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Die Station meines Lebens: Schreiben statt schrauben am Betriebsbahnhof Schöneweide

Ausbildung an der Eisenbahnerschule, zu entrostende Unterlegscheiben - doch dann kommt alles anders.

In der Kolumne "Die Station meines Lebens" schreiben Tagesspiegel-Autoren über Berliner Haltestellen, die sie geprägt haben.

Ich war mal Eisenbahner, drei Jahre lang. Am Betriebsbahnhof Schöneweide musste ich aussteigen, um ins nahe Reichsbahnausbesserungswerk zu kommen. Mitte der 80er Jahre begann ich dort eine Ausbildung zum Schlosser. Das lag an meiner gewissen Affinität zu Rad und Schiene, aber auch an meiner Mutter. Sie hatte zeitlebens ein gewisses Bedürfnis nach, nun ja, geordneten Bahnen. „Geh auf Nummer sicher“, riet sie, „lerne mal einen ordentlichen Beruf.“

Merkwürdigerweise trug meine Eisenbahnerschule den Namen des sowjetischen Kosmonauten Pawel Beljajew. Er war der 14. Mensch im All und 1965 am ersten Weltraumspaziergang beteiligt. Allerdings erntete sein Kamerad Alexei Leonow den Ruhm, der erste Aussteiger im All zu sein. Beljajew blieb nur die Zuschauerrolle im Raumschiff „Woßchod 2“. Mehr als 20 Jahre später bereitete ich mich auch auf einen Ausstieg unter den Augen Beljajews vor, dessen Porträt in meiner Eisenbahnerschule hing. Ich verließ sie nach Lehre und Abitur doch nicht mit dem Ziel, ein Studium der Lokomotivwirtschaft im sowjetischen Dnjepropetrowsk (oder Dneprodserschinsk?) aufzunehmen.

Und das kam so: Ich entrostete gerade gebrauchte Unterlegscheiben, da kam die Ansage vom Chef, ich solle mich doch mal bei der Betriebszeitung „S-Bahn-Funken“ melden, die alle zwei Wochen auf vier Seiten das Neueste aus dem Betriebsleben brachte. Ich sollte die Jugend in der Redaktion repräsentieren, ich schrieb ja auch ganz passable Aufsätze in der Schule.

Station: Betriebsbahnhof Schöneweide
Linien: S-Bahn S45, S46, S8, S85, S9
Nachbarhaltestelle: Adlershof
Fahrzeit bis Alexanderplatz: 23 Minuten ohne Umsteigen

Alsbald las ich auch meinen Namen in der Zeitung, und zwar unter einem holprigen Text über den Auftritt einer polnischen Volkstanzgruppe. Ich schrieb auch Mini-Porträts zum Frauentag, feierte die Eröffnung der werkseigenen Zahnarztpraxis („Halbjährliche Kontrollen ersparen schmerzhafte Behandlungen“) und empfahl einen Besuch im Betriebsferienheim.

Die Zensur greift ein

Eine Reportage aus der Warteschlange vor dem betriebseigenen Lebensmittelladen fiel allerdings der Zensur zum Opfer. Dabei stellte ich in dem Text nur die streberhafte Frage, ob es wirklich seinen sozialistischen Gang geht, wenn die Belegschaft für Bananen ansteht – während der Arbeitszeit. Auch ein geplanter Artikel über den Unsinn von Holz-Eisenbahnen und Dosenöffnern, die das Werk als „Konsumgüter“ produzierte, kam nicht gut an. Und schon hatte ich wieder mehr Zeit für rostige Unterlegscheiben.

Aber für mich stand fest: Ich wollte schreiben statt schrauben. Ein Mann gab mir Hoffnung, der in der Heimat von Kosmonaut Beljajew etwas von Glasnost verkündet hatte. Ginge es nach mir, sollte der Betriebsbahnhof Schöneweide unbedingt nach Gorbatschow benannt werden.

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