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Blick auf die Kreuzung Potsdamer Straße Kurfürstenstraße.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Potsdamer Straße im Wandel: Verkommen, um zu bleiben

Sie war mal Prachtmeile und Drogensumpf, jetzt entwickelt sich die Potsdamer Straße zum angesagten Zentrum mit Galerien, Designerläden und Edelrestaurants. Über ein schönes, hartes Pflaster

Zuerst ist da ein Traum. Den haben so einige, die hier wohnen. Den vom grünen Boulevard, über den man flanieren könnte. Und wie das so ist mit Träumen: Wenn man Realisten von ihnen erzählt, wirken Träume komisch. Besonders in der Potsdamer Straße, wo sich Tag für Tag ein brüllender Blechstrom von Nord nach Süd und von Süd nach Nord ergießt. Wo die Bürgersteige eng sind, manche Schaufenster leer und das Auge im Einerlei der von Imbissen, Handyshops und Gemüseläden gefüllten Blockrandbebauung wenig Attraktionen zum Festhalten findet. Und doch wird sie durch einen Kosenamen geadelt, der es schon phonetisch in sich hat: Potse. Das klingt nicht wie Ku’damm, das klingt wie, äh, ja, genau.

Die Potsdamer Straße ist eine der wichtigen Lebensadern der Stadt. Sie ist ein Mythos, aber auch ein Albtraum. Knapp drei Kilometer sind es vom Potsdamer Platz bis zum Kleistpark. Mehr als 30.000 Autos befahren sie täglich. In dieser Straße ist der Lärm der Zuchtmeister jeder Plauderei, und die Feinstaubbelastung gehört zu den höchsten der Stadt. Es gibt nichts, was die Magistrale für eine nachhaltige Entwicklung prädestiniert. Ihre grünen Tage sind 200 Jahre her. 1793 war die Verbindung der königlichen Residenzen, die Landstraße von Berlin nach Potsdam, die erste befestigte Chaussee Preußens. Jetzt ist die Potsdamer Straße Teil der Bundesstraße 1. Als Straße ist sie das, was eine Straße ist: Verbindung von A nach B, Transportweg für Menschen und Lasten, Infrastruktur. Dass dort auch jemand verweilen wollen sollte, war erst in zweiter Linie vorgesehen. Und doch ist sie heute Heimat für 23.000 Menschen, die an der Magistrale wie in den dazugehörigen Nebenstraßen leben. Im Herbst soll der Mythos Teststrecke werden. Dann gilt auf der rastlos pulsierenden Route, die urbane Romantiker für ihr Großstadtflair lieben und damit den Feierabendstau meinen, eine Höchstgeschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde. Die Potsdamer Straße schickt sich an, wieder eine andere zu werden.

Die Straße wirkt wie ein Brennglas, durch das sich das Gesicht der Stadt beobachten lässt. Das hat auch Stephan von Dassel, Bezirksbürgermeister von Mitte, bemerkt, der an diesem Tag an der Kreuzung Kurfürstenstraße steht. Neben ihm Jörn Oltmann, stellvertretender Bürgermeister von Tempelhof-Schöneberg. Beide sind umringt von örtlichen Imagepflegern, denn sie sollen beim „Grünen Tag“ der Interessengemeinschaft Potsdamer Straße ein bisschen Reklame machen für diese Straße, von der es scheint, dass ihr einst so räudiges Antklitz immer weniger Retusche braucht. Also stehen sie auf einer Verkehrsinsel vor zwei Pflanzsäcken, in denen die Hoffnung in Gestalt zweier Apfelbäume wurzelt. „Die Potsdamer Straße ist wie Berlin“, sagt von Dassel unter beifälligem Nicken. „Nicht hübsch, nicht hässlich, etwas grob, aber mit Potenzial – hier geht noch mehr.“ Dann wollen die beiden Grünen-Politiker ein Band der Sympathie knüpfen. Gar nicht so einfach, die an den Bäumchen befestigten Stoffstreifen zusammenzufügen und so die bezirksbedingte Zweiteilung der Tiergarten und Schöneberg durchlaufenden Straße zu überwinden. Die Politiker nesteln. Der böige Magistralwind zaust Schlipse, Haare, Bänder. Schließlich erblüht eine schiefe Schleife. Die Aktion „Boulevard Potsdamer Straße“ ist eröffnet, der von Bürgern, Bezirken, Senat angestrebten umweltfreundlicheren Zukunft steht nichts mehr im Wege. Applaus, Kameraklicken, ein Chor schmettert barocke Festgesänge.

