Größte und beste Nice to have, was ich mir vorstellen konnte - vorne vor allen Fenstern und dem Balkon, fröhlich blinkend: mein Freund, der Fernsehturm.

Stand da einfach mitten in unserem Horizont, perfekt eingepasst in eine Astschneise, als hätten sie die Bäume hinter dem leer stehenden Altenheim extra für uns zurückgeschnitten. Schon die Jahre zuvor war er ja steter Begleiter meines Alltags gewesen. Jetzt war ich mir sicher, er würde mich nie verlassen. Immer war er doch da, der lange Stachel mit der undurchsichtigen Kugel dran, und zwinkerte einem spätnachts im immer gleichen Takt Beruhigung zu von weit oberhalb der überdrehten Stadt.

Wilder Osten

Kein Ort, nirgends. Der Fernsehturm steht wie ein Baum aus Stein im Zentrum, alles dreht sich um ihn.
Kein Ort, nirgends. Der Fernsehturm steht wie ein Baum aus Stein im Zentrum, alles dreht sich um ihn.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Offiziell wohnte ich jetzt zwar im Westen, im Wedding, mit Blick auf den früheren Todesstreifen, jetzt: Wiesen und Bäume. Aber praktisch war die Schönhauser immer noch vor der Tür, die Kastanienallee nur einmal durch den Park, der Weg in die Stadt der gleiche geblieben, Richtung Süden, Richtung Westen, immer die Sonne im Gesicht.

Die guten, alten Routinen. Montagsmittags auf einen Schawarma zu 1001 in die Stargarder. Samstagmittags zu den Lautern-Spielen zu Elvis und den Jungs in den Gun Club, Schliemannstraße, Leberwurstbrote und Bellheimer und Fachsimpeln mit Micha und Simon. Freitagabends zum Warmwerden ins Schwarz-Sauer oder im Sommer auf ein paar Caipi vors Wohnzimmer, später dann noch rüber zum August Fengler, um mal zu sehen, was so ging. Und im Fengler ging ja eigentlich immer was.

Wir gingen jetzt auch oft in Mitte weg, ins Schmitz oder die Neue Odessa, ins Haus am See oder ins Muschi Obermaier drei Ecken weiter, die ganzen schlimmen Hipsterschuppen. Ich bekam regelmäßig Kohle als Sportreporter, und nach einem langen Spätdienst hatten die Kollegen und ich immer ziemlich viel Durst. Und freitags und samstags, wenn uns danach war, ging es noch zum Abstürzen rüber ins Kaffee Burger. Dort - der Laden immer noch rechtschaffen verranzt, das Klo eine Katastrophe, der Tanzraum spätestens um halb zwei eine sowjetische Dampfsauna - war irgendwie noch der wilde Nachwende-Osten zu Hause. So stellte ich mir die Neunziger vor.

Denn, klare Sache, für den großen Hype da oben war ich natürlich locker zehn Jahre zu spät dran, die Nachwendezeit und ihre Folgen habe ich hier nicht erlebt, da war ich noch ein Teenager in der Spandauer Vorstadt, meine Welt so klein wie mein Zimmer unterm Dach im Haus meiner Eltern. Staunend und neidisch hörte ich meinem Onkel zu, der - entscheidende zwölf Jahre älter - von illegalen Kellerpartys und Caipirinha-Besäufnissen in verfallenen Garagen erzählte.

Aber es war doch noch was da, auch zu meiner Zeit, da war noch was zu spüren vom Geist des Aufbruchs, sie war noch zu sehen an jeder zweiten Ecke, diese Aura des ewig Unfertigen, die Raum ließ für so viele Möglichkeiten und Menschen. Die Nullerjahre, ein letztes zartes Nachwehen der Nachwendezeit.

Da war ja noch Leben in den Höfen und den Nischen, auch wenn sie drumherum schon die ganzen Fassaden schick gemacht hatten. Anfangs gab es ja noch das High End 54, das winzige Kino oben im Tacheles, es gab den Knaack Club, wo sich freitags beim Käptn Karaoke irgendwann alle zu „Westerland“ und „Griechischer Wein“ in den Armen lagen. Es gab auch den Magnet Club noch ein Stück die Straße hoch, wo dienstags die Rock Bar fetzte und Andor, wenn er da war, immer ein paar von den rosa Getränkemarken am Start hatte für uns. Alles zu, alles vorbei, dem Lärmschutz gewichen, den neuen Eigentümern und den reichen Nachbarn, dem großen Geld, verklagt, verzogen, verkauft.

