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Früher verrufen, heute hip: Der S-Bahnhof Sonnenallee in Berlin-Neukölln. 

© imago/Klaus Martin Höfer

Die Station meines Lebens: Die Sonnenallee zwischen Romantik und Hundekot

Für unsere Autorin wurde der Bahnhof Sonnenallee einst zur Tor in eine neue Welt. Plötzlich waren die romantischen Gefühle dann aber passé. Eine persönliche Hommage. 

Es war Frühling, kurz vor dem Abitur. Ich war damals oft in Berlin, von meiner brandenburgischen Heimatstadt aus war die Fahrt nicht weit. Wir machten Schulausflüge nach Mitte, fuhren zu Konzerten in Kreuzberg, Bars in Friedrichshain oder in den Treptower Park. Eigentlich fühlte ich mich schon ziemlich zu Hause in dieser Stadt, die bald ganz meine werden sollte.

Für mich ging es damals um viel: Die Entscheidung für Berlin hatte ich schon gefällt, für einen Studiengang noch nicht. Die FU veranstaltete zu der Zeit Infotage für künftige Studierende, also fuhr ich mal wieder nach Berlin, zum ersten Mal alleine – und wohnte die Tage bei einem älteren Schulfreund am Hertzbergplatz in Neukölln. 

Morgens lief ich von seiner WG zum Bahnhof Sonnenallee, holte mir unterwegs einen schlechten Kaffee und fuhr in die Uni. Abends saßen wir in einer kleinen Kneipe ums Eck auf abgerockten Sofas und philosophierten über die Welt.

Ich lernte nicht nur die Stadt abseits der üblichen Touristenecken kennen. Ich hatte auch endlich einen Eindruck davon, wie es sein würde, dieses neue Leben in Berlin. Die Sonnenallee, die ich bis dahin nur aus dem gleichnamigen Film und allerlei Schauerstories kannte, die man sich damals noch über Neukölln erzählte, wurde zum Tor in eine für mich neue und aufregende Welt. 

Gleichzeitig bekam mein heiles Berlinbild damals erste Risse: Die Sonnenallee war dreckiger, chaotischer, unfreundlicher als die Ecken der Stadt, die ich bis dahin kennengelernt hatte. All das Durcheinander übte aber auch eine gewisse Faszination auf mich aus – auch wenn ich damals noch nicht ahnte, dass ich einige Monate später nur wenige hundert Meter weiter in mein erstes WG-Zimmer ziehen würde.

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Die Sonnenallee begleitete mich die kommenden Jahre weiter, als eine Art Bezugspunkt meiner Berliner Welt. Währenddessen begann die Stadt rundherum sich mehr und mehr zu wandeln: Dreck und Chaos verschwanden zwar nicht, wurden aber vom lästigen Übel zum hippen Attribut.

Statt Hundekot fand man plötzlich Klamottenkisten mit „Zu verschenken“-Stickern neben den Baumscheiben (und ja, zum Teil auch neben dem Hundekot), mehr und mehr Tourist:innen bevölkerten die Straße, Mieten stiegen, Bäcker schlossen.

Als uns betrunkeneTouristen zum dritten Mal an die Haustür pinkelten, waren meine romantischen Gefühle für die Sonnenallee plötzlich passé. Kurz danach zog ich aus. 

Wenn ich heute an der Sonnenallee aussteige, ist dieses ursprüngliche Gefühl manchmal wieder da: dieser Gleichzeitigkeit aus vertraut und völlig neu.

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