Regine Wosnitza, die Vorsitzende der IG Potsdamer, hat sich beim Friseur „Kopfsache“ gegenüber zur Feier des Tages grüne Strähnchen machen lassen. Die Potse verlangt Einsatz mit Haut und Haar. Einst wurde die Interessengemeinschaft von Gewerbetreibenden gegründet, um sich gegen die Hausbesetzer der achtziger Jahre zu positionieren. Nun haben hier auch Stadtteilaktivisten das Sagen. Wosnitza betreibt seit zehn Jahren den „Potseblog“, lebt in der Bülowstraße und birst vor professionellem Engagement. Dass so wenig prämierungswürdige Balkone für ihren Balkonwettbewerb in der Potsdamer aufzutreiben waren, nimmt sie mit Humor. Sie und ihre Mitstreiter glauben an ein neues Radweg-Konzept und an bepflanzte Baumscheiben. Das soll den Traum vom Boulevard voranbringen, der wiederum das Symbol einer großen Versöhnung ist. Die von Radlern, Autos, Fußgängern, Altem und Neuem, Hässlichem und Schönem, Armen und Reichen.

Ohne Begrünung abgelehnt. Die Potsdamer Straße ist immer wie Berlin gewesen. Ein bisschen schäbig, aber mit Potenzial.
Ohne Begrünung abgelehnt. Die Potsdamer Straße ist immer wie Berlin gewesen. Ein bisschen schäbig, aber mit Potenzial.

© Thilo Rückeis

Diese Sehnsucht teilen alle, die in der Straße arbeiten und leben. Da kann man hinhören, wo man will. Es passt zu dieser Stadt im Jahr 2017, dass sich ihre Ur-Sehnsucht ausgerechnet in der ollen Potse materialisiert. Sicher bezweifeln auch welche, dass sich die Idee einer geglückten Vielfalt zwischen dem hochpreisigen Neubauquartier am Gleisdreieckspark und den in der Kurfürsten- und Genthiner Straße entstehenden Wohnblocks verwirklichen lässt. In den Nebenstraßen laufe er bereits, der Kampf um Rendite und Verdrängung, sagt denn auch Regine Wosnitza mit Blick auf diese Bauprojekte. Kürzlich mobilisierte sie in der Genthiner-, Ecke Lützowstraße eine Kundgebung gegen die Entmietung eines Hauses.

„Wir wollen nicht aufwerten, sondern umwerten“, ruft Wosnitza den feinen Unterschied ins Mikrofon. Die Lautsprecheranlage erweist sich als skeptisch und kapituliert. Auch als sie von der Potsdamer Straße als einem langen Straßendorf spricht, das vom Landwehrkanal bis zum Kleistpark reicht. Plötzlich schreckt ein lauter Knall die Besucher des „Grünen Tages“ auf. Ein Passant, der kaum eine Viertelstunde zugehört hat, vermutet: „Ist wohl ’ne Baumscheibe umgefallen.“ Hartes Pflaster, Potse, du gehst nicht zimperlich mit deinen Visionären um.

Und wer erst einmal ein paar Wochen hier unterwegs war und mit Wirten, Varietéchefs, Kaufleuten, Quartiermanagern, Handwerkern, Galeristen, Designern, Bewohnern, Hausbesitzern und Straßenchronisten gesprochen hat, erkennt: Die Potse ist wirklich ein Dorf. Einer kennt den anderen. Was sie übereinander reden, ist nicht nur nett. Und was sie über die ihre Straße reden, darüber, was sie einst war und wieder sein könnte, ist nicht immer richtig.

