zum Hauptinhalt
Abstand und Mundschutz - neuer Alltag in Berlin.

© imago images/Emmanuele Contini

Die neue Normalität der Hauptstadt: Tränen, Trubel, Tatendrang – wie die Berliner gerade mit sich klar kommen

Eine Verkäuferin weint, die Imbissfrau macht Mut, eine Busfahrerin atmet auf und ein Roma-Junge lernt. Unterwegs mit Menschen im Gefühlschaos. Eine Reportage.

Die neue Normalität, von der Politiker sprechen, bringt Menschen zum Heulen. Samstagvormittag sind die Schlangen in Zehlendorf beim Obi-Baumarkt lang. Eine Verkäuferin läuft zu ihrem Kassenbereich an den wartenden Kunden vorbei, versucht, Abstand zu halten.

Da brüllt ein Mann sie an, vielleicht Ende 40, ohne Mundschutz: „Warum laufen Sie hier einfach lang?“ Sie: „Ich halte mich doch an die Vorschriften.“ Er: „Es geht hier um Menschenleben!“ Die Frau zittert, der Mann verschwindet wütend, sie zeigt mit dem Arm auf die Schlange: „Es ist schon wieder so voll. Wie soll ich das schaffen?“

Tränen laufen über ihr Gesicht. Sie versucht, sie wegzuwischen. Es funktioniert so wenig, wie das Ignorieren der Coronavirus-Pandemie funktionieren würde.

Vielen scheint in diesen Wochen zum Heulen zumute, nicht nur in Berlin. Die Situation, persönlich wie gesellschaftlich, ist diffus. Manchmal lebensbedrohlich oder existenziell. Immer ist die eigene Freiheit zugleich eine potenzielle Gefahr für die anderen. Auch wenn die Menschen oft artig Abstand halten, wirken sie ernst, und wenn sie Unmut haben, scheinen sie ihn nur zu verstecken.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Die Politik verkündet Lockerungen und neue Regeln zugleich, wie die Maskenpflicht. Was geöffnet oder gelockert wird, wird sofort von den Menschen vereinnahmt. Die Geschäfte, die Spielplätze, die Zoos… In der kommenden Woche werden weitere Lockerungen folgen: Friseure werden vermutlich im Akkord arbeiten, Busse und Bahnen fahren wieder nach Regelfahrplan, Museen und Ausstellungen dürfen öffnen, und Berlins Regierender Bürgermeister sagt, bald könnten sich auch Restaurants auf eine Wiedereröffnung einstellen. Andererseits hat der 1. Mai gezeigt, wie unvernünftig und fahrlässig Menschen mit den Abstandsregeln umgehen.

Schlange vor Sportcheck in der Schloßstraße
Schlange vor Sportcheck in der Schloßstraße

© ale

Kreuzbergs Bürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) spricht von einer „netten Coronaparty“ und ist empört von der „Antisolidarität mit den Risikogruppen“. Dürfen trotzdem bald, wie in Sachsen-Anhalt, fünf Leute draußen gemeinsam unterwegs sein?

Es ist nicht leicht, dem allem zu folgen, es zu verstehen und danach zu handeln. „Wenn alle anfangen, sich die eigenen Interpretationsspielräume auszulegen ganz frei, dann starten an vielen Orten plötzlich neue Infektionsketten“, sagt der Virologe Christian Drosten. Und deshalb ist auch diese immer wieder neue Normalität ein Patt von Angst und Sehnsucht, von Erleichterung und Anspannung.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]

Jedenfalls hat die gegenwärtig geltende neue Normalität dazu geführt, dass sich die Menschen nun die Einkaufsstraßen zurückerobert haben. Auf der Steglitzer Schloßstraße ist es gefühlt so voll wie vor der Pandemie. Autos fahren im Schritttempo dicht an dicht, Menschen drängeln auf dem Bürgersteig, allerdings nach den neuen Regeln. Die meisten tragen Maske, und vor den Geschäften warten die Leute an den Wartemarkierungen aus rot-schwarzem Flatterband.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Hinter diesen Fassaden der neuen Wirklichkeit herrscht oft Angst. Eine Betriebsrätin von H&M, einer bekannten Bekleidungskette, die es auch hier auf der Schloßstraße gibt, sagt am Telefon: „Die körperliche und psychische Belastung unserer Mitarbeiter ist riesig, der Druck enorm.“ Mitarbeiter seien per Einschreiben aufgefordert worden, wieder zur Arbeit zu kommen. Sie wussten nicht, ob ihre Gesundheit gefährdet ist, Nachfragen seien oft nicht beantwortet, stattdessen dezent darauf hingewiesen worden, dass man derzeit schnell neue Arbeitskräfte finde.

