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Endstation: Johannesstift ist weit weg vom Bahnhof Zoo.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Station meines Lebens: Das Johannesstift und die Straße der Einsamkeit

Die Fahrt von den Lichtern am Zoo in die Spandauer Dunkelheit, allein, in Gedanken: Eine Erinnerung an die 80er Jahre in West-Berlin.

In der Kolumne „Die Station meines Lebens“ schreiben Tagesspiegel-Autoren über Berliner Haltestellen, die sie geprägt haben.

Oben sitzen, ganz vorne, immer sehen, was kommt. Oder einschlafen, die Haltestelle verpassen, bis zur Endstation fahren. Nachts. Frühmorgens. Die Route des legendären 54er-Busses endete in Spandau am Johannesstift in der Schönwalder Allee. Die Straße macht dort einen kleinen Bogen. In diesem Bogen warten die Fahrzeuge, bis sie wieder zurückfahren zum Zoo. Rund um die Uhr.

Ich war jung und neu in der Stadt und wohnte damals, es war Anfang der achtziger Jahre, in der Schönwalder Straße, im Paul-Schneider-Haus der Lutherkirche. Ein bisschen gruselig wirkte das ansonsten verlassene Gebäude. Von dort bis zum Johannesstift waren es drei Kilometer, am Ende der Straße standen nichts als Bäume und die Mauer.

West-Berlin. Der „Dschungel“ war gerade umgezogen vom Winterfeldtplatz in die Nürnberger Straße. Das Aquarium, die Wendeltreppe zur Empore, man raunte über Iggy Pop und David Bowie. Diese trotzige, morbide, experimentelle, autoritätsferne, nach Patchouli riechende Zeit. Alles war möglich, nichts war möglich. Lebten hinter der Mauer auch Menschen?

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Ich arbeitete in der Jebensstraße am Zoo, wohnte in Spandau, der 54er – heute fährt hier die Linie M45 – fuhr von hier nach dort. In den Labyrinthen der Heinrich-Heine-Buchhandlung unter der Hardenbergbrücke war der Zeitgeist in Lettern gepresst. Detlev Meyer hatte soeben „Heute Nacht im Dschungel“ veröffentlicht, ein Gedichtband. Nach einer Lesung im Café Einstein in der Kurfürstenstraße schreibt er mir eine Widmung hinein. Eher überrascht als stolz lächle ich zurück.

Ein 54er an der Haltestelle Johannesstift, im Sommer 1986.
Ein 54er an der Haltestelle Johannesstift, im Sommer 1986.

© privat

Die Schönwalder Straße, das war Einsamkeit, Dunkelheit, ein wenig unheimlich. Die Gegend rund um den Zoo, das war auch etwas Einsamkeit, aber Lichter und Aufregung. Also blieb ich nach der Arbeit, Percoffedrinol half. Oft erst in den frühen Morgenstunden setzte ich mich dann in den 54er. Der Doppeldecker fuhr auf den breiten, leeren Straßen, eine halbe Stunde dauerte die Fahrt.

Station:
Johannesstift
Linien:
Bus 671, M45
Nachbarhaltestelle:
Cautiusstraße
Fahrzeit bis Alexanderplatz:
50 Minuten mit einmal Umsteigen

Doch kurz bevor ich hätte aussteigen müssen, nickte ich regelmäßig ein und wachte erst an der Endstation am Johannesstift wieder auf. Alle aussteigen, bitte. Eine von guten Geistern verlassene Gegend. Nichts ist zu hören, feuchter Herbstnebel dringt in die Kleidung. Ich könnte zum Paul-Schneider-Haus zurücklaufen, warte aber lieber, zusammengekauert auf einer Bank, bis der Bus in einer halben Stunde wieder Richtung Zoo fährt.

Diese ungezählten nächtlichen halben Stunden, ohne Handy oder MP3-Player, ganz allein in Gedanken und Gefühle versunken, verbinden mich bis heute mit der Endstation am Johannesstift. Manchmal träume ich von ihr.

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