Wildwuchs einer Landstraße, die ausuferte

Zum Beispiel die seit Jahrzehnten immer wieder herumgeisternde Idee, dass die Potsdamer Straße ein Boulevard sei. Darüber kann Sybille Nägele nur den Kopf schütteln. „Das entbehrt jedes historischen Vorbilds“, sagt die Autorin. Ein Wunschtraum, mehr nicht. Sie und ihr Partner Joy Markert haben die Straße haarklein erforscht, ihr eine detailreiche Kulturgeschichte, unzählige Führungen, einen seit vielen Jahren laufenden Literatursalon und sogar eine Charme-Offensive gewidmet. Unter den Linden, dass sei ein am Reißbrett angelegter Boulevard nach Pariser Vorbild. „Linear, mit Mittelstreifen und breitem Trottoir.“ Aber die Potse, das sei „Wildwuchs, eine Landstraße, die ausuferte.“ Das zweite Gerücht, dass sie aufseufzen lässt, ist die Behauptung, die Potsdamer sei Teil der mittelalterlichen Reichsstraße 1 von Aachen nach Königsberg. Die führte aber gar nicht über das zu der Zeit völlig bedeutungslose Berlin, sondern über Magdeburg. Dass es in unzähligen Büchern anders steht, sei ein Sieg der Nazis, die die mittelbar auch in Albert Speers „Germania“-Planung eingebundene Straße mit Bedeutung aufladen wollten. Nur zehn Minuten Fußweg vom Kaffeerestaurant „P 103“ entfernt, da, wo heute an der Ecke Goebenstraße die Wohnmaschine Pallasseum steht, hat die Potsdamer Straße 1943 bei Joseph Goebbels „Wollt ihr den totalen Krieg?“-Rede im Sportpalast ihre dunkelste Stunde erlebt. Und später kam noch der Mauerbau dazu, der die in Europas einst belebtesten Platz gipfelnde, ehedem glanzvolle Geschäftsstraße zu einer Sackgasse degradierte und sie in West-Berliner Bedeutungslosigkeit versinken ließ.

„Da geht Bernd“, sagt Sibylle Nägele, und deutet aus dem hohen Fenster des Kaffeerestaurants „P103“. Seit vier Jahren residiert es zwischen Kurfürsten- und Pohlstraße in den einstigen Räumen der Traditionsbuchhandlung „Struppe & Winckler“. Draußen zieht langsam ein auf seinen Rollator gestützter Greis vorbei. „Der hatte kürzlich einen Schlaganfall.“ Später, beim Spaziergang durch erstaunliche Aufgänge und Hinterhöfe, wird das so weitergehen. Guten Tag hier, wie geht’s da. „Die Straße hat Bodenhaftung, sie ist gewachsen, das mögen viele, die herkommen, auch wenn sie dann genau das dadurch zerstören.“ Hier gebe es noch viele private Hausbesitzer, die sich kümmern und selbst hier wohnen. „Wenn die nicht gierig werden, bleibt die Mischung.“

Nicht alles, was wie ein Zeichen der Gentrifizierung aussieht, muss auch eines sein. Da überrascht die Potsdamer, auch in diesem Restaurant. Die Wände bewahren die alten Jugendstilornamente, eine englischsprachige Karte ist Standard. Gegründet haben den Laden aber keine von irgendwoher eingeschwebten Gastro-Investoren, sondern drei kunstaffine, ehemalige TU-Studenten, die Mohsen, Mehran und Engür heißen. Vorher haben sie gemeinsam ein Taxiunternehmen in der Bülowstraße geführt, erzählt Nägele. Der gerade an den Tisch tretende Kellner nickt, sein Name ist Mohsen. Wenn es gut läuft, sind es ganz einfach die Nachbarn und nicht die Stadtplaner, die einer Straße neue Impulse geben. Mal ganz abgesehen von den Impulsen, die die Straße der Stadt gibt.

Das Wintergarten Varieté. Es soll bald die schicksten Toiletten der Stadt haben.
Das Wintergarten Varieté. Es soll bald die schicksten Toiletten der Stadt haben.