Der wilde Osten ist so schrecklich erwachsen geworden. Und wir mit ihm.

Den Baustaub aus der Jacke klopfen

Eine Weile gab es auch noch die Gewerbebaracken im Norden des Mauerparks, direkt hinter unserem neuen Haus, wo wir 2006 Deutschland gegen Schweden geguckt hatten auf winzigen Röhrenfernsehern und wo sie jetzt die Wochenenden zu Elektro durchtanzen. Die letzten Versprengten sahen wir manchmal sonntagmorgens um zehn, elf Uhr Richtung Eberswalder taumeln. Sonntags war Monbijou im Gras gegenüber von der Säulengalerie, sonntags war Arkonaplatz und Mauerpark, und je nachdem, wie der Wind stand, kam der Gesang vom Freiluft-Karaoke zu uns herübergeweht, Fetzen von „I Will Survive“ und „Dont Stop Me Now“, Didgeridoo und Gelächter und der ewige Sommergeruch von Würstchen auf dem Einweggrill.

Auch das veränderte sich dann, in den letzten drei Jahren ist auch der Mauerpark zum Investitionsobjekt geworden, zum riesigen Baugrundstück. Während mein Leben steter wurde, meine neue Freundin einzog und meine Frau wurde, fuhren draußen vor dem Haus die Bagger vor und die Lkw. Die Presslufthämmer ließen die Gläser in der Küche zittern. Das verlassene Altenheim gegenüber musste weichen, noch ehe die Kinder auf der Welt waren, und neu entstand einer dieser funktionalen Wohnkästen, enge Ein- bis Drei-Zimmer-Wohnungen, letzten Herbst brannten die ersten Lichter hinter den winzigen Fenstern, alles wird gerne genommen.

Und auch hinter dem Haus ragen nun ein halbes Dutzend Kräne in den Nachthimmel. Wohnraum braucht die Stadt, 100 Einheiten hier, 600 da, Berlin als Dialyse-Patient. Und wir Bewohner nur noch nervöse Ameisen, die ihre Fahrräder über provisorische Stromschwellen wuchten, die sich den Baustaub aus der Jacke klopfen und mit geducktem Kopf durch den dröhnenden Gleimtunnel fliehen.

Unsere Tage an der alten Grenze sind gezählt. An trockenen Tagen legt sich der Staub auf die Balkonpflanzen und die Küchenscheiben. An nassen Tagen laufen Bäche braunen Schlamms über den Gehweg und verstopfen die Gullis.

Als wir nach langer vergeblicher Suche eine Wohnung für vier im fernen Charlottenburg besichtigen, sieht meine Frau die vollen Caféterrassen an der Ecke und sagt: Hier sieht es ja aus wie zu Hause in Frankreich.

Kurz vor unserem Umzug mache ich einen letzten Gang durch die alte Nachbarschaft. Ich gehe die Gleimstraße hoch, am Falkplatz vorbei und dem früheren Wasser und Brot, 2010 noch die letzte ehrliche Raucherkneipe hier unten, kurz darauf zu, heute einer dieser Fake-Tapas-Läden, einmal da gewesen, nie wieder. Ich laufe am Pattaya vorbei, das es noch gibt und wahrscheinlich immer geben wird, krisenfestestes Gewerbe: asiatische Küche. Der Irish Pub, der damals auf der legendären Ekelliste des Bezirks Pankow stand, ist eine Bio Company, als ob die noch jemand hier gebraucht hätte. Andererseits: Kaufe ich mittlerweile nicht auch Bio-Möhrchen statt Lidl-Minutensteaks wie damals noch an der Vineta?

Ein paar Minuten später stehe ich ratlos in der Schliemannstraße, trippele vor und zurück und noch mal vor und kann meinen Gun Club nicht mehr finden. Ich sehe nur neue Fassaden, war Jahre nicht mehr hier, der Zweitligafußball ist verzogen, seit Elvis sich Sky nicht mehr leisten konnte.

Ich kriege regelrechte Panik, wo ist meine Fußballkneipe, kann sie einfach verschwunden sein? Schließlich entdecke ich auf einer Lamelle eines heruntergelassenen Rollladens ein Filzstift-Tag, Gun Club, da steht es. Ich gucke an der hellblauen Hauswand hoch. Mann, Elvis, wo bist du?

