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Berlin: Die perfekte Täuschung

Fritz Kohlmetz war Hitlers Soldat – eigentlich. Gekämpft hat er nie. Mit gespielten Ohnmachten und falschen Attesten hat er sich gedrückt. Lange hat er darüber geschwiegen

Ein labberiges Stück Papier, braunvergilbt, an den Ecken angestoßen und zerknittert. Fritz Kohlmetz freut sich, dass es noch da ist. In 60 Jahren verschwindet ja fast alles, was einem mal gehört hat. Er hält den Bogen hoch in die Luft, lässt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln, lacht ihn an. Hauchdünner Zellstoff, mit Tinte beschrieben, per Stempel beglaubigt, mit Gebührenmarken beklebt. Ausgestellt im Juni 1942. Alles offiziell – alles eine perfekte Täuschung.

Das Attest, das ihn vor dem Fronteinsatz bewahrte, hatte ein befreundeter Arzt ausgestellt, Dr. Pitow. Er wählte eine Krankheit, die damals schwer zu diagnostizieren war: Mitralstenose, eine Verengung der Herzklappenöffnung. Damit einfache Militärs wissen, was sie davon zu halten haben, schrieb er dazu: Herzschaden. Aber nur ein Attest reichte nicht aus. Fritz Kohlmetz hat zusätzlich geschauspielert, fünf Jahre lang. Er simulierte Ohnmachtsanfälle und Herzattacken, kippte beim Marschieren um, blieb beim Exerzieren liegen, atmete schwer. Einmal fiel er sogar vom Fahrrad.

Simulanten wie Fritz Kohlmetz galten bis weit nach dem Krieg als Vaterlandsverräter. „70 Prozent reagierten negativ, 30 Prozent positiv“, erinnert sich Kohlmetz. Deshalb hat er seine Geschichte nur selten erzählt, und nur in Umrissen. Jetzt ist er 80 Jahre alt, blickt auf ein erfülltes Leben als Beamter, Pharmamitarbeiter und Familienvater zurück – jetzt will er nicht länger schweigen.

Damit, dass er den Krieg überlebte, hatte er seinem Vater den größten Wunsch erfüllt. Der einzige Sohn sollte nicht sterben. Schon gar nicht in diesem Nazi-Krieg. Kohlmetz Vater Willi, ein Postbeamter, wählte immer SPD. Er hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht und keine Lust auf einen zweiten. Schon zu Schulzeiten ließ sich Fritz vom Sport befreien, der Vater hatte da Beziehungen. Günstig war die schlacksige Statur des Pennälers, seine herausragende Länge von 192 Zentimetern und die anämische Gesichtsfarbe. Als Fritz zur Hitlerjugend einberufen wurde, empfahl ihm Willi die „Motor-HJ“. Dort fing Kohlmetz junior an, Schwächeanfälle zu simulieren. Im Spätsommer 1942, Fritz war 17, wurde er zum Arbeitsdienst nach Westpreußen eingezogen. Weil er versucht hatte, sich der Einberufung zu entziehen, musste er gleich eine Strafübung leisten: Robben durch den Dreck. „Da bin ich dann wieder zusammengebrochen.“ Vater Willi besorgte inzwischen das Attest von Dr. Pitow aus Berlin. Der Lagerkommandant schickte Fritz aber trotzdem zur Untersuchung ins Krankenhaus nach Thorn. Das Ergebnis: Simulant.

Die Ausbilder erhielten die Anweisung: Den Kohlmetz besonders hart rannehmen! Fritz wurde schikaniert – und brach wieder zusammen. Die Lagerärztin wurde unsicher, doch der Kommandant beharrte auf der Aussage der Thorner Spezialisten. Ganz sicher war er sich aber auch nicht. Für den nächsten Tag war ein längerer Marsch geplant. Fritz durfte als Einziger mit dem Fahrrad nebenher fahren. Plötzlich kippte er so überzeugend aus dem Sattel, dass von Simulation erst mal keine Rede mehr ist.

Das Umkippen war anstrengend, sagt Fritz Kohlmetz. Mit dem Schwächeanfall fing die Simulation ja erst an. Stundenlang schwer atmen. Nie aus der Rolle fallen. Beim Arztgespräch genau überlegen, wo die Schmerzen sitzen und wo besser nicht. Die Angst bändigen, dass alles auffliegt. Der Tatbestand Simulation fiel im damaligen Kriegsrecht unter „Wehrkraftzersetzung“. Darauf stand im schlimmsten Fall der Tod. Vor den Kameraden, die ungeduldig auf den Einsatz warten, mimte Kohlmetz den Enttäuschten.

Nach dem Arbeitsdienst wurde er trotz seines Attests für wehrtauglich befunden und sollte Offizier werden. Fritz Kohlmetz kam in eine Kaserne nach Frankfurt (Oder). Schon beim Einweisungsappell fehlte Rekrut Kohlmetz, er wurde eine Stunde später schwer atmend auf dem Dachboden gefunden. Die gelungene Vorstellung samt Attest zeigte endlich die erwünschte Wirkung. Kohlmetz soll im befriedeten Hinterland eingesetzt werden. Er kam nach Strausberg. „Unsere Truppe bestand aus Schwächlingen wie mir, Versehrten und Älteren, die gerade eine Knarre halten konnten.“ Der nächste Einsatz war das große Los: Paris!

Kohlmetz überwachte an der Seine kriegswichtige Einrichtungen und lief Streife – ein relativ sorgenfreies Soldatenleben. Nur einmal im Vierteljahr wurde es kritisch: Tauglichkeitsuntersuchung. Vater Willi kannte den zuständigen Hauptfeldwebel. Kohlmetz wurde quasi durchgewunken, durfte in Paris bleiben.

Erst nach der Invasion der Alliierten in der Normandie wird seine Einheit in ein Schloss hinter den deutschen Linien verlegt. Kohlmetz freundet sich mit einem Kriegsgefangenen an, verhilft ihm zur Flucht, wird angezeigt. Das Kriegsgericht verurteilte ihn wegen fahrlässiger Gefangenenbefreiung zu vier Monaten Zuchthaus. Das bedeutete: Einsatz in einer Strafkompanie. Simulieren half nicht mehr. Kohlmetz legt Widerspruch ein. Am Prozesstag räumten die deutschen Soldaten aber gerade ihre Posten.

Wegen seiner Schwächeanfälle blieb Kohlmetz in der Etappe, doch die Front rückte immer näher. Im März 1945 saß er im Westfälischen mit einem Trupp Versprengter auf einem Bauernhof und wartete auf die Amerikaner. Einer von ihnen wollte kämpfen, faselte vom Endsieg, die anderen hat Kohlmetz überredet, sich zu ergeben. Bei der Bäuerin hatte er weiße Handtücher organisiert.

Als die US-Panzer am Gehöft vorbeirollten, feuerte der Endsieg-Soldat eine Granate ab. Ein Panzer drehte ab, nahm Kurs auf das Erdloch, in das der Angreifer geflüchtet ist und wühlte es mit einer Antriebskette zu. Kohlmetz sitzt 40 Meter weiter im nächsten Loch, bibbernd vor Angst. Doch der Panzer reiht sich wieder in die Kolonne ein. Als die Vorhut durch war, kam die kanadische Infanterie. Kohlmetz schwenkte sein Handtuch.

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