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Dodi Reifenberg

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Jäger der Nazi-Raubkunst: Wie ein Mann die Erinnerung an seine Vorfahren rettet

Ihrer Kunst beraubt, ermordet, vergessen – eine ungewöhnliche Forschergruppe sucht nach Spuren der von den Nazis verfolgten Familie Sachs-Ginsberg.

Wenn Dodi Reifenberg mit dem Fahrrad durch die Stadt fährt oder spazieren geht, dann nimmt er an vielen Stellen zweierlei wahr. Zunächst sieht er wie jeder andere diese oder jene Straße, auf der er sich gerade befindet, mit ihren Häusern, Gehwegen, Geschäften. Zugleich nimmt der seit 1988 in Berlin lebende israelische Künstler dahinter verborgen Gebäude wahr, die nicht mehr existieren. Zum Beispiel nahe dem Potsdamer Platz, wo vor der Staatsbibliothek die berühmte Kaiserplatane steht, die 1858 aus Anlass der Hochzeit von Kronprinz Friedrich-Wilhelm mit Prinzessin Victoria am Rande eines neuen Villenviertels gepflanzt wurde.

Genau auf sie zu verlief einst die Viktoriastraße, an der sich die Villa von Dodis Ururgroßeltern befand, vis-à-vis der Platane. Es gibt alte Aufnahmen, da ragen die Zweige der Platane noch in die Ansicht hinein. Ein prachtvolles Haus muss es gewesen sein, erbaut von Friedrich Hitzig mit Freitreppe, Loggia, mehreren Salons und zahlreichen Zimmern, in denen der Fabrikbesitzer Adolph Ginsberg mit seiner Frau Franziska und ihren sechs Kindern wohnte. Die Jüngere der beiden Töchter ist Reifenbergs Urgroßmutter.

Auch 75 Jahre nach dem Krieg wirkt die Nazi-Zeit nach

„In meiner Imagination steht das Haus wieder da“, sagt Reifenberg unter der Platane stehend, mit Blick auf einen kümmerlichen Grünstreifen zwischen zwei dreispurigen Fahrbahnen. Heute erinnert nichts mehr daran. Im Krieg wurde die Villa zerstört, später die Potsdamer Straße quer über das Grundstück verlegt. „Warum konnten die alliierten Bomber stattdessen nicht mehr NS-Bauten treffen?“, fragt er kopfschüttelnd. Auch die Spuren der Familie sind getilgt, einen Stolperstein sucht man vergebens.

Als seine Großtante Gabriele Tergit 1982 in London verstarb, erhielt Dodi Reifenberg ins Exil gerettete Fotografien von Häusern der Familie. Tergits Ehemann, der Architekt Heinz Reifenberg, hatte sie für die Verwandten entworfen oder umgestaltet. Da häufig auf der Rückseite der Fotografien die Namen der konkreten Besitzer nicht genannt sind, muss nun rekonstruiert werden, wer genau die einstigen Bewohner waren. Heute liefern die Aufnahmen der Interieurs wichtige Hinweise, welche Kunst sich in den Häusern befand und nach 1933 verloren ging.
Als seine Großtante Gabriele Tergit 1982 in London verstarb, erhielt Dodi Reifenberg ins Exil gerettete Fotografien von Häusern der Familie. Tergits Ehemann, der Architekt Heinz Reifenberg, hatte sie für die Verwandten entworfen oder umgestaltet. Da häufig auf der Rückseite der Fotografien die Namen der konkreten Besitzer nicht genannt sind, muss nun rekonstruiert werden, wer genau die einstigen Bewohner waren. Heute liefern die Aufnahmen der Interieurs wichtige Hinweise, welche Kunst sich in den Häusern befand und nach 1933 verloren ging.

