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Auf dem Dach des Goerzwerks in Lichterfelde kultiviert Andreas Frädrich seit einem Jahr Pflanzen, die sonst an der Küste wachsen.

© Thilo Rückeis

Die Waterkant von Lichterfelde: Urban Gardening in Berlin – mit Meeresdachgarten

Andreas Frädrichs Firma Naturopolis experimentiert mit Küstenpflanzen, die viel Sonne und Wind vertragen – und damit gut geeignet sind für Dächer in Berlin.

Auf 62 Metern über dem Meeresspiegel steht Andreas Frädrich mitten in seinem Meeresdachgarten. Unter einer Kappe in Flecktarn lässt er den Blick übers Grün des anliegenden Parks schweifen, im Süden beginnt Brandenburg. Auf dem Dach des Goerzwerks in Lichterfelde ist es ziemlich karg.

Der gebürtige Berliner Frädrich ist Landschaftsgärtner, 51 Jahre, und betreibt mehrere Urban-Gardening-Projekte. Er vermietet zum Beispiel Büropflanzen oder eingetopfte Weihnachtsbäume. Und hier auf dem Hochhausdach? „Hier ahme ich die Meereslandschaft nach: Freie Lage. Viel Wind. Und Knallsonne.“

Es gibt Kräuter, Gemüse und Kartoffeln. Jedenfalls im Sommer

Naturopolis heißt Frädrichs Unternehmen: Er pflanzt salzresistente Kräuter und Gemüsesorten aus Küstenregionen an, außerdem eine salztolerante Kartoffelsorte. Gegossen wird mit Süßwasser, nur ab und an verstreut Frädrich eine Hand Meersalz. Die Pflanzen ließen sich ressourcenschonend anbauen, sagt er, und kämen gleichzeitig besonders gut mit widrigen Wetterverhältnissen zurecht: Sie trotzten den Gezeiten, dem salzigen Wasser, dem Sturm, der prallen Sonne ohne ein Fleckchen Schatten.

Normalerweise wachsen diese Pflanzen auf dem Streifen Land zwischen Wasserkante und Deich. Frädrich hat sie nach Berlin geholt. Und mit Bedacht gewählt: „Nur die Sorten, die sich geschmacklich als besonders delikat herausstellen.“ Das Projekt läuft seit Februar 2019. „Da ist viel Gehirnschmalz über den Jordan gegangen. Aber jetzt sehe ich: Es ist ein sensationeller Erfolg.“

Über das flache Dach ziehen sich Bahnen niedriger Erdwälle. Zwischen kniehohen Sträuchern liegen Schalen von Schwertmuscheln auf der sandigen Erde herum, ein Stück weiter ist etwas Bräunliches, Glibberiges zu erkennen: Seetang. Frädrich düngt seinen Meeresdachgarten mit einem Abfallprodukt direkt vom Meer. Weil Badegäste an der Ostsee angeschwemmte Algen nicht sonderlich mögen, säubert die Strandreinigung regelmäßig die Sandstreifen am Meer. Abgeräumt wird Treibsel, ein Gemisch aus Sand, Algen, Muschelresten, Treibholz, Müll. Das „Plastikgelumpe“, wie Frädrich es nennt, wird aussortiert, dann verteilt er den organischen Treibselsand auf seinem rund 1000 Quadratmeter großen Dachgarten. „Das ist der perfekte Dünger. Nichts ist künstlich und der Effekt ist phänomenal.“

Die Strandaster schmecke exzellent, findet Andreas Frädrich

Was man jetzt, im Januar, nicht sehen kann: Im Sommer gedeihen auf diesem Dach Mönchsbart, Meerfenchel, Löffelkraut, Austernpflanzen, Meereskohl, Salzmelden und Strandaster, „von der bin ich schwer begeistert. Die schmeckt absolut exzellent.“ Auch mehrere hundert Kilo Kartoffeln habe er 2019 ernten können, sagt Frädrich. Doch die neue Saison beginne erst im April.

Die Strandbanane, auch "Karkalla" genannt, ist ein Gemüse, das sonst im Süden Australiens wächst.
Die Strandbanane, auch "Karkalla" genannt, ist ein Gemüse, das sonst im Süden Australiens wächst.

