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Florian und Jennifer singen unter anderem auf den Stufen vom Deutschen Dom auf dem Gendarmenmarkt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Straße als Konzertsaal: Warum zwei Berliner Opernsänger in der Pandemie Straßenmusik machen

Keine Auftritte, erschwerte Proben: Zwei freiberufliche Opernsänger haben in Berlin-Mitte ihren eigenen Weg gefunden, live vor Publikum aufzutreten.

Ein windiger Abend, es ist kalt. Trotzdem bleiben immer mehr Passant:innen vor dem Eingang des Deutschen Doms am Gendarmenmarkt stehen. Unter den Säulen singen ein Mann und eine Frau Arien, die Orchesterbegleitung kommt aus einer Musikbox. Ihre Stimmen werden durch die Akustik des Eingangs so verstärkt, dass sie trotz des beständigen Rauschens vorbeifahrender Autos über den ganzen Platz zu hören sind.

Die Sängerin im Abendkleid schüttelt bedrohlich eine Flasche: „Muss jeder mit mir durstig sein, sonst werde grob ich sehr“, singt sie als pöbelnder Graf Orlofsky aus der Operette „Die Fledermaus“. Im nächsten Moment verwandelt sie sich in eine zärtlich gurrende Carmen, ihr Partner fällt mit ein und setzt ihr nach – ein Liebesdrama spielt sich auf den Stufen der improvisierten Bühne ab.

Nach wenigen Minuten sind sie von rund dreißig Zuschauern umkreist. Trotz frierender Hände klatschen die Menschen nach jeder Arie, jemand ruft „Bravo“ und wirft ein paar Münzen in den Hut vor den Stufen. Daneben steht ein Schild mit dem Link zum Instagram-Kanal der beiden Künstler:innen: „@oper.amore“.

Die studierten Opernsänger:innen Florian und Jennifer hatten für diesen Samstag ursprünglich ganz andere Termine in ihrem Kalender: Er – Bariton – wäre auf einem Festival für Barockmusik in der Schweiz gewesen, sie – Mezzosopran – bei einem Konzert in Konstanz aufgetreten. Vor der Pandemie war es für beide undenkbar, auf der Straße zu singen. Ihre vollen Namen wollen sie nicht öffentlich nennen – in der Branche geht es auch um Perfektion. „Wenn uns Auftraggeber im Internet suchen und die Handyaufnahmen mit der schlechten Soundqualität und lauten Umgebung hören, würden sie sich eventuell nicht für uns entscheiden“, erklären sie.

Dabei wollen sie einfach nur in ihrem Beruf arbeiten. Seit mehr als einem Jahr sind Bühnenauftritte quasi nicht möglich. Neben dem Konzertbereich waren beide Sänger:innen auch in der Kirchenmusik tätig. „Gerade die Passionszeit vor Ostern wird von vielen Konzerten begleitet. Nun fällt sie zum zweiten Mal aus“, sagt Jennifer.

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Ständig machen sie sich Sorgen, ob sie noch Teil der Gesellschaft sind, wenn die Kunst scheinbar nicht mehr gebraucht wird. „Plötzlich bricht ein Großteil von einem selbst weg. Man fühlt sich gerade wie amputiert“, stellt Jennifer fest. „Unser Beruf ist nicht nur Geld, er ist ein Teil unserer Identität, er gibt uns Kraft zum Leben“, sagt Florian. „Von April bis Juli haben wir sehr gelitten.“

Dann haben die beiden professionellen Opernsänger:innen ihr Straßenmusik-Projekt OperAmore gestartet. Der Alltag vieler selbständiger Künstler:innen ist aber auch ohne Corona oft mit viel Unsicherheit verbunden: Florian und Jennifer haben sich vor mehr als zehn Jahren bewusst dafür entschieden und eine gewisse Widerstandskraft entwickelt. Aber sie haben nie damit gerechnet, mehr als ein Jahr lang nicht arbeiten zu dürfen.

Mit ihrem Straßenmusik-Projekt oper.amore wollen Florian und Jennifer endlich wieder vor echtem Publikum singen.
Mit ihrem Straßenmusik-Projekt oper.amore wollen Florian und Jennifer endlich wieder vor echtem Publikum singen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Nachbarin rief wegen der Gesangsübungen die Polizei

In einer kleinen Kreuzberger Altbauwohnung blättert Jennifer in ihrem Kalender aus dem Jahr 2020. Von April bis August hat sie im Supermarkt Kisten getragen und Regale aufgefüllt. Erst hat sie sich über die finanzielle Sicherheit im neuen Job gefreut, doch dann fehlte ihr die Kraft für die Musik. „Mein Rücken war zu verspannt und ich war zu erschöpft, um zu üben.“ Florian ergänzt: „Singen ist wie Leistungssport, man muss immer den Muskelapparat weiter trainieren und darf nicht aussetzen.“

Proben ist für die beiden auch aus anderen Gründen schwierig: Zwei Stunden dürfen Musikschaffende an Werktagen zu Hause üben, doch Jennifers Nachbarin, so sagt sie, ist vehement dagegen. Schon vor dem Lockdown scheiterten Versuche, einen Kompromiss zu finden. „Sie hat mir das Leben wirklich schwer gemacht: Sturmgeklingelt und die Polizei gerufen“, sagt Jennifer.

