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Dokumentation: Der Brandbrief

Dokumentation des Hilferufs aus der Rütli-Schule

Wie in der Schulleitersitzung am 21.2.06 geschildert, hat sich die Zusammensetzung unserer Schülerschaft in den letzten Jahren dahingehend verändert, dass der Anteil der Schüler mit arabischem Migrationshintergrund inzwischen am höchsten ist. Er beträgt zurzeit 34,9 Prozent, gefolgt von 26,1 Prozent mit türkischem Migrationshintergrund. Der Gesamtanteil der Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft beträgt 83,2 Prozent . (...). In unserer Schule gibt es keinen Mitarbeiter aus anderen Kulturkreisen.

Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schüler mitgebracht. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht , Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen. Werden Schüler zur Rede gestellt, schützen sie sich gegenseitig. Täter können in den wenigsten Fällen ermittelt werden. Laut Aussage eines Schülers gilt es als besondere Anerkennung im Kiez, wenn aus einer Schule möglichst viele negative Schlagzeilen in der Presse erscheinen. (...) Unsere Bemühungen, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, treffen auf starken Widerstand der Schüler. Diesen Widerstand zu überwinden, wird immer schwieriger.

In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten . Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte (...), Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen , damit sie über Funk Hilfe holen können.

Die Folge ist, dass Kollegen am Rande ihrer Kräfte sind. Entsprechend hoch ist auch der Krankenstand, der im 1. Halbjahr 2005/06 höher war als der der Schüler. Ein Zeichen der unerträglichen Belastung. Einige Kollegen stellen seit Jahren Umsetzungsanträge, denen nicht entsprochen wird, da keine Ersatzkräfte gefunden werden.

Auch von den Eltern bekamen wir bisher wenig Unterstützung in unserem Bemühen, Normen und Regeln durchzusetzen. Termine werden nicht wahrgenommen, Telefonate scheitern am mangelnden Sprachverständnis. Wir sind ratlos .

Über das Quartiersmanagement haben wir zwei Sozialarbeiter mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund beantragt, um vor allem mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Aber diese Maßnahme allein wird die Situation nicht deeskalieren. Durch Schwangerschaft, (...) Erkrankungen (...) und Pensionierung ist unsere Lehrerausstattung auf unter 100 Prozent gesunken. (...). Seit Jahren blieb die Konrektorenstelle mangels Bewerbung vakant. Seit Anfang dieses Schuljahres (2005/06) ist die Schulleiterin erkrankt und wird in den vorzeitigen Ruhestand gehen. (...)

Wenn wir uns die Entwicklung unserer Schule in den letzten Jahren ansehen, so müssen wir feststellen, dass die Hauptschule am Ende der Sackgasse angekommen ist und es keine Wendemöglichkeit mehr gibt. Welchen Sinn macht es, dass in einer Schule alle Schüler gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen (...). In den meisten Familien sind unsere Schüler die Einzigen, die morgens aufstehen. Wie sollen wir ihnen erklären, dass es trotzdem wichtig ist, in der Schule zu sein und einen Abschluss anzustreben? Die Schüler sind vor allem damit beschäftigt, sich das neueste Handy zu organisieren, ihr Outfit so zu gestalten, dass sie nicht verlacht werden, damit sie dazugehören. Schule ist für sie auch Schauplatz und Machtkampf um Anerkennung. Der Intensivtäter wird zum Vorbild. Es gibt für sie in der Schule keine positiven Vorbilder. Sie sind unter sich und lernen Jugendliche, die anders leben, gar nicht kennen. Hauptschule isoliert sie, sie fühlen sich ausgesondert und benehmen sich entsprechend.

Deshalb kann jede Hilfe für unsere Schule nur bedeuten, die aktuelle Situation erträglicher zu machen. Perspektivisch muss die Hauptschule in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden zugunsten einer neuen Schulform mit gänzlich neuer Zusammensetzung.

Kurzfristig brauchen wir eine Erhöhung der Lehrerausstattung, um Ruhe in den Schulalltag zu bringen (...). Wir müssen Zeit und Raum bekommen für die Arbeit in Kleingruppen, für Gespräche mit einzelnen Schüler und ihren Eltern (...). Wir brauchen die tägliche Präsenz einer Fachkraft, die uns bei Deeskalation und Krisenintervention hilft. (...)

2009 wird unser Schulgebäude 100 Jahre alt und wir hoffen, dass bis dahin eine Schule geschaffen werden kann, in der Schüler und Lehrer Freude am Lernen bzw. Lehren haben.

Mit freundlichen Grüßen

I.V.

P. Eggebrecht, kommissarische Schulleiterin

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