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Jubelnde Menschen stehen am 9. November 1989 auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor.

© dpa

„Die verblüffendste exakte Prophezeiung“: US-Journalist sagte Mauerfall schon 1979 voraus

Zehn Jahre vor dem eigentlichen Ereignis beschrieb der US-Journalist James O’Donnell sehr genau den Fall der Berliner Mauer – fast als wäre er dabei gewesen.

Prophezeiungen sind eine heikle Sache, allzu leicht vertut man sich und steht dann dumm da. Manchmal aber...

„Berlin wird leben und die Mauer wird fallen“ – ein berühmter Satz Willy Brandts, Höhepunkt seiner Rede vor dem Rathaus Schöneberg am 10. November 1989. Keineswegs war es ein Ausblick auf den wenig später einsetzenden Abbruch der Mauer, den vorauszusagen nach den Geschehnissen des Vorabends keine Kunst mehr war. Vielmehr hatte Brandt, wie er versicherte, seinen Blick in die deutsche Zukunft bereits „in diesem Sommer zu Papier gebracht – man kann es nachlesen, wenn man will –, ohne dass ich genau wusste, was im Herbst passieren würde“. Eine Art Prophezeiung also, ein Zeitstrahl vorwärts über eine Spanne von etwa einem halben Jahr. Immerhin.

Anfang desselben Jahres hatte ein Politiker von der anderen Mauerseite sich ebenfalls als Wahrsager versucht und war krachend gescheitert: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden.“ Es sprach der Genosse Generalsekretär des SED-Zentralkomitees, Erich Honecker, am 19. Januar 1989.

In einem alten "Reader's Digest"-Heft fand sich der Blick in die Zukunft

Solche politisch motivierten Spekulationen über die Standfestigkeit der Mauer hat es immer mal wieder gegeben, exakt waren sie eigentlich nie, muss man sich eingestehen – bis nun die Kopie einer Seite aus einem längst vergilbten Magazin in die Redaktion flatterte.

Hannelore Einsporn, Tagesspiegel-Leserin seit dem Jahr des Mauerbaus, hatte bei sich zu Hause mal gründlich auf- und ausgeräumt, auch die alten Exemplare des Magazins „Das Beste aus Reader’s Digest“. Beim Durchblättern war sie an einem Artikel hängengeblieben, überschrieben „Die Geisterzüge von Berlin“, der in einem prophetischen Absatz endete: „Neulich träumte ich vom Ende der Berliner Mauer. Es war im Jahr 1989. Überall erschienen Ost- und Westberliner in hellen Scharen und rissen sie nieder. Schüler bepflanzten die ganzen 165 Kilometer mit Linden und Eichen. Pfiffige Händler schlängelten sich durch die fröhliche Menge und verkauften Steine zum Andenken. Wie gelangten so viele Menschen so schnell an die Mauer? Mit der S-Bahn, versteht sich.“

Das mit den Linden und Eichen ist es zwar nichts geworden, ansonsten liest sich der Absatz, als sei der Autor dabei gewesen. War er aber nicht, noch nicht, als er diese Zeilen schrieb, denn die, so glaubte sich deren Entdeckerin zu erinnern, stammten aus einem Heft Ende der siebziger Jahre. Genaugenommen aus der Ausgabe vom Januar 1979, ein Jahrzehnt vor Honeckers allzu optimistischer Aussage über die Lebensdauer der Mauer und vor allem ein Jahrzehnt vor deren Fall.

Bei „Reader’s Digest“ in Stuttgart war es auf Anfrage ein Leichtes, Veröffentlichungstermin und Autor herauszufinden und den kompletten Text dem Tagesspiegel zuzusenden: eine Art historisch-kritische Liebeserklärung an die Berliner S-Bahn, geschrieben vom US-Journalisten James O’Donnell, die in Martin-Luther-King-Manier – „I have a dream“ – im Traum vom Mauerfall endete.

Für eine Packung Camel ein Besuch im "Führerbunker"

O’Donnell (1917 – 1990) war ein ausgewiesener Berlin-Kenner, geboren in Baltimore und schon früh mit der Kennedy-Familie befreundet. Ziemlich eng sogar, wenn man der von ihm gern erzählten Anekdote glaubt, wonach er, der spätere Präsident und drei weitere etwa zehnjährige Jungen einmal wegen Nacktbadens festgenommen worden seien. Jedenfalls konnte man dies im Nachruf der Agentur UPI auf O’Donnell lesen.

Der spätere Berlin-Kenner hatte in Harvard studiert, danach als Journalist für Magazine gearbeitet und im Krieg bei der Nachrichtentruppe der U.S. Army gedient. Anfang Juli 1945 kam er als Leiter des Deutschland-Büros der „Newsweek“ nach Berlin, war wohl der erste Reporter, der Zugang zum „Führerbunker“ erhielt, was ihn nur eine Schachtel Camel bei dem dort Wache schiebenden Rotarmisten kostete.

Die letzten Tage Hitlers, den er 1939 während eines Berlin-Aufenthalts getroffen haben will, beschäftigten ihn auch in den folgenden Jahren, er wertete Dokumente aus, die er im Bunker gefunden hatte, interviewte Zeitzeugen, die die letzten Tage der NS-Herrschaft dort verbracht hatten, und veröffentlichte 1975 sein Buch „The Bunker“. Auf dessen Grundlage entstand 1981 der französisch-amerikanische Film „Der Führerbunker“, mit Anthony Hopkins als Hitler.

Auch über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und die Luftbrücke berichtete O’Donnell für „Newsweek“, wurde hier heimisch, dem Fernsehpublikum bekannt durch Einladungen in Werner Höfers sonntäglichen WDR-Journalistenstammtisch „Der Internationale Frühschoppen“ – und den Tagesspiegel-Lesern 1947 durch eine Hymne auf den New Yorker Central Park.

Später arbeitete er als freier Journalist für amerikanische und deutsche Magazine, schrieb auch für „Reader’s Digest“ über Berlins S-Bahn und seinen Traum vom Mauerfall. Das brachte ihm später das Lob des britischen Historikers Niall Ferguson ein, „the most uncannily accurate prophecy“, „die verblüffendste exakte Prophezeiung“ des Mauerfalls, geliefert zu haben. Mehr als zehn Jahre vorher!

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