© privat

Dabei gehörten die Vorfahren von Dodi Reifenberg einst zu den bedeutendsten Familien Berlins, viele ihrer Mitglieder haben sich um die Stadt und die Kunst verdient gemacht. Heute zeigt ihre Geschichte beispielhaft, wie viele Nachwirkungen des Nationalsozialismus auch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht aufgearbeitet sind – und welche Dimensionen das Thema NS-Raubkunst jenseits bekannter Fälle wie desjenigen des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt hat. Aus der Familie Sachs-Ginsberg konnten sich nur wenige vor den Nationalsozialisten retten, darunter Alice Ginsberg, die ältere Tochter Ludwig Ginsbergs. Ihre Schwester wurde im Konzentrationslager ermordet.

Die Villa am Bellevue Park

Nicht sehr weit entfernt, bei der Akademie der Künste, wiederholt sich für Dodi Reifenberg die Szene. Dort sieht er zwar real den kantigen Düttmann-Bau aus Beton und Backstein, gleichzeitig die gewaltige Villa Augusta mit ihren Erkern und Simsen. Zum Bellevue-Park öffnete sich ein 50 Quadratmeter großer Salon. Hier lebte Franziska Ginsbergs Bruder Louis Sachs mit seiner Frau Rosa, die ein offenes großbürgerliches Haus für Künstler, Schriftsteller, Intellektuelle führten.

Sachs war Banker, wirkte 25 Jahre lang als Stadtverordneter und leitete die Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde. Der Philanthrop kümmerte sich mit einem eigenen Büro um die aus Osteuropa nach Berlin einströmenden jüdischen Emigranten und stiftete das Jüdische Erholungsheim in Lehnitz. Das Wochenende aber gehörte der Familie. Man besuchte sich gegenseitig in seinen Villen, hin und her durch den Tiergarten: sonntags zum Mittagessen, zu Hauskonzerten, Tanztees für den Nachwuchs.

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Auch in der Villa Augusta endete das unbeschwerte Familienleben abrupt mit der Machtübernahme. Als Speer seine Pläne für die „Entjudung“ einzelner Stadtviertel entwickelte, darunter auch das Hansaviertel, übernahm die Lloyd-Versicherung das Haus. Kurz vor deren Einzug 1938 verstarb Rosa Sachs als letzte Bewohnerin hochbetagt in ihrem Heim. Wie in der Viktoriastraße überstand das große Haus nicht den Krieg. Das geräumte Grundstück in der einstigen Brückenallee 1 wurde halb der Akademie, halb dem Englischen Garten zugeschlagen. Ungefähr dort, wo die Villa stand, erstreckt sich heute der gepflasterte Akademievorplatz und wachsen Sträucher.

Besucht man mit Dodi Reifenberg die verschiedenen Orte in der Stadt, die sich mit seiner Familie verknüpfen – das Jüdische Krankenhaus in Wedding, zu dessen Mitbegründern Louis Sachs gehörte, die Volkshochschule Weißensee, in der sich ursprünglich die ebenfalls von Sachs finanzierte Israelitische Taubstummenanstalt befand –, dann erfüllt ihn sichtlich Stolz. Zugleich schwingt Ungläubigkeit mit: dass vergessen sein soll, was die Familie für die Stadt leistete, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielte.

Das Jüdische Krankenhaus in Wedding geht unter anderem auf Louis Sachs zurück.
Das Jüdische Krankenhaus in Wedding geht unter anderem auf Louis Sachs zurück.

© Nicola Kuhn

Würdigung ist eine Frage der Ehre

Wenig später erlebt er im Jüdischen Krankenhaus eine Überraschung. Auf der großen Tafel im Entree mit der Chronik des Krankenhauses findet er seinen Ururgroßonkel Louis Sachs doch erwähnt – wenn auch nur für seine Verdienste um die 1893 gegründete Schwesternschaft. „Dabei war er Vorstandsvorsitzender des Jüdischen Krankenhauses und hat durch seine Position in der Jüdischen Gemeinde den Bau ermöglicht“, ärgert sich Reifenberg. Für ihn ist die Würdigung mittlerweile eine Frage der Ehre. Höchste Zeit, dass sich etwas ändert.