© Doris Spiekermann-Klaas

Auf die Potsdamer sind die Ideen, Moden und Ereignisse niedergeprasselt wie ein Meteoritenregen auf einen Planeten. Ihr architektonisches Erscheinungsbild vom Kollhoff-Hochhaus am Potsdamer Platz bis zu den Königskolonnaden im Kleistpark, dem ehemaligen Botanischen Garten, ist eine Freiluftschau aus 150 Jahren Berliner Baugeschichte. Klassizismus, Gründerzeit, Moderne, Nationalsozialismus, Nachkriegsmoderne, Postmoderne. Darunter zwei Perlen der Neuen Sachlichkeit: das Loeser&Wolff-Haus vor der Potsdamer Brücke, auf dem kürzlich das Nobelrestaurant „Golvet“ den Club „40 Seconds“ abgelöst hat, und Bruno Pauls derzeit traurig mit Gittern verrammeltes Kathreiner-Hochhaus neben dem Kleistpark. Auch Ihre Ideengeschichte ist übervoll: Namen wie Hedwig Dohm, Ferdinand Lasalle, Julie Wolfthorn, Franz Hessel und Herwarth Walden stehen für Avantgarde, für Frauen-, Arbeiter- und Judenemanzipation. Es ist nicht möglich, nur ansatzweise auszubreiten, welche Denker, Dichter und Künstler von Adelbert von Chamisso über Theodor Fontane, Adolf Menzel, Else Lasker-Schüler, Claire Waldoff bis zu Erich Mühsam und Lina Morgenstern hier gelebt haben, welche berühmten Gesellschaften, Kunsthändler und Verlage hier saßen und welche Metamorphosen vom Villenviertel vor dem Potsdamer Tor über die Geschäftsstraße im Kaiserreich bis zur planmäßig der Verslumung preisgegeben Absturzmeile der achtziger Jahre sie durchlaufen hat. Zu der Zeit regierte in West-Berlin die Kahlschlagsanierung und der Planungswahn der „autogerechten Stadt“, der dem Beritt die sogenannte Westtangente bescheren sollte. Damals haben die Hausbesetzer hier nicht nur große Teile der Altbausubstanz gerettet, sondern auch den Namen „Potse“ erfunden, wie Benny Härlin, selbst Hausbesetzer, und Michael Sontheimer in ihrem 1983 erschienenen Sittenbild „Die Potsdamer Straße“ schreiben.

In dieser Dekade ist die Straße ein Zentrum der Alternativkultur. Manu Giese von der Frauenkneipe „Begine“, die das auch heute noch rein weiblich bewohnte Haus zwischen Bülow- und Alvenslebenstraße mit besetzt hat, kann Geschichten von der in Eigenarbeit geleisteten Sanierung der maroden Bude erzählen. Auch Entertainerin Gloria Viagra, die seit 30 Jahren im selben Abschnitt lebt, erinnert sich gut. Sogar an den als jugendlicher Demonstrant erlebten Septembertag 1981, als der Hausbesetzer Klaus Rattay, an den heute vor der Commerzbank Ecke Bülowstraße eine Gedenktafel erinnert, bei einer Antiräumungsdemo unter einem BVG-Bus starb. Was sie von der grauen, dreckigen, von Bordellen und dem Straßenstrich geprägten Straße jener Jahre erzählt, deckt sich mit dem, was Härlin und Sontheimer schreiben. Sogar die bemühen den alten Traum, nur wird daraus jetzt ein „Arme-Leute-Boulevard“. Die beiden Autoren prägen noch eine zweite Bezeichnung: „Straße ohne Hoffnung“.

"Die hatte immer knallharte Züge."

Wer sich heute beim im Februar zwischen Lützow- und Pohlstraße eröffneten In-Japaner „Sticks ’n’ Sushi“ feuchtwarme Frotteetücher zum Erfrischen reichen lässt, wähnt sich in London, so universell stylish wie die erste deutsche Dependance der dänischen Restaurantkette daherkommt. Er kann sich weiß Gott nicht mehr vorstellen, was für ein unglaublicher Pflegefall die Potse einmal war. Die Drogen, das Rotlicht, Leerstand, Verfall, Glücksspiel, Migranten- und Sozialwohnungselend. Auch heute lebt noch ein Drittel der Bewohner des Gebietes von staatlichen Hilfsleistungen.

