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Berlin: Dieter Berndt (Geb. 1938)

Wehe dem, der blöde fragte: „Müll kann man studieren?“

Halt sie fest, sonst ist sie weg,“ sagte die Mutter und meinte damit seine drei Jahre jüngere Schwester. So wurde Dieter, sechs Jahre alt, zum Beschützer eines noch jüngeren Lebens, einfach, weil sonst niemand da war. Der Vater war bei einem Luftangriff ums Leben gekommen, die Mutter und die Großmutter wurden zu Gleisarbeiten eingesetzt. Also schleppte er die Kleine mit auf die Suche nach Essen und Unterkünften, rückte auf der Flucht von Stettin nach Hamburg nicht von ihrer Seite, rettete ihr Leben durch den Krieg und aus einem Eisloch in einem See.

„Halt sie fest, sonst ist sie weg“, der Satz klang ihm sein Leben lang nach. Festhalten, schützen, diesen Auftrag machte er sich zum Beruf. Dieter Berndt wurde Verpacker, um nicht zu sagen: der ungekrönte Verpackungspapst. Fachleute haben ihn einmal so genannt.

Dass sich sein innerstes Sein nirgendwo so entfalten konnte wie in der Frage der Verpackung, entdeckte er bei der Firma Beiersdorf. Eine sanft duftende, reinweiße Creme, hochsensibel, da ohne Konservierungsstoffe, weckte all seine Beschützerinstinkte. Nivea brauchte ein neues Verpackungsverfahren, das ihrer Empfindlichkeit entsprach und gleichzeitig die Betriebsausgaben schonte.

Dieter Berndt, inzwischen gelernter Schlosser und Ingenieur, stellte sein Zeichenbrett in die Produktionshalle. Er brauchte den direkten Kontakt, eine Beziehung, sowohl zum Produkt als auch zu den Maschinen, sonst fiel ihm nichts ein. Den Duft der Creme in der Nase konzipierte er die erste „geschlossene Hochleistungsverpackungsmaschine“. Der Hersteller jubelte. Und wollte ihn binden.

Doch Dieter Berndt zog es in die Welt. Ein reicher Hamburger hatte in Ghana die gesamte Kaffee- und Kakaoernte aufgekauft und brauchte jetzt vor Ort Werke, in denen die Bohnen geröstet, gemahlen und verpackt wurden. Dieter Berndt, noch keine 30, wurde zum Bohnen-Boss ernannt.

Er kam mit rauen Geschichten zurück, und auch das passte zu ihm, denn ein Beschützer darf selbst nicht zart besaitet sein. In grauen Büros erzählte er vom gehäuteten, unzerteilten Affen, der im Topf des Häuptlings schmorte und aussah wie ein gekochtes Baby.

Am Topf jenes Häuptlings mag der deutsche Herr Berndt einmal mehr grundsätzliche Überlegungen zur Verpackung angestellt haben: Er hatte beobachtet, dass 25 Prozent der wichtigsten Lebensmittel in Ghana verkamen, weil sie nicht richtig verpackt waren. Verpackung ist Lagerung, und Lagerung ist Leben. Das hatte er im Krieg gelernt, wo er Lebensmitteldepots der Deutschen aufgestöbert hatte, ohne die er und seine Schwester vielleicht verhungert wären.

Die Zeit in Ghana endete abrupt. Das Militär putschte, seine Frau war schwanger mit dem ersten Kind, sie zogen nach Berlin.

Hier lernte Dieter Berndt Dieter Gelbrich kennen, der zur Gärung von Sauerkraut geforscht und soeben an der Technischen Hochschule den Studiengang „Lebensmitteltechnologie“ gegründet hatte. Der Professor suchte jemanden, der Unterrichtseinheiten zur Verpackungstechnik ausarbeiten und lehren würde.

So wurde Dieter Berndt Professor, und im Land tauchte ein gänzlich neuer Studiengang auf: „Verpackungstechnik“. Der Verpackungspapst hatte die Verpackungslehre in den wissenschaftlichen Adel gehoben, und wehe dem, der blöde fragte: „Müll kann man studieren?“

Den schickte er nach Heidelberg, wo er selbst das „Deutsche Verpackungsmuseum“ gegründet hatte.

In seinen Händen lief alles zusammen: Wissenschaft, Praxis – und die Schäfchen, die zur Zukunft erzogen werden wollten, eine Aufgabe, der er väterlich wachsam, aber wenig zimperlich nachkam. Den Verzagten schubste er ins Abenteuer: „Nach Frankreich zu Danone? Ich kann doch gar kein Französisch!“ – „Deshalb ja!“ Den Selbstüberschätzer wies er an, sich an kleineren Aufgaben zu beweisen. Ruhig war er erst, wenn er jeden gut untergebracht wusste. Nebenher beriet er Umweltminister und schuf ein Verpackungsinstitut, die Verpackung der Verpackung: Verpacker aller Sparten, vereinigt euch!

Mit dem Schraubenschlüssel in der einen und dem Zeichenstift in der anderen Hand arbeitete er weiterhin für die Industrie und tüftelte an seinem Lieblingsthema herum: Verpackung, die Inhalt ist.

Sein Glanzstück war ein Rohstoffsack für die Reifenherstellung, der selber Rohstoff ist und ungeöffnet dem Herstellungsprozess zugegeben werden kann.

Keine Frage, dass seine Frau und seine drei Kinder ein in Sicherheit und Wohlstand gehülltes Leben hatten.

Fertig war er noch lange nicht, weder mit den Verpackungsfragen noch mit seinen Enkeln, die er gerne weiter in ihre Zukunft begleitet hätte. Aber wenn er schon sterben sollte, dann bitte so, wie Reinhard Mey es vorschwebte: „Wie ein Baum, den man fällt, / Eine Ähre im Feld, / Möcht’ ich im Stehen sterben.“ Dieses Lied war in den letzten Wochen der Soundtrack seiner Autofahrten, wenn er immer noch von einem Termin zum anderen flitzte.

Es ist ihm beinahe gelungen, erst wenige Tage vor seinem Tod zwang der Krebs ihn nieder.

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