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„Die Station meines Lebens“: An der Bornholmer Straße fiel die Mauer – und machte Platz für ein neues Leben

Schritt für Schritt wagte sich unser Autor an dieser Stelle in ein neues Leben im alten. Aber ein Teil von ihm blieb hier: am Bahnhof Bornholmer Straße.


In der Kolumne „Die Station meines Lebens“ schreiben Tagesspiegel-Autoren über Berliner Haltestellen, die sie geprägt haben.

Einmal waren wir beide mutig, mein Kumpel Ingo und ich. Wir rissen die Fenster der S-Bahn auf, die extra Fahrt aufnahm in der langen Kurve, die von weißen Betonwänden umschlossen war. Der Tunnel kannte in beide Richtungen nur eine Richtung: zurück in unsere, den Osten.

Als Berlin noch eine Stadt war, war hier ein Bahnhof – unter der Brücke, durch die unser Zug gerade quietschte; die Türme mit Soldaten flogen vorbei, wir riefen raus: „Die Mauer muss weg!“ – und zack, Fenster wieder zu. Wir waren zwölf und lernten in der Schule, dass die Wand, an die unser Leben stieß, noch in 100 Jahren stehen würde. Von der angerosteten Brücke in unserer durchtrennten Stadt dachten wir, wir würden sie nie betreten.

Auf einmal waren wir alle mutig. Und plötzlich – „Das gilt ab sofort, unverzüglich“ – sollte die Mauer nicht mal mehr 100 Sekunden stehen. Hier an der Brücke ging’s los, gingen alle los. Hand in Hand lief ich, inzwischen 14, mit meiner Familie durch riesige Kontrollanlagen, an die kleine Gärten grenzten.

Oben auf der von geschwungenen Stahlträgern eingefassten Brücke der Brüche liefen wir jubelnd rüber vom Prenzlauer Berg in den Wedding, zwei Arbeiterbezirke mit bröckelnden Fassaden umarmten sich wild und fremd. Schritt für Schritt wagten wir uns in ein neues Leben im alten. Aber mein Leben blieb hier, am Bahnhof Bornholmer Straße.

Weitblick bis zum Alex: Der S-Bahnhof Bornholmer Straße.
Weitblick bis zum Alex: Der S-Bahnhof Bornholmer Straße.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Bösebrücke, vor mehr als 100 Jahren nagelfest erbaut als erste genietete Stahlverbindung der wachsenden Stadt und später benannt nach einem kommunistischen Widerstandskämpfer, ist eigentlich ein Bauwerk der Aufbrüche. Hier streckte nach den wildfremden Umarmungen vom 9. November 1989 die Straßenbahn wieder ihre Gleisarme von Osten in Richtung Westen aus. Hier erinnern Kirschbäume, die Japan der Stadt Berlin geschenkt hat, an das blühende Leben, wo einst der Tod auf Flüchtlinge wartete.

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Heute habe ich hier einen kleinen Garten in einer für den Kiez offenen Anlage, in der seit mehr als 120 Jahren das grünstädtische Leben gedeiht. Im Sommer treffen sich unter der Brücke Musiker und Joggerinnen, Boxerinnen und Jongleure, Flanierende mit Hunden, Kindern und ihren Träumen an der Hand. Oben gelangt man zum S-Bahnhof, auf dem es allerdings bis zum Eintreffen des Zuges ziemlich zugig ist.

Die Bahnhofshalle an der Brücke ist verwaist, gerade lädt ein Kiezprojekt zum Stehenbleiben ein; es gibt Parfüm aus Gartenblüten. Und an den Treppen hängen Fotos von damals, als wir mutig Betonwände überwanden, mein ganzes halbes Land und ich und Ingo.

Freiheit ist auch das, was man draus macht. Am Bahnhof Bornholmer Straße steigen wieder Menschen aus allen Richtungen in ihr Leben ein. Und fahren, wohin sie wollen.

Station:
Bornholmer Straße
Linien:
S-Bahn S1, S2, S25, S26, S8, S85
Bus M13
Tram 50, M1, M13, M2
Nachbarhaltestelle:
Gesundbrunnen
Fahrzeit bis Alexanderplatz:
13 Minuten mit einmal Umsteigen

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