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Berlin: Dorothea Strauß (Geb. 1923)

"Unter jedem Dach gibt es ein Ach"

Geboren in Wedding, aufgewachsen in Moabit, der Vater ist Müllmann, die Mutter streng, Geschwister gibt es keine, eine karge, trotzdem schöne Kindheit. Als Schulmädchen kommt Dorothea, die damals noch Hüller heißt, zum Bund Deutscher Mädel. Sie ist jung, naiv und freut sich über die Abwechslung. Als ihre jüdische Schulfreundin „Nazi“ zu ihr sagt, wundert sie sich.

1938 beginnt sie die Lehre als Verkäuferin in einer Bäckerei und ist glücklich. Sie himmelt den Junior an, die Bäckersleute mögen sie, eine Heirat ist nicht ausgeschlossen, doch dann beginnt der Krieg. Ihr Schwarm fällt als Soldat. Das ist der erste Schlag.

Dann kommt der Krieg nach Moabit. Im Januar 1944 legt eine Bombe ihr Wohnhaus in Schutt und Asche, Dorothea und ihre Mutter sind tagelang im Keller verschüttet, der Vater nicht. Er ist Luftschutzkellerwart und steht, noch eine Zigarette rauchend, vor der Tür, als die Bombe explodiert. Ein Fetzen Stoff, mehr bleibt nicht übrig. Dorothea hat ihren Vater vergöttert.

Die Frauen fliehen aufs Land, nach Schlesien, Dorothea findet Arbeit beim Bauern. Dessen Sohn Oskar Strauß wird ihr erster Mann, obwohl die Schwiegereltern nicht aufhören, gegen die Stadtpflanze zu hetzen. Keine Ruhe, nirgends: Im Januar 1945 fliehen Dorothea und ihre Leute vor den Russen nach Westen, erst ins Vogtland, dann nach Döbeln in Sachsen, wo sie Neubauern werden. Im Oktober wird Tochter Marianne geboren, die Freude ist groß. Fünf Jahre macht das Unglück Pause, dann wird ihre Tochter so krank, dass Dorothea sie schweren Herzens nach Berlin zur Mutter geben muss. 1952 stirbt ihr Ehemann Oskar an einer Lungenentzündung, sie schlägt sich allein als Bäuerin durch und ertrotzt sich schließlich per Gerichtsurteil eine Zuzugserlaubnis fürs heimische Berlin.

Nicht lange danach steht ein entfernter Verwandter vor ihrer Tür, der die kräftige Frau mit den klaren Zügen schon immer verehrt hat. Das ist Ernst, er bleibt, bald heiraten sie. Ihr Name bleibt derselbe, auch er heißt zufällig Strauß. Die zwei verbindet eine romantische Liebe, das sagen alle. Sohn Ralf kommt zur Welt, Ernst macht sich als Taxiunternehmer in Schöneberg selbstständig. Es geht aufwärts.

Bis zu den nächsten Schlägen. Ernst wird dreimal schlimm überfallen, erleidet einen Herzinfarkt und erkrankt schließlich unheilbar an der Lunge. Sein Wohlergehen wird ihr Lebensinhalt, 18 klaglose Jahre lang. Als er 1996 stirbt, ist Dorothea ratlos und todtraurig. Natürlich fängt sie sich wieder. Was anderes gibt’s ja gar nicht. Sie ist der Motor, sie ist die Macherin. Handwerken, Basteln, Kochen, Backen – das kann ich nicht, sagt sie nie, sondern immer, das probiere ich mal. Sie bringt sich selbst Akkordeonspielen bei, tanzt gern und ist mit ihren lustigen Gedichten auf Festen die Stimmungskanone.

In dem Neubau an der Neuköllner Schillerpromenade, wo sie 1993 mit Ernst einzog, ist sie zuletzt die einzige Deutsche. Türken, Russen, Polen, Araber – Dorothea ist bei den Nachbarn beliebt, sie hat ein offenes Ohr, für alle. Zu einer türkischen Hochzeit und zu einem Türkei-Besuch wird sie eingeladen.

„Unter jedem Dach gibt es ein Ach“, das ist über die Jahre Dorotheas Standardspruch geworden. Immer ist was. Bei ihr oder bei den anderen. Nur darf man das Unglück nicht über das Leben siegen lassen, nie. Aber Scherzgedichte helfen auch nicht immer.

Auf ihren Fotos ist genau zu sehen, wie das Leben sie zurechtgestutzt hat. Erst kann ihr keiner was, so herausfordernd sind ihre Posen, so breit ihr Lachen. Später ist ihr Blick meist ernst, ergeben.

Gestorben ist sie am 10. September in einem Krankenhaus in Tempelhof. Natürlich, als die Familie draußen war. Ihr immer um Haltung bemühter Körper liegt in der Anatomie der Charité, sie hat ihn der Wissenschaft überlassen.

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