Bis vor gar nicht langer Zeit wusste er allerdings selbst nicht viel von seinen Berliner Verwandten. Obwohl Reifenberg schon lange als Künstler in der Stadt lebt – gerade stellt er im Willy-Brandt-Haus aus –, hat ihn die Geschichte der Familie bislang wenig interessiert. Die komplizierten verwandtschaftlichen Beziehungen der beiden Stämme, die gleich dreifach miteinander verschwägert waren, musste er für sich erst einmal rekonstruieren. Wer Neffe, wer Cousin ist, geht manchmal heute noch durcheinander.

"Da hatte ich nur Sex, Drugs and Rock'n'Roll im Sinn"

Bis 1933 lebten rund 45 Mitglieder der Familie Sachs-Ginsberg in Berlin. Wenn Dodi Reifenberg auf dem Boden seines Moabiter Ateliers die große Rolle mit dem Stammbaum ausbreitet, dann sind viele Namen mit einem Judenstern gekennzeichnet. Sie überlebten den Holocaust nicht. Von vielen erfuhr er erst in jüngster Zeit, denn als er in den 80ern vor seinem Umzug nach Berlin in London lebte und ihm seine Tante von den Vorfahren erzählen wollte, „da hatte ich nur Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll im Sinn“, macht sich der heute 60-Jährige Vorwürfe.

Auf der Spur der drei Sammlungen

Welche Bedeutung seine Familie für Berlin besaß, erfuhr Reifenberg zum ersten Mal vor wenigen Jahren, als er sich den im Londoner Exil vollendeten Generationenroman „Effingers“ seiner Großtante Gabriele Tergit vornahm. Zuvor hatte er sich das Lesen des 900-Seiten-Werks wegen mangelnder Deutschkenntnisse nicht zugetraut. Es wurde zur Offenbarung. Tergit, in der Weimarer Republik berühmt als Gerichtsreporterin und für ihren Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, schildert in „Effingers“ die Geschichte einer jüdischen Familie in Berlin von 1878 bis 1948 – ein literarisches Denkmal für die Familie ihres Ehemannes, des Architekten Heinz Reifenberg.

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Als Dodi beim nächsten Besuch in Israel seinen Cousins von dieser Entdeckung berichtete, sprang der Funke über. Die Familie gab ihm das Mandat, und die Suche nach verwandtschaftlichen Spuren in der Stadt wurde zu seinem größten Projekt neben der Kunst. Im Zentrum der Recherche stehen drei Familienmitglieder, die sich als Sammler hervorgetan haben: seine beiden Urgroßonkel Max und Ludwig Ginsberg sowie deren Großneffe Herbert.

Gemeinsam führten sie als Gesellschafter seit der Jahrhundertwende bis zu seiner Arisierung das 1866 gegründete Bankhaus Gebrüder Ginsberg. Der eine sammelte islamische Kunst, der andere Menzel-Grafiken, der Dritte Ostasiatika. Von allen drei Sammlungen verliert sich die Spur im „Dritten Reich“, ein klassischer Fall von NS-Raubkunst.

Die Schatzsucher

Reifenberg befeuerte nicht nur die Neugierde auf die eigene Geschichte, drei außergewöhnliche Sammlungen, sondern auch die zufällige Begegnung auf einer Party mit der Juristin, Filmemacherin und Autorin Julia Albrecht, die sich schon lange mit NS-Raubkunst beschäftigt. Von den wachsenden Aufgaben seines Vorhabens überfordert, eröffneten sich durch diese Bekanntschaft neue Perspektiven.

