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Digitales Regieren: Besuch bei den Piraten - Demokratie im Überfluss

Wer bei den Piraten mitmachen will, muss etwas von Technik verstehen. Siggi will mitmachen, aber schon nach wenigen Minuten sagt er: „Mir reicht’s!“ Ein Abend im Berliner Club der Piraten.

Ich hatte mir noch mein Palästinensertuch umgebunden und bin nach Neukölln ins Squad Kinski gefahren. Wenn man von draußen durch die verstaubten Scheiben schaut, sieht man halbdunkle Räume, sperrmüllartige Sessel und überall Klaus Kinski an den Wänden, Kinski war ja vermutlich der wahnsinnigste und anarchistischste Schauspieler des 20. Jahrhunderts. Es ist ein Dienstag. Dienstags treffen sich hier die Piraten.

„Wo ist dein Computer?“, fragt ein Mann als Erstes, er sitzt ganz allein in einem der tiefen Sessel mit einer Flasche Bier.

„Braucht man denn hier einen Computer?“, frage ich vorsichtig zurück.

„Ich habe auch keinen“, antwortet der Mann und hebt sein Bier, als wollte er drauf anstoßen, obwohl ich noch gar keine Flasche in der Hand habe. „Letzte Woche“, erzählt er weiter, „da war ich auch hier, da hatten alle Computer, und da habe ich mir vorgenommen, dass ich der erste Pirat werde ohne Computer!“

Siegfried, „Siggi“, wie er sich vorstellt, kommt aus Hessen, ist um die 50 und trägt langes silbergraues Haar, er sieht ein bisschen aus wie Rainer Langhans aus der Kommune 1. Siggi hat die vergangenen zehn Jahre auf dem Land in Ungarn gelebt, bis ihm das Geld ausging, dann kam er nach Berlin. Und als die Piratenpartei im September bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 8, 9 Prozent der Stimmen erhielt, entschied sich Siggi, Kontakt aufzunehmen und zu den Clubabenden der Piraten zu gehen, die jeden Dienstag stattfinden. „Es muss sich etwas ändern, und ich möchte mitmachen in der Politik“, erklärt er, dann geht die Tür auf, und sieben Piraten betreten das „Kinski“.

Um mich vorzubereiten, hatte ich mir im Internet einen Piratenauftritt im Berliner Abgeordnetenhaus angesehen. Da gab es in der zweiten Plenarsitzung eine „Große Anfrage“ zu den Schultrojanern und den Schülerdatenbanken, vorgetragen von dem Abgeordneten Christopher Lauer, einem jungen Mann aus dem Hunsrück, der in Berlin an der Technischen Universität studiert. Lauer hatte einen Dreitagebart und eine Wim-Wenders-Brille auf, aber seine Rede war eher eine Mischung aus Joschka Fischer und Lady Gaga.

Einmal sagte er dem Bildungssenator Zöllner, er solle ihn nicht „anpimmeln“, dann sprach er von einer Zöllner-Aussage als „ganz großem Tennis“; dann am Ende, als er wieder von Abgeordneten unterbrochen und „angepimmelt“ wurde, kritisierte er sogar die Disziplin im Preußischen Landtag, obwohl ich mittlerweile eher damit gerechnet hatte, dass zum Abschluss die Revolution ausbricht.

Beeindruckt war ich auch von der Piratenhomepage „Wiki“ und der sogenannten Liquid Democracy, „einer digitalen Revolution ohne Blutvergießen“, wie es deren Initiatoren bei der Vorstellung ihrer Liquid-Democracy-Idee im Juni 2010 verkündeten. Die repräsentative Demokratie sei am Ende und könne jetzt von der „Flüssigen Demokratie“ ersetzt werden. „Flüssige Demokratie“ mochte ich sofort, das klingt nach Bewegung, nach Veränderung. Dann las ich auf „Wiki“ noch folgende Parteiprogrammpunkte: freier Zugang zu allen Daten im Internet, freier Zugang zum Nahverkehr, Legalisierung der Suchtmittel. Das sind zumindest konkrete Ansagen, wahrscheinlich stapeln sich in den Hinterzimmern vom Kinski die Cannabis-Produkte.

"Wie bekomme ich die, die Crewmailinglisten?", fragt eine Neupiratin.

„Möchte jemand eine Einführung?“, fragt Michael, einer der sieben Piraten aus Neukölln, die eben eingetreten sind.

