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Nur Zahlen zählen in der Pandemie - doch was, wenn die nicht stimmen?

© imago

Dunkelziffer weiter unbekannt: Darum landen viele Corona-Fälle aus Berlin in keiner Statistik

Weil die Gesundheitsämter überlastet sind, werden Kontaktpersonen der ersten Kategorie mit Symptomen nicht immer getestet. Ein Fall aus Moabit zeigt die Folgen.

Müde ist er immer noch. Jeden Abend gegen 20 Uhr werde er inzwischen schläfrig, erzählt Jonas Gerster. Immerhin, das Kopfweh, das er zehn Tage hatte, ist weg. Die Energie kommt zurück und auch Geruchs- und Geschmacksinn verlor er nur für eine Woche.

Anfang November hat sich Jonas Gerster mit dem Coronavirus infiziert. Da ist er sich ganz sicher, alle Symptome sprechen dafür. Nur in der Statistik taucht der Fall des 28-Jährigen nirgends auf. Gerster heißt eigentlich anders, weil er im politischen Betrieb arbeitet, will er aber lieber unerkannt bleiben. Unerkannt ist auch sein Covid-Fall, denn Gerster, darauf weisen alle Indizien hin, gehört zur Dunkelziffer der Corona-Erkrankten.

Am 31. Oktober hat Gersters Freundin plötzlich Symptome. Müdigkeit, Kopfweh, Kurzatmigkeit. Es ist ein Samstag, vorsichtshalber begeben sich die beiden in Quarantäne in ihrer Wohnung in Moabit. Am Montag lässt sich seine Freundin bei einem Hausarzt testen. Gerster bleibt vorsorglich in Quarantäne, inzwischen hat auch er leichte Symptome.

Am Dienstagabend bekommt sie schließlich die Bestätigung, ihr Test war positiv. Nicht das Gesundheitsamt Mitte meldet sich bei den beiden, sondern der Hausarzt. Wie jeden positiv Getesteten ruft er sie nach seiner Sprechstunde an, klärt sie auf, verordnet die Quarantäne für Gerster und seine Freundin. "Das muss man auch mal würdigen, das entspricht wohl der Arzt-Ethik."

Manchmal sitzen sie im Fenster, meistens schlafen sie

In den kommenden Tagen verschlechtert sich der Zustand der beiden. Essen lassen sie sich liefern, weil sie keinen Balkon haben, sitzen sie manchmal im Fenster. Meistens schlafen sie aber. "Ich habe mir keine richtigen Sorgen gemacht, aber es war schon merkwürdig", sagt Gerster. Vor allem der absolute Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn verunsichert ihn. "Gruselig" sei es gewesen.

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Auf der Seite des Gesundheitsamts füllen die beiden Formulare aus, schildern dort ihren Fall. "Ans Telefon hat man eh niemanden bekommen", sagt Gerster. Es sind die ersten Tage des zweiten Lockdowns, die Gesundheitsämter sind da längst an ihren Grenzen.

"Positive Tests sind doch der Maßstab für Maßnahmen"

Erst eine Woche nach dem Anruf des Hausarztes meldet sich ein Mitarbeiter des Gesundheitsamts Mitte. "Man sagte mir, dass es keine Kapazitäten für einen Test für mich gibt", sagt Gerster. Die Argumentation des Gesundheitsamts: Man müsse zuerst Kontaktketten nachverfolgen und brechen, statt Kontaktpersonen der ersten Kategorie mit Symptomen zu testen. Gerster bleibt ungetestet in seiner Wohnung.

Dafür hat er nur bedingt Verständnis: "Die positiven Coronatests sind der Maßstab für die Maßnahmen, die von der Politik ergriffen werden." Um vernünftige Entscheidungen zu treffen, brauche es auch eine vernünftige Zahlengrundlage.

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Noch mehr stört Gerster, dass er ohne positives Testergebnis keinen Code bekommt, um seinen Fall in die Corona-Warn-App einzutragen. "Die wurde dadurch obsolet", sagt Gerster. Seine Bekannten und Kollegen, mit denen er Kontakt hatte, informiert er selbst. Verpflichtend in Quarantäne müssen sie deshalb jedoch nicht. Und wer mit ihm im Bus stand oder wem er beim Einkaufen näher gekommen ist, hat keine Chance über die App gewarnt zu werden.

Amtsarzt spricht von "exotischen Fällen"

Für Fälle wie Gerster gibt es sogar einen Fachausdruck: Epidemiologischer Fall. Sie würden auch in den Gesundheitsämtern gezählt, berichtet der Amtsarzt aus Reinickendorf, Patrick Larscheid. "Das sind aber eher exotische Fälle", sagt er. In seinem Amt würde man im Schnitt einen epidemiologischen Fall pro Tag zählen. Diesen würde man sogar an das Robert-Koch-Institut (RKI) übermitteln, veröffentlicht werden diese aber nicht.

Die Testkapazitäten kommen immer wieder an ihre Grenzen.
Die Testkapazitäten kommen immer wieder an ihre Grenzen.

© Jane Barlow/dpa

"Aus Gründen der Vergleichbarkeit und der Belastbarkeit" würden diese bislang nicht mitgezählt, sagt eine RKI-Sprecherin auf Anfrage. Mit Verweis auf die aktuellen Testkriterien betont sie jedoch, dass die Gesundheitsämter durchaus angehalten seien, auch Kontaktpersonen der ersten Kategorie zu testen, wenn diese Symptome zeigen würden.

Denn auch das RKI ist darum bemüht, die Dunkelziffer der Covid-Fälle zu beleuchten. Noch habe man darüber keine Kenntnis, sagt die Sprecherin. Doch seit Anfang Oktober gibt es zu dem Thema eine bundesweite Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und dem RKI. Daran sollen rund 34.000 Personen teilnehmen, die einen Antikörpertest machen und einen Kurzfragebogen beantworten.

Täglich trifft das Amt auf Leute, die trotz Symptomen arbeiten

Amtsarzt Larscheid glaubt nicht, dass Fälle wie der von Gerster dabei groß ins Gewicht fallen. "Ein viel größeres Problem für die Dunkelziffer sind die Menschen, die sich nicht für die Maßnahmen und Regeln interessieren", sagt er. Sein Team treffe täglich auf solche Personen, die trotz Symptomen arbeiten gehen würden oder sich nicht an Abstands- und Hygieneregeln halten. Das liege auch daran, weil diese Menschen gar nichts von den aktuellen Regeln wüssten oder sie wegen Sprachproblemen nicht verstehen würden. Diese Personen gelte es aufzuspüren und aufzuklären, findet Larscheid.

Jonas Gerster sagt, er habe durchaus Verständnis für die überlasteten Gesundheitsämter. "Aber irgendwie auch nicht." Wenn es Möglichkeiten gebe, weitere Infektionen zu vermeiden, müssten diese auch genutzt werden. Denn auch nach dem Abschwellen der Symptome beschäftigt ihn weiter eine Frage, die ihm noch niemand beantworten kann. Was ist mit den Langzeitfolgen?

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