Die Betriebsrätin sagt: „Es geht wohl doch nicht um Menschen, sondern nur ums Geschäft.“

Bei den Betriebsräten klingelt jeden Tag das Telefon, und auch im Geschäft schlägt die scheinbar ruhige Stimmung beim Schlangestehen draußen ähnlich wie beim Baumarkt schnell um: „Viele werden aggressiv. Die können zum Beispiel nicht verstehen, dass wir die Umkleiden schließen mussten. Dann werden die Mitarbeiter angebrüllt.“

Muss auch Psychologin sein: Ramona Panier arbeitet im Imbiss "Zur Bratpfanne" in Steglitz. Den Betrieb gibt es seit 1949.
Muss auch Psychologin sein: Ramona Panier arbeitet im Imbiss "Zur Bratpfanne" in Steglitz. Den Betrieb gibt es seit 1949.

© ale

Der Verhaltenspsychologe Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim, erklärt: „Manche Dinge lernen wir jetzt sehr schnell, wir können gemeinsam Verhalten adaptieren.“ Dazu gehöre das Tragen von Masken, das Einhalten von Abstand. Andere Dinge wiederum sind so „fest in uns verdrahtet“, wie es Meyer-Lindenberg ausdrückt, dass man sich nie daran gewöhnen könne. Das Reglementieren von sozialen Kontakten gehöre dazu.

Ramona Panier kann die Bedeutung des Miteinanderseins bestätigen. Nicht weit vom Hermann-Ehlers-Platz in Steglitz arbeitet sie seit zwölf Jahren in einem der ältesten Imbisse der Stadt: „Zur Bratpfanne“. Seit 1949 gibt es das Unternehmen, und immer war es auch, wie Panier weiß, „eine soziale Institution im Kiez“. Der Imbiss sieht aus wie ein großer Wohnwagen mit Fensterfront und Esstresen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Die zierliche Frau, eine echte Berliner Pflanze, sagt: „Das Schwierigste war es, unseren Kunden immer wieder zu erklären, dass sie nicht wie sonst bei uns essen dürfen.“ Daran hätten sich vor allem die vielen Stammkunden einfach nicht gewöhnen wollen. Der Imbissbesuch ist wie ein Gang zu einem guten Freund. „Es geht ums Quatschen, sich treffen, Sorgen teilen.“ Panier sagt, man habe „Reiche wie Arme“ hier, aber alle, fügt sie an, hätten gerade das gleiche Bedürfnis danach, sich zu unterhalten. „Wir sind wie Psychologen.“

In der U-Bahn von Steglitz zum Zoo und dann rauf nach Reinickendorf tragen die Menschen ihre Masken, wenn es geht sitzen sie auch auf Abstand. Die neue Normalität wirkt hier gespenstisch und das Leben im öffentlichen Nahverkehr wie sediert. Oben auf dem Kurt-Schumacher-Platz in Reinickendorf ist es voll wie in Steglitz. Das Einzige, was auffallend anders ist, ist die Stille. Der Platz liegt kurz vor den beiden Lande- und Startbahnen des Flughafens Tegel.

[Behalten Sie den Überblick über die Corona-Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]

Tamara Nötzel, 36 Jahre alt, schaut in den Himmel und lacht: „Für mich macht es die Sache einfacher.“ Sie habe jetzt mehr Zeit, auch auf die Fahrgäste einzugehen. Sie ist Busfahrerin, meistens fährt sie die Linie 128, das ist die Linie zum Flughafen. Die neue Normalität, ab 1. Juni soll Tegel sogar auf Zeit geschlossen werden, beschert ihr viel Ruhe und die Gewissheit, pünktlicher und stressfreier als vor Corona ihre Route zu absolvieren. „Heute hatte ich vom Flughafen nur einen einzigen Gast, der ist aber vor Abfahrt weggeflogen.“ Es sei ein Spatz gewesen, der sich in ihren Bus verirrt hatte.

Tamara Nötzel ist Busfahrerin, sie fährt meistens die Linie 128 zum Flughafen Tegel. Die ist jetzt oft leer.
Tamara Nötzel ist Busfahrerin, sie fährt meistens die Linie 128 zum Flughafen Tegel. Die ist jetzt oft leer.