„Ja“, sagt Siggi, und dann sitzen uns plötzlich fünf der Piraten frontal gegenüber, ebenfalls in den tiefen Sesseln. Michael fängt sofort an mit der piratentypischen Unterscheidung von „Squads“ und „Crews“: Eine „Crew“ sei eine sich selbst organisierende Einheit und umfasse fünf bis sieben Piraten. Wenn es mehr werden, teile sich die Crew in zwei Crews auf, wobei jedes Crewmitglied auch mehreren Squads angehören könne, es gebe Struktursquads, Themensquads, Projektsquads ...“

„Das versteht kein Mensch!“, ruft Siggi dazwischen, „Squad, Squad, Squad! Was soll denn das heißen, man kann doch auch deutsch sprechen?“

Während die anderen vier Piraten die Augen verdrehen, erklärt Michael ganz ruhig weiter, er spricht mit sanfter Stimme und sieht in seiner Bundfaltenhose und dem ordentlichen Pulli gar nicht aus wie ein Pirat, sondern eher wie ein Biologe, der über die Gattungen von Hühnervögeln doziert. Jede Crew, also Gruppe, habe einen „Ankerplatz“, wo sie sich trifft, und eine „Wiki-Seite mit Crewmailinglisten“.

„Und wie bekomme ich die, die Crewmailinglisten?“, fragt eine Frau, die dazugekommen ist. Sie sei erst seit gestern Neupiratin und hat sich nun ebenfalls zur Einführung in einen der tiefen Sessel gesetzt.

„Die beantragst du bei Techtalk!“, antwortet einer der anderen Piraten, der auf der Heizung Platz genommen hat. „Den Rest kannst du dann online den Navigator fragen.“

„Und wie funktioniert das mit Liquid Feedback?“, fragt sie weiter.

Siggi sitzt schon auf der Kante des Sessels, jetzt springt er auf: „Mir reicht’s! Jetzt reden wir mal über Griechenland! Wie lösen wir das in Griechenland?“

Ich selbst rutsche immer tiefer in den Sessel und stecke mir aus lauter Verlegenheit eine Zigarette an.

„Hier ist Rauchverbot“, sagt ein Pirat, der locker an der Wand lehnt.

Ich laufe mit der Zigarette panisch auf die Ausgangstür zu, die sich in dem Moment öffnet, und ein Mann mit Parker, Tüten und einem Flugblatt tritt über die Schwelle.

„Wir müssen gegen den Stromkonzern Vattenfall kämpfen!“, sagt er. „Ich komme aus der Lausitz! Das Kraftwerk Schwarze Pumpe verseucht unsere Böden mit CO2!

Ich drücke meine Zigarette sofort im Türrahmen aus, Siggi wiederholt seine Frage, was aus Griechenland werde, während der Crew-Michael dem CO2-Gegner aus der Lausitz erklärt, dass dies am besten etwas für einen thematischen Squad sei. Als dann auch noch ein Journalist der „New York Times“ das „Kinski“ betritt, laufe ich auf die Toilette.

Grundsätzlich interessieren mich die Piraten, ich muss mich nur wieder beruhigen und sammeln, sage ich mir. Finanzkrise, Bankenkrise, die ständige Regierungskrise, nun auch noch die Verfassungsschutzkrise, ganz abgesehen von der Verbraucherschutzkrise, der Umweltschutzkrise – wo soll das Vertrauen denn noch herkommen?

Und dann alle vier Jahre über Pakete entscheiden, bei denen man den Atomausstieg eventuell nur zusammen mit dem Mindestlohn kriegt oder eine Steuersenkung nur mit einem Außenminister Westerwelle? Grundsätzlich also verstehe ich, warum sich 130.000 Menschen in Berlin nach einer direkteren und ursprünglicheren Form der Demokratie sehnten und die Piraten wählten.

Nur wieso bekomme ich schon nach 15 Minuten im „Kinski“ diese perverse Sehnsucht nach Bürokratismus? Nach ordentlichen Gremien, in denen man Tagesordnungspunkte abzuarbeiten hat!

Ich denke, dass jetzt vielleicht Liquid Democracy helfen könnte und versuche, mich noch auf der Toilette mit dem iPhone bei der Liquid-Software „Adhocracy“ oder „Votorola“ einzuloggen, da darf ich nämlich als Nicht-Pirat rein. Ich nehme Votorola und komme auf „Welcome to our pollwiki“. Ich klicke auf Pollwiki und komme auf „de – Germany“, und es erscheint eine Seite mit „Abstimmungen“, darunter „Polizeigesetz WEG“. Ich klicke auf „De/p/PE“, weil man „Polizeigesetz WEG“ nicht anklicken kann und dann erscheint „This poll has no positions“. Ich klicke mich wieder zurück und dann unter „Polizeigesetz WEG“ auf „Lehrmittel veröffentlichen“: Nur ein einziger Eintrag von User „Consensus89-ymail.com“. Danach versuche ich es über „Adhocracy“ und lande bei den „Piraten Trier/Trier-Saarburg“ und dem „Kommunalwahlprogramm“.