Baum aus Stein

Kein Ort, nirgends. Der Fernsehturm steht wie ein Baum aus Stein im Zentrum, alles dreht sich um ihn.
Kein Ort, nirgends. Der Fernsehturm steht wie ein Baum aus Stein im Zentrum, alles dreht sich um ihn.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Am Helmholtzplatz wehen ein paar letzte Blätter übers Pflaster. Die Penner von der Tischtennisplatte, da sind sie noch, immerhin. Da hinten auf der Bank saß ich so oft mit Micha an den Sonntagskatermorgen, einen Togo in der Hand und ein Croissant. Alles so lange her. In der Kollwitzstraße haben die neuen Herrscher der Stadt ihre Büros, Next Estate GmbH, Primär Immobilien, die breiten Gehwege sind voll mit Kleinkindern und ihren Eltern, es ist ein einziges Geschrei und Gerenne, Kita-Abholzeit, Rush Hour in Prenzlberg, Dutzende, Hunderte kleine Menschen, es nervt mich, das Ganze, ein alter eingespeicherter Reflex, aber ist das nicht auch ein Zwillingswagen, den ich da vor mir herschiebe?

Über die Schwedter also zurück dahin, wo unser Zuhause ist, noch, zurück zum Mauerpark, der an einem Werktag im Winter - zu meiner Beruhigung - immer noch das ist, was er damals schon war: eine leere Landebahn aus Kopfsteinpflaster und Sand, mit einer Schicht Kronkorken und Zigarettenkippen drauf.

Da hinten, im Nordteil des Geländes, sehe ich schon wieder die Baukräne und das Haus, das wir jetzt verlassen. Ich muss an die Dokumentation denken, die mich neulich so umgehauen hat, ein Schwarz-Weiß-Film aus dem Sommer 1990, „Berlin - Prenzlauer Berg“, so der simple Titel.

Szenen des Alltags hat die Regisseurin Petra Tschörtner damals festgehalten, frühe Morgen und späte Nächte. Kinder, die zwischen den Trümmern des vergessenen Viertels Pistoleschießen spielen. Rentner beim letzten Schwoof, die Schlange vor der Curry-Bude Konnopke, Bilder von Disko und Kettwurst, und, ja, auch von den Hausbesetzern an der Kastanienallee, die es damals noch gab. Das ganze irre Ex-DDR-Leben also, das Leben zwischen zwei Zeiten und zwei Ländern, die Grenzen kein Jahr offen. Mein Viertel vor 25 Jahren, aber da ist eine Unbändigkeit in den Bildern, ein Alles-ist-möglich, das nur in den Trümmern eines untergegangenen Landes entstehen kann. Da ist eine Stimmung in diesen 74 Minuten, die sofort Sehnsucht macht. Und da ist auch schon die Ahnung, dass jetzt alles anders wird, man findet sie in den Worten des Fotografen Harald Hauswald: „Ein bisschen Prenzlauer Berg ist schon noch da“, sagt er in diesem Sommer 90, „wird sich sicherlich auch erhalten. Nehm ich an. Hoff ich.“

Was ich mich nun frage: Ist es möglich, Nostalgie zu empfinden für etwas, das man selbst nie erlebt hat? Sehnt sich jeder nach dem, was vor 20 Jahren war? Oder sind die alten Aufnahmen einfach noch mal eine Verdichtung dessen, was ich selbst gespürt habe, als ich jung war, hier in der Gegend? Als noch ein paar letzte Reste da waren der alten Jahre.

Kann sein, dass es der normale Gang der Dinge ist, des Lebens in der großen Stadt, dass jeder und alles irgendwann in ihr fremd wird. Aber was, wenn irgendwann gar nichts mehr da ist von all dem Wilden, Kaputten, kein matschiger Hinterhof, keine einzige graue Wand mehr für bunte Schmierereien, nicht im Osten, nicht in Kreuzberg oder Neukölln oder dem Wedding?

Was mir endgültig klar wird auf meinen letzten, verzweifelten Rundgängen: Mein altes Viertel ist nicht mehr - und das liegt nicht nur am Viertel. Die Gegend meiner Zwanzigerjahre ist eine Geisterstadt, und ich bin der Letzte, der noch den alten Schatten hinterherrennt. Sind ja alle schon weg, alle, die hier oben gewohnt haben, mit mir, wegen mir, die in meinem Leben waren, in meinem Alltag für eine Zeit, die alten Mitbewohner haben jetzt Familie, Barbara drüben am Friedrichshain, Luke far, far away in Falkensee. Der treue Micha ist Beamter auf Lebenszeit an der Schweizer Grenze, Rogan lange schon wieder in Melbourne, O. bald zehn Jahre zurück in Athen. Und wir jetzt dann eben in der verdammten City-West.