© ale

Der Verkehr rauscht am Kurt-Schumacher-Platz allerdings fast wie in normalen Zeiten, im Clou, dem Einkaufszentrum hier, stehen vor den Geschäften überall Menschen. Die Imbisse davor auf dem Platz sind geöffnet, es riecht nach Fett, auch die Spargel- und Erdbeerverkäufer sind wieder da. Tamara Nötzel, die hier oft ihre Pause macht, sagt zum wieder dichter werdenden Verkehr: „Jetzt ist es voll, das stimmt. Aber vor Corona war es katastrophal überfüllt.“

In ihrem Bus haben sich die Menschen mit ihren Koffern gedrängelt, geflucht, gestritten. Das war Alltag. Die alleinerziehende Mutter mag ihren Beruf, und sie mag Menschen; aber so wie es vor Corona auf den Straßen und im Bus war, sei es manchmal nur „schwer zu ertragen“ gewesen. Jetzt, sagt sie, winken manche Leute sogar und „begrüßen mich mit Daumen hoch“. Die Menschen seien „rücksichtsvoller und höflicher, und es stört sich auch niemand an der Plastikabgrenzung im Fahrerbereich.“

Manchmal geht es auch klar und einfach...
Manchmal geht es auch klar und einfach...

© ale

Die, die sich am meisten über Gespräche freuten, hatte Tamara Nötzel noch gesagt, bevor sie wieder in ihren Bus gestiegen war, seien die älteren Leute. Auf dem Weg durch die Stadt scheint es fast so, als seien sie eine verschwindend kleine Minderheit. Am Zoologischen Garten vor der Gedächtniskirche hocken eher Jugendliche oder junge Paare, im Bikini-Haus essen keine älteren Leute Eis, und am Tauentzien Richtung KaDeWe stehen eher Menschen zwischen 20 und 50 vor den Geschäften. 20 Prozent der Bevölkerung sind über 65 Jahre alt – Tendenz steigend.

Die neue Normalität bringt auch viele Berliner Senioren an ihre Grenzen. Anita Weise kann das beurteilen, sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren beim Berliner Seniorentelefon, ein ehrenamtliches Projekt des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg. Die Idee des Seniorentelefons, das es seit 1993 gibt, ist keine Not-Hotline, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Anita Weise sagt: „Schon zu normalen Zeiten wissen viele Menschen nicht, wo sie sich informieren können, sie schämen sich aber, dies zuzugeben. Oder sie können nirgendwo hin, weil sie körperlich eingeschränkt sind.“

So wie auf der Wiese im Görlitzer Park sieht es derzeit bei schönem Wetter wieder überall in den Grünanlagen Berlins aus.
So wie auf der Wiese im Görlitzer Park sieht es derzeit bei schönem Wetter wieder überall in den Grünanlagen Berlins aus.

© Imago

Hier hilft das Seniorentelefon, vor allem ist es eine Chance für viele Anrufer, meist ab 70 Jahren aufwärts, dass ihnen wirklich zugehört wird. „Das allein beruhigt viele schon.“ Die Alten, sagt Weise, seien „sehr einsam“. Das Bedürfnis der Senioren, sich wieder im Seniorenklub treffen zu können oder sich ins Café setzen zu dürfen, sei groß, genauso groß aber sei die Angst vor Ansteckung. Auch die älteren Menschen sind wie alle anderen hin- und hergerissen von den täglich neuen Situationen und Regeländerungen. Anita Weise sagt, im Zweifel bleiben die Senioren lieber freiwillig zu Hause.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]

Sie seien, obwohl viele allein sind, besser darin, sich an Regeln zu halten. Vielleicht halten sie auch mehr aus, weil sie schon so viel mehr erlebt haben. Die Zahl der Anrufe im Vergleich zum Vorjahreszeitraum habe jedenfalls „massiv zugenommen“.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Vernunft und Eigenkontrolle haben Grenzen bei allen. Die Regeln, die allen auferlegt werden, das ständige Diskutieren und Infragestellen, führe unweigerlich zu psychischem Stress, sagt Verhaltenspsychologe Andreas Meyer-Lindenberg.

Je weniger man Regeln verstehen könne, desto größer ist der Stressfaktor. Und je länger eine schwierige Situation andauert, desto schwieriger werde es, sie emotional auszuhalten. Körperliche oder seelische Schäden sind dann die Regel. Sollten zwischenzeitlich wiedererlangte Freiheiten sogar zurückgenommen werden, weil etwa das Infektionsgeschehen steige, dann „ist das für die Menschen nur sehr, sehr schwer auszuhalten“. Aggression und Gewalt werden dann zunehmen.

David ist 21 Jahre, Roma, und lebt mit seiner Familie in einem Plattenbau in Friedrichshain. "Wir bleiben jetzt immer in unserem Kiez", sagt er.
David ist 21 Jahre, Roma, und lebt mit seiner Familie in einem Plattenbau in Friedrichshain. "Wir bleiben jetzt immer in unserem Kiez", sagt er.

© ale

In Schöneberg, zwischen Nollendorfplatz und Winterfeldtplatz, ist keine einzige Bank mit weniger als drei Leuten besetzt, Obdachlose, Familien, Jugendliche – alle finden einen Platz. Auf dem Winterfeldtplatz fahren wie eh und je alte und junge Skater, ein Hund kackt an einen Baum, ein Kind pinkelt an den nächsten, um die Ecke, in der Pallasstraße sitzen vor allem türkische Frauen und Mädchen gemeinsam auf den Bänken, die Kinder wuseln drumherum. Auch hier sind wie überall soziale Einrichtungen geschlossen oder nur per Telefon oder Internet erreichbar.