Was soll ich denn jetzt in Trier/Trier-Saarburg?

Irgendwann klicke ich auf „IRC“, dem Webchat der Piraten auf „freenode.net“, doch ich komme nicht rein, ich soll bei „AG Chat“ für meinen „Cloak“ eine „Piraten-Hostmark“ besorgen ... Offen gestanden habe ich mir die neue Staatsform etwas einfacher vorgestellt.

Auf der Toilettentür steht noch ein anderer Link: www.psychiatrie-erfahrene.de, und ich denke, das muss ich jetzt nicht anklicken.

Von Wünschies und Machies bei den Piraten

In der Bar hat sich die Crew oder der Squad zersplittert. Die Neupiratin unterhält sich mit dem Piraten, der ihr bei den Mailinglisten weitergeholfen hatte. Der Mann gegen den CO2-Ausstoß in der Lausitz ist weg. Der „New York Times“-Journalist interviewt den Barkeeper. Nur Siggi sitzt ganz allein auf einem Hocker, während Michael im Sessel geduldig mit seiner Einführung fortfährt. „Es gibt in unserer Partei Wünschies und Machies“, erklärte er, „die einen, die immer nur sagen, was passieren soll, und die anderen, die versuchen, es umzusetzen.“

Das klingt ja wie bei den Grünen, denke ich. Die Grünen zogen ins Parlament und strickten und stillten, die Piraten ziehen ins Parlament und hacken und tippen, aber bei beiden gab es ganz schnell Wünschies und Machies. Nur wer setzt sich durch? Und was macht man mit den ganzen Wünschen der Menschen, die sie wählten? Ja, wie soll überhaupt eine junge Partei damit fertig werden, ein politisches Vakuum zu füllen, in das nun alle, die etwas anderes wollen, ihre Sehnsüchte projizieren?

Als ich im November auf der Berliner Occupy-Demonstration war, geriet ich in einen Streit zwischen einem Occupy-Aktivisten und einem Gewerkschafter von Verdi. Der Occupy-Aktivist beschimpfte den Verdi-Mann, er solle verschwinden, dies sei ihre Bewegung, nicht die von Verdi oder der Linken. Der Verdi-Mann war ganz aufgebracht und sagte, er würde doch auch für Gerechtigkeit kämpfen, zum Beispiel für den Kündigungsschutz. Die Diskussion endete unversöhnlich.

Wem gehört die Bewegung? Muss sich die Occupy-Bewegung rein halten, um sie selbst zu bleiben, genau so wie es die Piraten vielleicht müssen, um Piraten zu bleiben? Wenn die neue Demokratisierung tatsächlich eine radikale Nutzung und vor allem Beherrschung des Internets erfordert – dann können wohl nicht alle mitgenommen werden? Das hieße: Die Piraten wären auch eine Ausgrenzungspartei, die sogar jetzt viele der Neupiraten ausgrenzt, weil diese technisch gar nicht in der Lage sind, in die Mailinglisten zu kommen beziehungsweise nicht wissen, welche überhaupt die richtige ist. Angeblich beteiligen sich nur zehn Prozent der Berliner Piraten an Liquid Feedback.

Es kann aber auch sein, dass die Piraten einfach Geduld haben müssen, bis wir eine Gesellschaft aus politisierten Software-Entwicklern oder revolutionären Systemadministratoren und Informationstechnikern geworden sind, immerhin werden diese Berufsstände nun durch die halbe Piratenfraktion im Preußischen Landtag repräsentiert.

Trotzdem sitzt diese Fraktion ja immer noch in einem analogen Parlament, in das sie zwar auch ihren Rechner mitbringt, in dem sie aber noch hauptsächlich sprechen muss.

Darum habe ich mir nach dem Abend im „Kinski“ noch einmal die Rede von Christopher Lauer auf Youtube angesehen. Einerseits war Lauers Rede holprig, dilettantisch, unverständlich. Er nuschelte manchmal wie ein Nerd etwas von irgendwelchen „jay-pack-solutions“ und „Digitalisaten“. Andererseits tastete er sich schon heran an den rhetorischen, selbstgerecht austeilenden, medial wirksamen und vor allem: wiedererkennbaren Politiker-Gestus, wobei er auch wie einst Gerhard Schröder die Ränder seines Manuskripts streichelte.

Eigentlich war in dieser Rede schon alles enthalten, was die Zukunft den Piraten an Fragen bringen wird: Bleiben sie sich treu in ihrer digitalisierten, post-charismatischen Welt und hoffen, dass sich all die kommenden Wähler immer mehr als digitale Spezialisten erweisen werden?

Oder nutzen nun einige die geschenkte Macht, um nun genau das zu tun, was schon andere taten – Karriere machen? Und dabei vielleicht ein bisschen die Welt verändern.

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