Gleich zwei Quartiersmanagements haben sich ab 1999 um die Patientin bemüht. Seit diesem Jahr ist nur noch das im Schöneberger Norden aktiv. In Tiergarten Süd waltet der langjährige Quartiersmanager Michael Klinnert nun als „Stadtteilkümmerer“, sprich Koordinator. Klinnert ist seit mehr als 30 Jahren mit der Gegend vertraut. 1985 hat er – politisiert durch den Anwohnerwiderstand gegen die Westtangente – den Stadtteilverein Tiergarten mit gegründet. Und wie der alte Fahrensmann der Kiezarbeit da so vor dem Café des Nachbarschaftstreffs in der Lützowstraße sitzt und die Aufs und Abs der Potsdamer Straße kommentiert, machen deren Verwandlungen plötzlich einen gleichsam organischen Eindruck. „Diese Sinuskurve ist der Rhythmus von Straßen, Häusern, Städten“, spricht der Graukopf.

Klinnert ist Pragmatiker. Ein Typus, den man hier öfter trifft. Ja, von Gespräch zu Gespräch verdichtet sich der Eindruck, als züchte die Straße diesen Menschenschlag. Den der Leute, die machen. Klinnert hat sich schon häufiger als Visionär erwiesen. Seit knapp zehn Jahren kehren verstärkt wieder Kunsthändler an den traditionellen Galeriestandort der zwanziger und achtziger Jahre zurück. Die im Zuge der ersten Mieterhöhungswelle nach dem Mauerfall leerstehenden Läden haben aber nicht sie zuerst entdeckt, sondern sein Quartiersmanagement Magdeburger Platz. „Wir waren die Vorreiter der Kunst- und Kulturbespielung.“ Leere sei verheerend für den Straßenraum. Und Künstler zog die Aura der Potsdamer Straße schon immer an. Sogar ein Kulturfestival, die „Magistrale“, hatten sie sich ausgedacht. Trotzdem sei die Straße kein Boulevard, auch wenn genau das im Leitbild, dem letztjährigen Abschiedsgeschenk des Quartiersmanagements an die Potsdamer Straße, zu lesen steht . „Die hatte immer knallharte Züge.“ Auch jetzt noch. Der Verkehr sei höllisch, die Prostitution im Quartier in ihrer jetzigen Erscheinungsform schlimm. Und dass das Niveau der Mieten immer mehr anzieht, treibt ihm Hilfe suchende Anwohner ins Büro. Und doch glaubt auch Michael Klinnert an die Vielfalt der Potse. Daran, dass sich womöglich gar die kuriose Mischung aus Tabledance-Bar, Galerien, Wettbüros, Fachhändlern, Hotels und zunehmend schicker Gastronomie hält, wie sie zwischen Landwehrkanal und Kurfürstenstraße existiert.

Im Haus der alteingesessenen Fleischerei Staroske wohnte einmal Marlene Dietrich.
Im Haus der alteingesessenen Fleischerei Staroske wohnte einmal Marlene Dietrich.

© Doris Spiekermann-Klaas

Der nicht zu ausschweifenden Hymnen neigende Mann findet ausgerechnet freundliche Worte für einen Immobilienmenschen. Für Oliver Freymuth nämlich, den Mann, der die Mercator-Höfe in der Hausnummer 77 bis 87 entwickelt hat. „Der einzige Immobilienhalter vor Ort, der so ein nachhaltiges Konzept durchgezogen hat.“ Lob für den Eigentümer einer Großimmobilie. Lob für solide Hausbesitzer, die sich kümmern und maßvolle Mieten kalkulieren. Die Potsdamer Straße ist für viele Überraschungen gut. Hier hört man Töne, die in der von Verdrängungskämpfen gezeichneten Stadt sonst nicht erklingen. Auch und gerade von den Alteingesessenen.

