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Berlin: Dietrich Schirmer (Geb. 1931)

Unter welchen Bedingungen wurde die Bibel verfasst? Unter welchen Bedingungen wird sie heute gelesen?

Alkohol kommt mir hier nicht rein! Und auch kein Messer, oder was ihr sonst so mit euch rumtragt. Aber eure Namen möchte ich wissen.“

Die Mädchen und Jungs vor der Martin-Luther-Kirche in Lichterfelde-West stellten sich eine nach dem anderen vor und traten mit einer erstaunlichen Schüchternheit in den Gemeindesaal. Sie hatten es satt, an Tischtennisplatten oder Bushaltestellen zu stehen, sie wollten wie die bürgerliche Lichterfelde-Jugend Musik machen, tanzen, trainieren. Hier bekamen sie einen Raum dafür, Dietrich Schirmer, der Pfarrer, öffnete die Türen. „Oh Gott“, stöhnte der Gemeindekirchenrat und tat alles, um die jungen Leute wieder loszuwerden. Und Dietrich schlug das Neue Testament auf, das Lukasevangelium, das ihm das nächste war und über das er später zwei Bücher schrieb: „Da riefen ihm einige Pharisäer aus der Menge zu: Meister, bring deine Jünger zum Schweigen! Er erwiderte: Ich sage euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien.“

Warum dieses Evangelium? Weil es darin wesentlich um Gerechtigkeit geht. Weil es Dietrich wesentlich um Gerechtigkeit ging. Um die Ethik des Teilens. Und das alles nicht nur so dahingesagt und diskutiert. Seine Frage „Wie gehen wir konkret vor?“ war eine Aufforderung. Wir haben die Bibel unter materialistischen Gesichtspunkten zu lesen, forderte er: Unter welchen Bedingungen wurde sie verfasst? Unter welchen Bedingungen wird sie heute gelesen? Wovon haben die Apostel eigentlich gelebt? Wenn es der Kirche so gut geht, warum wird dann an Mitarbeiterstellen gespart? Warum gibt es keine landesweiten Tarifverträge? Warum wird Geld bei Banken angelegt, die sich an der Finanzierung von Kriegen beteiligen?

Die Kirchenleitung zeigte sich alles andere als begeistert. Doch Dietrich kannte seinen Lukas: „Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch.“ Gerechtigkeit beginnt nicht erst im Jenseits.

Sondern hier und jetzt: bei der Unterstützung selbstverwalteter Dörfer in Tansania zum Beispiel, was er sich vor Ort anschaute. Bei der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften. Bei der Friedenserziehung in den Schulen und der Aussöhnung mit der Sowjetunion.

Der Nato-Doppelbeschluss – skandalös. Keine Frage, er musste 1983 zur Demonstration nach Bonn, und seine drei Kinder kamen mit. Zu Hause brachten die Kinder andere Kinder mit. Eva, Dietrichs Frau, erzählt: „Ich kam eines Nachmittags ins Wohnzimmer, und einer der Jugendlichen fragte freundlich: Na, willste ’n Kaffee?“

Dietrich selbst war nicht so unbekümmert aufgewachsen, was weniger an seinen Eltern als an der Zeit lag. Der Vater wurde erst von der Gestapo wegen verdächtiger verlegerischer Tätigkeit verhaftet und kam 1939 an die Front. 1944 evakuierte man Dietrich und seinen Zwillingsbruder, dann starb der Bruder an Typhus.

Die Sinnsuche im Glauben, in der Bibel mündete in ein Theologiestudium, auch in Basel bei Karl Barth, dem „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“ und bei Karl Jaspers. Sie führte ihn als Lehrer nach Damaskus und nach Israel, von wo er Jordanwasser für die Taufe seines ersten Kindes mitbrachte, sie ließ ihn ein zweites Mal studieren, Sozialpädagogik inmitten des 68er-Aufruhrs; sie führte ihn letztlich an die Evangelische Akademie. Man wollte ihn dort, weil er politisch links, aber unabhängig war, denn der Schmalspursozialismus, den man bisher im Haus gepflegt hatte, war in allzu dogmatische Bahnen geraten. Dietrich lehnte sich auf gegen die Engköpfigen, und er bekam Probleme. Es zermürbte ihn, zumal er, der Einzelkämpfer, von Kompromissen nicht viel hielt.

Schon mit 60 ließ er sich pensionieren, genoss endlich die Ruhe im niedersächsischen Garten, gegen dessen Kauf er einst gewesen war: Solch ein Privatbesitz erschien ihm „ein bisschen zu kapitalistisch“. Er verbrachte Zeit mit seinen Enkelkindern. Er lud Freunde ein. Und schrieb seinen großen Lukas-Kommentar. „Er sagte: Wem ist das Reich Gottes ähnlich, womit soll ich es vergleichen? Es ist wie ein Senfkorn, das ein Mann in seinem Garten in die Erde steckte; es wuchs und wurde zu einem Baum, und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen.“

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