Früher war der Kiez sozialer Brennpunkt und Kriminalitätsschwerpunkt, das Pallasseum – der denkmalgeschützte Wohnblock mit Spitznamen „Sozialpalast“ – sowieso. Heute wiederum haben die Verantwortlichen für das stadtweite Quartiersmanagement beschlossen, dass es dieses aufgrund der positiven Entwicklung bald nicht mehr brauche. Die Quartiersmanager hier, die jetzt kaum noch mit Leuten in Kontakt kommen, fürchten, dass die Pandemie diese Entwicklung wieder zunichte mache.

Noch verhalten sich die Menschen friedlich, aber in die oft beengten Wohnverhältnisse können Sozialarbeiter nicht schauen. Vor ein paar Tagen haben Jugendliche aus dem Kiez die Galerie, die wie das Wohnhaus die Straße überbrückt, komplett mit Graffiti besprüht. Für die Quartiersmanager war das ein Zeichen dafür, dass da etwas raus musste, ein Ventil gebraucht wurde für aufgestaute Energien. Einen solchen illegalen Akt der Provokation hatte es seit Jahren nicht mehr gegeben. Ein Sozialarbeiter findet: „Besser Graffiti als Gewalt.“

Die Streetworker von Gangway. Ali, Berit und Lulu (v.l.n.r.) in Friedrichshain.
Die Streetworker von Gangway. Ali, Berit und Lulu (v.l.n.r.) in Friedrichshain.

© ale

In Friedrichshain, in der Nähe des Ostbahnhofs und dem legendären Berghain-Klub, steht David, 21 Jahre alt. Er kommt aus einer Roma-Familie und wohnt mit anderen Roma in einem nahen Plattenbau. 400 Angehörige der ethnischen Minderheit leben hier, viele mit zehn und mehr Angehörigen. David macht eine Ausbildung zum sozialpädagogischen Assistenten, er ist in seiner Siedlung ein Vorbild.

Er und die anderen Jugendlichen haben vereinbart, dass sie zwar auch rausgehen und das auch in größeren Gruppen – „aber niemand verlässt den Kiez, wir bleiben hier.“ Das ist ihr Deal, um mit der Situation klarzukommen. Hier kennen sie sich aus, haben so etwas wie Kontrolle über ihr Leben.

Mit der Polizei diskutieren sie, aber bisher sei immer alles okay gewesen. Sie spielen draußen Fußball-Tennis oder Karten „und natürlich zocken wir ziemlich viel.“ Dass die Polizei hier noch keinen einzigen Verweis ausgesprochen hat, liegt wohl auch an der Straßensozialarbeit von Gangway. Gerade dreht das Team Friedrichshain, Lulu, Berit und Ali, ihre Runde durch die Straßen. David kennen sie gut. Er ist auch sehr traurig, weil sie gemeinsam „so viele Aktionen geplant hatten“: ein Straßenfest, eine Reise. David sagt: „Ich vermisse das.“ Wenn er seine Ausbildung beendet hat, wird er vielleicht auch für Gangway arbeiten.

Ali, Lulu und Berit wissen, wo hier das größte Problem liegt: bei der Schule. Viele Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien kämen nicht klar, haben keine Laptops, Eltern können oft nicht helfen, und viele hätten ihre Lehrer seit Wochen nicht mehr gesehen oder gesprochen. Stattdessen sind Fake News und Verschwörungstheorien massiv verbreitet.

Lulu sagt: „Wir müssen aufklären, Informationen geben, begreiflich machen, was überhaupt eine seriöse Quelle ist. Wir warnen, dass die nicht alles glauben sollen, was zum Beispiel auf Instagram steht.“ Einmal hieß es, am nächsten Tag würden alle Supermärkte geschlossen, sofort wurden eifrig Einkäufe gemacht.

Die neue Normalität existiert in Wirklichkeit gar nicht. Nur der Wunsch nach Normalem.

Hinterm Berghain und vorbei am Wriezener Freilandlabor, eine Grünanlage für Open Gardening und mit Mountainbikeparkour, steht ein Fußballkäfig und eine Skateranlage. Im Käfig schwitzen sechs Männer beim Kicken, drumherum stehen Familien, Freunde, spielen Kinder, wird geraucht und Bier getrunken. Gerade hat es in Strömen geregnet, kaum ist die Sonne wieder da, ist alles voller Leben. Die Polizei steht oben an der Treppe. Und schaut zu.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false