Da sind vier Männer, ohne die der Abschnitt zwischen Kurfürstenstraße und Lützowstraße nicht derselbe wäre. Deren Läden und Lokale Konstanten geworden sind im Wirbel der Veränderung, die Großstadtstraße heißt.

Der erste ist Jörg Staroske, der Fleischermeister. Er ist an der Potsdamer Straße groß geworden. In dem prächtigen, schon von den Eltern erworbenen Gründerzeitbau mit der Nummer 116, wo er wohnt und arbeitet, hat auch mal Marlene Dietrich gelebt. Der Fleischer hat registriert, dass die neue, hippe Gastronomie mehr Konkurrenz für seinen gutbürgerlichen Mittagstisch bedeutet. Das hält ihn nicht davon ab, einen unerhörten Satz zu sprechen: „Wir setzen große Hoffnungen auf die Gentrifizierung.“ Mit ihr kämen Kunden, die nicht zum Discounter Fleisch kaufen gingen.

Der zweite ist Fred „Puschel“ Eichhorn, der Gastwirt. „Puschels Pub“ liegt nur einen Steinwurf von der Fleischerei entfernt und ist eine Institution. Die, laut Wirt, „letzte Kiezkneipe auf der legendären Potsdamer“. Das schmale Handtuch von Wirtschaft ist das verräucherte Wohnzimmer der Nachbarschaft. Puschel ist ein Biertrinker ohne Angst vor Aufwertung. „Die soll nur vernünftig vonstattengehen.“ Als er den Laden 1988 übernommen hat, war nicht zu ahnen, dass hier mal 15 Nationen einträchtig beim Fußballgucken sitzen. „Nach einer Flasche Korn kann ich alle Sprachen.“ Puschel ist ein Schalk. Und die Potse eine Straße, deren Propheten auch immer heilige Trinker waren, wie die Schriftsteller Joseph Roth und Jörg Fauser.

Überall werden die Geschäfte auf Vordermann gebracht

Adib Harb, der dritte, ist Händler. 1983 hat der ehemalige Diplomat des einst in der Potsdamer Straße gelegenen libanesischen Konsulats das erste arabische Delikatessengeschäft West-Berlins, wenn nicht gar Deutschlands, im Haus Nummer 93 eröffnet. Seither entströmt dem mit libanesischen Weinen und Trockenfrüchten gefüllten Laden eine Gewürzwolke, die den Spritgestank der Potse für einige Meter vergessen lässt. Genau wie der Fleischermeister plant Harb, den Laden demnächst umzubauen. „Überall werden die Geschäfte auf Vordermann gebracht, die Potsdamer Straße hat sich positiv verändert, ist internationaler geworden, deshalb investieren wir.“ Dass sie schicker werden müssen, um auf der neuen Potse mitzuhalten, erkennen auch die Altanrainer.

Nummer vier heißt Dieter Funk und ist Chef des Restaurants Joseph-Roth-Diele. Er ist erst seit 2002 hier, doch seine Preise haben sich kaum verändert. Sie liegen deutlich unter denen bei „Stick’n’Sushi“ oder denen im noblen Hinterhof-Restaurant „Panama“ in der Hausnummer 91. Endlich bekomme die alte Dame Potse wieder den Glamour, der ihr zustehe, sagt Funk. Nur eins geht ihm auf den Keks. „Dass die, die vor 15 Jahren gemeckert haben, dass hier alles scheiße ist, jetzt wieder meckern, weil es endlich anders wird.“