© Thilo Rückeis

Weil Frädrich allerdings auf der Grünen Woche ausstellt, zieht er in einem Innenraum des Goerzwerks eine Auswahl an Kräutern heran. Öffnet man die Tür, schlägt einem schwül-warme Luft entgegen. Es riecht wie im Tropenhaus im Zoo. „Ist immer mollig hier“, sagt er. In diesem Zimmerdschungel, zwischen mannshohen Bananenpflanzen und Gummibäumen, sprießen in kompostierbaren Töpfen die schlanken Triebe des Quellers, der auch Salicorne genannt wird, und die dickeren, fleischigen Blätter der Strand- oder Meeresbanane. „Eine seltene Delikatesse“, bewirbt Frädrich das Gewächs, „roh oder gedünstet.“

Schmeckt es denn? Die Blätter sind knackig und saftig, sie schmecken grün und frisch wie Gurke, und sie sind ziemlich salzig. Die Strandbanane zählt wie die anderen Pflanzen, die Frädrich in seinem Meeresgarten anbaut, zu den Halophyten. Diese Pflanzengruppe nutzt verschiedene Tricks, um mit Salz im Boden oder im Wasser zurechtzukommen. Manche Arten können Salz in ihren Zellen speichern, andere scheiden es über Drüsen wieder aus.

Wie kommt man auf die Idee, Salzkräuter auf einem Berliner Hochhausdach anzupflanzen? Zwei Voraussetzungen bringt Frädrich dafür mit: „Kräuter haben mich schon immer interessiert.“ Und: „Ich bin ein bisschen open minded.“ Er findet: In der deutschen Küche seien Salzwiesenkräuter und Küstengemüse unbekannt und unterrepräsentiert, anders als etwa in Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden.

Urban-Gardener: Andreas Frädrich ist gelernter Landschaftsgärtner.
Urban-Gardener: Andreas Frädrich ist gelernter Landschaftsgärtner.

© Thilo Rückeis

Dabei sei ihr Genuss eine kulinarische Bereicherung, besonders für die vegane Küche. Und Frädrich sieht für sich selbst einen Standortvorteil: In freier Wildbahn könnten die Salzwiesenpflanzen häufig nicht angebaut werden, weil viele Küstenregionen als Naturschutzgebiet ausgewiesen seien. In einigen Meeresanrainerstaaten würden zwar bereits salztolerante Küstenpflanzen kultiviert, teils sogar mit EU-Förderung, „aber die sind am Arsch der Welt. Ich finde es für die Vermarktung viel wichtiger, nah am Verbraucher zu sein.“ In Berlin sei die Gastronomie breit aufgestellt und die Kundschaft aufgeschlossen – und Frädrichs Ware sei „maximal frisch“. „Das ist meinem Verständnis nach nachhaltig: absolut lokal, ohne lange Transportwege, farm-to-table“, erklärt er.

„Ich will dem Klimawandel etwas entgegensetzen“

Doch das ideelle Konzept hinter Frädrichs Projekt geht noch weiter. Der Gärtner sieht in den Pflanzen seines Meeresdachgartens die Antwort auf ein Problem der herkömmlichen Intensivlandwirtschaft: die Versalzung von Böden durch künstliche Bewässerung. Wie passiert das? Durch eine stetige Bewässerung, ohne entsprechende Entwässerung, werden Salze aus dem Boden gelöst und an die Oberfläche geschwemmt. Das Wasser verdunstet, das Salz bleibt. In vielen Regionen sei dieses Problem akut: auf Obst- und Gemüseplantagen in Israel, Ägypten oder Spanien, auf Avocadofarmen in Kalifornien. „Irgendwann sind das alles nur noch Brachen“ – unbrauchbar, außer für salzresistente Pflanzen.

Und sogar für Probleme der Zukunft scheint Frädrich die Lösung schon bereitzuhalten: Der Klimawandel werde die Natur verändern. Immer häufiger würden Sturmfluten über die Küsten hereinbrechen. Der Meeresspiegel werde steigen, neue Landstreifen überfluten und längerfristig zu Küstengebieten machen. Und dann komme die Zeit des Meeresgemüses. „Ich will dem Klimawandel etwas entgegensetzen, etwas Gutes daraus ziehen, im wahrsten Sinne des Wortes.“

Auf der Grünen Woche will Frädrich erst einmal neue Kunden gewinnen. Er verkauft Strandbanane und Queller im Topf, ab 4,50 Euro, Salzwiesenkräuter für zuhause. Und er ist sich sicher: Wer einmal auf den Geschmack kommt, kommt nicht mehr weg. „Es ist das Salzige. Das hat einen Suchtfaktor.“

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