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Berlin: Dorothee Köhler (Geb. 1918)

Als Bernstein erschöpft in Tränen ausbricht, raunt sie: "Das macht er immer"

Sie liebt Italien, die Kleidung, das Essen, die Musik. In Mailand hat sie eine Wohnung. Italienisch spricht sie fließend.

Mitte der dreißiger Jahre machte sie in Rom ihr Abitur. Dabei war sie Berlinerin, jüngstes Kind einer großbürgerlichen, protestantischen Familie aus Dahlem. Weil die Mutter aber als „Halbjüdin“ galt, wurde ihrem Vater die Scheidung nahegelegt. Deshalb zogen sie nach Rom, wo er eine Stelle beim Völkerbund antrat.

Zuvor war Dorothee auf einem Klosterinternat und zum Katholizismus konvertiert, um den jüdischen Makel möglichst zu vertuschen. Und das nach der Konfirmationszeit bei Martin Niemöller, dem damals berühmtesten evangelischen Pfarrer Berlins, in dessen Gottesdienste die Massen strömten. Der Stationsvorsteher am Bahnhof Thielplatz rief sonntags: „Zu Niemöller hier aussteigen!“ Dem katholischen Glauben blieb Dorothee trotzdem treu, ging regelmäßig zur Messe, ein Leben lang. Mit der ökumenischen Trauerfeier in der evangelischen Dahlemer Dorfkirche sollte sich ein Kreis schließen.

Die Kriegsjahre verbringt sie in Berlin. Davon erzählt sie später wenig, allenfalls schwärmt sie vom schönen Sommer ’43 in Berlin mit langen Abenden im Tennisclub. Im April ’45, als die Rote Armee näher rückt, lebt sie in Sacrow bei Potsdam – zusammen mit zwei Männern. Einmal ist sie den ganzen Tag unterwegs, um Lebensmittel aufzutreiben, während sich die Herren im Garten sonnen. Frustriert herrscht sie sie an, sich ebenfalls um das Auskommen zu kümmern. So ziehen die beiden los – und kehren nicht zurück. Dorothee erfährt nie, was ihnen zugestoßen ist. Sie macht sich Vorwürfe, ihr Leben lang.

Fortan wird sie allein leben, sucht aber, perfekt im Umgang, stets nach Gesellschaft. Sie beherrscht drei Fremdsprachen und wird Sekretärin bei den Amerikanern in Frankfurt am Main. Für ein Studium fehlt das Geld.

Mitte der fünfziger Jahre kommt sie zur „Deutschen Grammophon“ nach Hannover. Im Chefsekretariat bleibt sie nur kurz, bald wird sie selbst zur Chefin im Marketing. Deutsche Künstler macht sie im Ausland bekannt und ausländische in Deutschland. Mit vielen Musikern freundet sie sich an: Cage, Stockhausen, Ligeti, Nono, Boulez, Pollini, Henze. Und vor allem Leonard Bernstein. Wo Dorothee Köhler auftritt, spielt die Musik.

Mitte der Siebziger wechselt sie zum Literarischen Archiv, dem Wortlabel der Firma. Zunächst als Degradierung empfunden, nutzt sie die Chance und produziert Hörbücher, für die es diese Bezeichnung noch gar nicht gibt. Viele davon kann man noch heute kaufen, darunter Hörfassungen von Peter Steins Schaubühnen-Inszenierungen.

1979 erhält sie das Angebot, die Musiksparte der Berliner Festwochen zu leiten. Inzwischen lebt sie in Hamburg. Die Rückkehr in die Stadt ihrer Geburt fällt schwer, schließlich verbindet sie Berlin mit ihrem großen Unglück. Als sie doch kommt, bringt sie ihre Freunde mit. Gleich im ersten Jahr dirigiert Bernstein die Philharmoniker, das erste und einzige Mal. Auf dem Programm steht Mahlers Neunte. Nach dem letzten Ton lässt er sich erschöpft auf den Stuhl der ersten Geigerin fallen, nimmt die Standing Ovations sitzend entgegen und bricht in Tränen aus. Dorothee raunt ihrem Nachbarn zu: „Das macht er immer.“

Nachdem sie 1986 in Rente geht, wird sie Bernsteins Europa-Repräsentantin und ist auch sonst mit ihm und seiner Familie eng verbunden. Das Buch, das sein Bruder Burton über die Bernsteins schreibt, übersetzt sie ins Deutsche.

Sie ist viel unterwegs. Verbringt sie mal einen Abend zu Hause, dann nur, weil Gäste da sind. Alle lieben ihre Kochkünste. Sind Maurizio Pollini und Pierre Boulez in Berlin, speisen sie bei Dorothee am festlich gedeckten Tisch. Glücklich beobachtet sie die Gespräche der anderen, denen sie manchmal kaum noch folgen kann, weil sie immer schlechter hört. Ins Konzert geht sie natürlich trotzdem und zu Theaterpremieren. Selbstverständlich auch zu Peter Steins Wallenstein-Inszenierung, zehn Stunden lang. Sie ist ja gerade einmal 89. Ausstellungen besucht sie, Bücher liest und sammelt sie, nicht wenige sind persönlich gewidmet, von Samuel Beckett etwa oder von Botho Strauß.

Das Instrument, das sie perfekt beherrscht, ist ihr Telefon. Enge Freunde werden mitunter sieben Mal am Tag angerufen. Das ändert sich erst, als die Demenz Dorothee Köhlers Gedächtnis verdunkelt. In ihren letzten Wochen versteht sie niemanden mehr. Und spricht selbst nur noch italienisch. Thilo Bock

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