Und wie es anders wird. Nicht zwischen Potsdamer Platz und Landwehrkanal, wo die Dynamik der Hochhausbebauung in der Unbehaustheit des ewig unvollendeten Kulturforums verebbt. Auch nicht zwischen Bülowstraße und Kleistpark, wo das Gewusel der – oft migrantisch geprägten – kleinen Geschäfte von den kühlen Fassaden der Wohn- und Verwaltungsblöcke abgelöst wird. Aber zwischen Landwehrkanal und Kurfürstenstraße, wo 2200 Glühlampen des Varietés Wintergarten den Guten und Bösen auf der Potsdamer heimleuchten. Da bekommt die einst von Amüsierpalästen wie dem „Haus Vaterland“ und dem Sportpalast geprägte Vergnügungsmeile nun, was sie verdient: eine aus feiner Keramik, mundgeblasenem Glas, Marmor, Samt, Federn und Kupfer gefügte Sanitärwelt. Die schönsten Toiletten Deutschlands! Das sagt jedenfalls bei einem Baustellenrundgang Hans-Joachim Böhme, der sie zusammen mit seiner Partnerin, der Hutmacherin Fiona Bennett, im Keller des Varietés gestaltet. Seit 2012 ist das 20 Meter lange Schaufenster von Bennetts Laden gegenüber dem Wintergarten der Blickfang der neuen Potsdamer Straße. Und wenn der Designer Andreas Murkudis derjenige ist, der mit seinem Geschäft in der ehemaligen Mercator-Druckerei den Hinterhöfen der Potsdamer Straße ein luxuriöses Flair gegeben hat, dann ist sie diejenige, die ihrem Gesicht Anmut gibt. Als Toilettenausstatter hat die beiden Wintergarten-Chef Georg Strecker gewonnen. In ihrem Werk zitieren sie sowohl Esther-Williams-Revuen wie das „Kabinett des Dr. Caligari“, Erinnerungen an goldene Vorkriegszeiten werden wach. Aber ob die Untergrundattraktion zur Potsdamer Straße von heute passt? Böhme nickt. „Weil sie ein wilder Ort ist“.

Hutmacherin Fiona Bennett hat ihr Atelier im ehemaligen "Tagesspiegel"-Gebäude eingerichtet.
Hutmacherin Fiona Bennett hat ihr Atelier im ehemaligen "Tagesspiegel"-Gebäude eingerichtet.

© Doris Spiekermann-Klaas

So wild, dass sie Wunden schlägt. Fiona Bennett hat ihre zum Glück überlebt. Vor einigen Monaten hat ein Auto sie bei grüner Ampel angefahren. Dieser Verkehr bringt Menschen auf die Intensivstation. Inzwischen sitzt Bennett wieder stilvoll zurechtgemacht auf einem weißen Sessel in ihrem weißen Laden und erzählt, dass sie der Überdruss an der glattgebügelten Großen Hamburger Straße in die Hausnummer 81 verschlagen hat. „Was Gentrifizierung angeht, bin ich ein gebranntes Kind.“ Nicht auszuhalten, wenn es überall Hostels gibt, aber keinen Bäcker und keinen Zeitungsladen mehr. „Der Fleischer, der Wintergarten, die Kirche, die Roth-Diele, die sollen bloß alle bleiben“, beschwört sie die Geister der Zukunft. Wo doch so viele weg sind: Landkarten Schropp, das Centrum Polonicum, die Galerie Raab, der Möbelladen Kontor, der Club Ex’n’Pop, die Buchhandlung am Kleistpark. Unter Bennetts braunem Haar ist eine rosa Narbe sichtbar. Um Luxus ginge es ihr nicht, sagt die gefeierte Modistin, sondern um Magie. „Das Schöne im Hässlichen zu installieren, das war immer mein Traum.“ Wo hätte sie damit anders landen können als in der weltstädtischen Normalität dieser Durchgangsstraße.

Und zwar in dem Teil, der einst der Sitz dieser Zeitung war. Als der Tagesspiegel 2009 ging und das Grundstück mit der Hausnummern 77 bis 87 im Jahr darauf in Zwangsversteigerung geriet, schlug die Stunde der Firma Arnold Kuthe. Sie besitzt und betreibt auch den gegenüberliegenden Wintergarten und ist auf die Erhaltung und Vermarktung von Liegenschaften mit Tradition spezialisiert. Geschäftsführer sind die Brüder Stefan und Oliver Freymuth. Letzterer ist der Mann, den die einen auf der Potse Gentrifizierer schimpfen und die anderen als Retter alter Bausubstanz, ja gar der Zukunft der Straße preisen. Sein Wirken hat ihr einen Kick versetzt. Er ist derjenige, der Galerien, Modeläden, Kreative und Gastronomie auf seinem Gelände angesiedelt hat. Nicht weil er ein Visionär, sondern weil er ein Pragmatiker ist, der glaubt, dass die Bauten der Vergangenheit auch für die Zukunft taugen.