Die Sängerin musste einen Raum anmieten, in dem sie ihre Stimme weiter trainieren kann. Die Abwechslung zur Wohnung findet sie gut, aber in der Pandemie müsste sie die zusätzlichen Kosten eigentlich sparen. Florian ist über die Situation entsetzt: „Die Gesellschaft möchte Musik in vielerlei Form hören, aber keine Musiker als Nachbarn haben. Das ist absurd.“

Auch auf der Straße lief es nicht immer reibungslos. Zuerst hat OperAmore rund einen Monat auf den Stufen der James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel gesungen, einem beliebten Ort für Straßenkünstler:innen. Doch irgendwann hat der Sicherheitsdienst das Duo verscheucht. Es hieß, es gäbe Sicherheitsprobleme, wenn sie es allen erlauben würden, erzählt Florian. „Gerade wenn Museen die meiste Zeit geschlossen sind, wäre es schön, wenn die Museumsinsel für Musikschaffende zur Verfügung stände.“

Viele positive Rückmeldungen ermutigen die beiden, weiter auf der Straße zu singen.
Viele positive Rückmeldungen ermutigen die beiden, weiter auf der Straße zu singen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Für die 2020 geplanten Veranstaltungen haben Florian und Jennifer zum Teil Ausfallhonorare bekommen. Einen rechtsverbindlichen Anspruch darauf haben Künstler:innen nicht, denn die Pandemie ist ein Fall höherer Gewalt. Die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) hat in den vergangenen Monaten mit ihrer Rechtsberatung geholfen, dass Gastverträge zumindest zum Teil ausbezahlt und umstrittene Coronaklauseln gestrichen werden.

[Informationen zu den Auftritten, Fotos und Videos sind online zu finden unter www.operamore.de oder auf dem Instagram-Kanal @oper.amore.]

Der GDBA-Vorsitzende für Berlin und Brandenburg, Jesse Garon, ist selbst freischaffender Künstler und beobachtet, dass die staatlichen Hilfen nicht immer gegriffen haben: „Die Rücklagen sind bei vielen aufgebraucht, Alterssicherung und auch Krankenversicherung können oft nicht bezahlt werden.“

Und nicht alle Künstler:innen hätten Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Wer aus Existenzgründen andere Jobs angenommen hat, muss zudem fürchten, aus der Künstlersozialkasse ausgeschlossen zu werden. Besserung ist nicht in Sicht: Auch für die diesjährige Saison würden viele Freilichtveranstaltungen, auf die man gehofft habe, bereits abgesagt: Noch ein „leeres Jahr“ erwarte die Kulturszene.

Andere Künstler:innen haben ihren Beruf aufgegeben

„Die prekären Verhältnisse sind durch Corona noch sichtbarer geworden“, sagt Jesse Garon. Um das langfristig zu ändern, fordern die GDBA und andere Bündnisse sicherere Gastverträge: „Gastkünstler:innen sind bei Krankheit kaum gesichert, bekommen unter anderem kein Ausfallgeld, kein Urlaubsgeld und kein Corona-Kurzarbeitergeld.“ Die neue Initiative „Ensemble Bündnis Berlin“, bei der sich feste Ensemblemitglieder von Theatern für die Rechte ihrer freien Kolleg:innen einsetzen, ist für Garon ein Beispiel der Solidarität, die er sich von weiteren Theatern und auch Opernhäusern wünscht.

Florian und Jennifer hatten sogar noch Glück: Im März 2020 Jahres haben sie jeweils 5000 Euro Soforthilfe vom Senat bekommen, weil sie den Antrag schnell genug gestellt hatten. Andere Selbständige kamen zu spät. Auch November- und Dezemberhilfen sind inzwischen bei ihnen angekommen. Trotzdem sind die Sänger:innen wie viele andere Kulturschaffende auch auf Erspartes angewiesen, kämpfen mit Ungewissheit und finanziellen Sorgen. Einige befreundete Künstler:innen, erzählen sie, hätten aus Verzweiflung den künstlerischen Beruf ganz aufgegeben, arbeiten in Schulen oder als Straßenbahnfahrer:innen.

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Die beiden Musikschaffenden hatten mittlerweile auch wieder einzelne bezahlte Engagements, etwa bei einem Online-Gottesdienst ohne Publikum in der Gedächtniskirche. Doch ihre Spielfreude können sie sich nur auf der Straße – mit Live-Publikum eben – erhalten, so wie an diesem Abend auf den Dom-Stufen. „Es braucht eine bestimmte Energie, eine Verbindung, die sich herstellt und von der beide Seiten profitieren“, erklärt Florian, auch wenn er gestehen muss: „Ich hatte Schamgefühle, weil mein Bild von Straßenmusikern schlecht konnotiert war. Damit kämpfe ich bis heute.“

Jennifer strahlt und sagt: „Es bleiben Leute stehen, die noch nie Oper gehört haben und nicht glauben, dass man ohne Mikrofon so laut singen kann.“ Viele positive Rückmeldungen ermutigen die beiden, weiter auf der Straße zu singen.

Mit manchen Zuhörer:innen sind sie nun sogar befreundet, erzählen sie, etwa mit einer Opern-Liebhaberin und ihrer fünfjährigen Tochter, die ganz in der Nähe des Gendarmenmarkts wohnen und keinen Auftritt von Jennifer und Florian verpassen. Konzertsäle und Theater sind – bis auf wenige Pilotprojekte – geschlossen, doch die Sehnsucht nach Kunst ist groß. Und auch die Sehnsucht danach, Kunst zu machen.

Alina Ryazanova

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