Der Funkturm macht alles nur noch schlimmer

Dann ist es so weit: Bernd und seine Jungs fahren unser Leben quer durch die Stadt, 60 Kartons in einem weißen LKW, es regnet in Strömen, wie im Film. Sie haben nicht vor dem Haus parken können, wegen der Baustelle, mussten alles bis zur Kreuzung schleppen. Nächster Halt Charlottenburg.

Wenig später sitze ich in der Wohnung, von der ich immer hätte träumen sollen, Stuck, Parkett, große Küche, neues Bad. Ich mache Kisten auf, schaue rein, schiebe sie weg. Gehe raus, weiß nicht wohin. Es ist wirklich alles sehr schön, die Menschen, die Gegend, überall Kopfsteinpflaster, der S-Bahnhof keine fünf Minuten weg. Hochherrschaftliche Bebauung, lese ich in einem Immobilien-Aushang ums Eck und weiß nicht, was das sein soll.

Sonntags ist es so still hier, so leer. Wo sind die spanischen Touristen und die Italiener in ihren Michelinmännchen-Jacken? Ich hätte nie gedacht, dass ich sie mal vermissen würde. Ich will es auf den Winter schieben, auf das graue Ding, das seit Wochen tief über unseren Köpfen hängt. Ich versuche, mir die ersten warmen Tage auszumalen, wie voll dann die Cafés sein werden und die Spielplätze. Es klappt nicht. Berlin im Dezember sieht nie aus wie Frankreich.

Wir haben ja Glück gehabt, wieder mal, mehr Glück, als uns zustand. Haben diese wunderbare Wohnung auf Anhieb gefunden, wo andere mittlerweile jahrelang suchen. Die Wahrheit aber ist: Mir fehlt die alte Gegend schon jetzt, so sehr sie sich auch selbst verloren haben mag. Mir fehlt der weite Himmel über dem Park. Die Tram, die sich um die Zionskirche schlängelt. Die täglichen Wege mit dem Fahrrad durch die Nebenstraßen der Kastanienallee. Ich sehe ihn nicht mehr, meinen lieben, alten Turm. Verlaufe mich ohne ihn. Schlage falsche Wege ein, suche, kehre um.

Nach ein paar Tagen entdecke ich, dass man von unserem Erkerfenster aus die Spitze des West-Berliner Funkturms sieht. Es macht alles nur noch schlimmer. Er steht doch für nichts, denke ich, sieht nach nichts aus, diese Provinzausgabe des Eiffelturms. Kein Zentrum einer Stadt, zu seinen Füßen kilometerweit nur leere Messehallen, Autobahnzufahrten, Kongressraumschiffe. Er ist nicht sichtbar, der Funkturm, überragt keinen Alltag, weist keine Richtung.

Der Osten, denke ich dann, einsam am Fenster meiner wunderbaren West-Wohnung stehend, der Osten war es, der diesen Ort definiert hat. Er tut es ja noch. Jahrzehnte war er das, was der Stadt gefehlt hat, auch die im Westen konnten ihn ja sehen, diesen gigantischen Stachel. Der Fernsehturm war der sichtbare Fixpunkt aller unerfüllten Träume, auf beiden Seiten. Er stand da, wie er heute noch da steht, alles überragend und Signale sendend, die kein Herz entschlüsseln kann.

Ein neues Jahr, der Winter streckt sich. Die Lampen hängen, das Bücherregal ist eingeräumt. Bernd hat seine leeren Kisten abgeholt. Die Kinder krabbeln schon, ziehen sich am Gitter des Laufstalls hoch, stehen lachend da, Papa, guck. Im Wagen tragen sie Schneeanzüge und dicke Mützen, schauen still und neugierig. Wir laufen zusammen durch die Straßen, die für sie so neu sind wie für mich. Der Lietzensee ist nicht weit. Ich warte auf den Sommer.

Zum Schreiben nehme ich die Bahn nach Mitte. Auf halbem Weg kann ich ihn das erste Mal sehen. Hinter dem Reichstag steht er senkrecht im Himmel wie ein seltsamer Baum aus Stein.

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