Ave Maria ist ein katholischer Devotionalienladen, ebenso exotisch wie der Gewürzhändler einige Meter weiter südlich. Nun ist Gott weggezogen.
Ave Maria ist ein katholischer Devotionalienladen, ebenso exotisch wie der Gewürzhändler einige Meter weiter südlich. Nun ist Gott weggezogen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Der Auszug der Zeitung sei ein Glück für die Straße gewesen, stellt der skeptisch blickende Freymuth zu Beginn des Gesprächs fest: „Inzwischen arbeiten hier viel mehr Leute als damals.“ Dann erklärt er, warum er die Chance nutzen wollte, ein Areal von dieser Größe und Gestalt – inklusive der ehemaligen Villa des Malers Anton von Werner und einer ehemaligen Rotationshalle – zu entwickeln. „Ein Einzelobjekt kann in einer Straße nichts bewirken, ein Großobjekt, zentral gelegen, schon. Das ermöglicht es der Potsdamer Straße womöglich eines Tages, den Anschluss an Mitte zu finden.“ Der hat nach dem Fall der Mauer nie wieder funktioniert. Ob die Aufwertung über die Querstraßen oder über die viel befahrene Fahrbahn springe, das bliebe jedoch abzuwarten. Was seine Zukunftsprognose für die Potse ist? Der in Zehlendorf lebende Mittelständler zieht die Augenbrauen hoch. „Ich bin nicht Jesus. Mein Thema sind die Gegebenheiten.“ Und dann sagt er das, was alle sagen, was alle hoffen. „Die Mischung wird zusammengewürfelt, wird individuell bleiben.“ Und das klingt, als sei selbst der Vertreter des Kapitals am geglückten Miteinander von schick und schäbig, von grau und grün in der Potsdamer Straße interessiert.

In der Nacht können auch Realisten an Träume glauben. Der Vollmond steht über der Potsdamer Straße. Die dicken Türsteher vor der Tabledance-Bar „Golden Dolls“ lassen die Tür aufstehen. Nüscht los da drinnen. Leise fächelt der Nachtwind. Der Asphalt strahlt die Hitze des Tages ab. Kurz vor der Potsdamer Brücke nähert sich ein Mann. Sein Haar ist struppig, der Hackenporsche bollert, er bettelt um Geld. Für Gitarrensaiten. Doch ein Instrument ist nirgends zu sehen, dafür hebt er zu singen an. Kaum hat er Geld bekommen, ruft er wie aufgezogen: „Danke schön, Zauberwort, danke schön, Zauberwort“. Ein Bus hält und verschluckt den seltsamen Heiligen.

Der Mond scheint auf den Eisernen Gustav, der stocksteif auf der kleinen Mittelinsel steht. Größer als seine Pranken ist nur noch der Zylinderhut. Das Denkmal von Gerhard Rommel erinnert an Gustav Hartmann, jenen Droschkenkutscher, der 1928 tausend Kilometer mit dem Pferdefuhrwerk nach Paris fuhr, um gegen den Niedergang seiner Zunft durch den Autoverkehr zu protestieren. Ein Prophet des Transits, aber bitte mit gedämpfter Geschwindigkeit. Auf ihn gehört hat keiner, nicht mal er selber. Außer dem Pferd soll er auch ein Auto besessen haben. Und nun haben sie ihm auf der Potse auch noch einen schönen Bauzaun und ein Dixiklo hingestellt. Was für ein absurdes Traumbild auf nächtlicher Straße, die endlich zu tosen aufgehört hat.

Das Loeser & Wolff-Haus an der Landwehrkanal-Brücke bildet eine Art Entré in die Potsdamer Straße.
Das Loeser & Wolff-Haus an der Landwehrkanal-Brücke bildet eine Art Entré in die Potsdamer Straße.

© Doris Spiekermann-Klaas

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