Dodi Reifenberg und Julia Albrecht
Dodi Reifenberg und Julia Albrecht

© Kitty Kleist-Heinrich

„Es war, als ob ich zu jemandem gesagt hätte, ich habe hier eine Schatzkarte. Lass uns gemeinsam den Schatz finden.“ Aus zwei wurden im Laufe der Zeit drei, vier, fünf Mitsuchende: eine Juristin, zwei Kunsthistorikerinnen, eine Historikerin und ein Literaturwissenschaftler, die sich alle auf Provenienzforschung spezialisiert haben. Heute scharen sie sich als feste Gruppe um Reifenberg. Viele stießen wie Julia Albrecht durch glückliche Fügung hinzu, einen Tipp, alte Bekanntschaft oder Zufall. Das macht die Truppe anders als manch anderes Rechercheteam. Ihr Projekt wird getragen von gegenseitiger Sympathie, vor allem dem Wunsch, Reifenberg zu helfen, dessen übersprudelnder Eifer ansteckend wirkt.

Fester Zeitplan, präzise Kostenabrechnung

Und doch steckt Systematik und nüchterne Forscherarbeit dahinter. Es gibt einen festen Zeitplan, genaue Kostenabrechnungen, präzise Arbeitsvorgaben. Denn Reifenbergs Suche wird mit zwei Projektanträgen vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg finanziell unterstützt. Er ist die zweite Privatperson überhaupt, die für ein Vorhaben öffentliche Mittel erhält. Bislang bekamen nur Museen eine Förderung, um NS-Raubkunst in ihren Sammlungen aufzuspüren und möglichst zu restituieren. Doch der Auftrag der von der Kulturstaatsministerin unterhaltenen Stiftung war schon bei ihrer Gründung 2015 weitergedacht.

Damals wurden die Mittel rapide aufgestockt, als durch Auftauchen der Sammlung des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt öffentliches Bewusstsein für Raubkunst erwachte, die in den Depots der Museen schlummert oder offen an den Wänden hängt. Hermann Simon, Gründungsdirektor des Centrum Judaicum und im Förderbeirat des Deutschen Zentrums, forderte von Anfang an: Denkt nicht nur an die Gurlitts, sondern auch die Opfer, die Nachfahren der Erben.

Museen haben den größten Anteil

Inzwischen hat sich die Zahl der privaten Zuwendungsempfänger deutlich erhöht, 19 insgesamt, seit 2017 die Förderrichtlinien erweitert wurden. Nach wie vor bilden die Museen den größten Anteil, zwei Drittel der Anträge werden von Institutionen gestellt. Eine Umkehrung würde Uwe Hartmann, Leiter des Fachbereichs Provenienzforschung beim Deutschen Zentrum, auch nicht gutheißen: „Dort gibt es noch zu viele weiße Flecken“, sagt er. „Es besteht eine moralische Verpflichtung.“

Zur Enttäuschung von Hartmann haben sich bis heute weder Privatsammler, die die obskure Herkunft ihrer Schätze klären wollen, noch Erben, die vor unrechtmäßig erworbenen Stücken zurückschrecken, gemeldet. Kein Wunder: Bisher gilt bei Privatpersonen das Prinzip der Freiwilligkeit, zur Abgabe kann niemand gezwungen werden. Diese Verpflichtung besteht nur für öffentliche Sammlungen. Erst ein entsprechendes Gesetz, das im Zuge der Gurlitt-Ermittlungen diskutiert wurde, würde für Bewegung und mehr Transparenz sorgen.

1,9 Millionen für 25 Projekte

So befanden sich bei der jüngsten Antragsrunde im vergangenen Herbst, bei der vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste 1,9 Millionen Euro für 25 Projekte vergeben wurden (2019 insgesamt: vier Millionen Euro), unter den privaten Antragstellern wieder nur die Nachfahren NS-Verfolgter. Den Zuschlag bekamen neben Reifenberg außerdem Ralf von Jacobs für die Sammlung August und Serena Lederer sowie zwei Berliner Rechtsanwälte für die Sammlung Robert Graetz.

Von den 19 privaten Projekten, die insgesamt bisher eine Förderung vom Deutsche Zentrum bekommen haben, werden nur sechs direkt mit den Privatpersonen abgewickelt. Die anderen scheuten die Formalitäten für die Antragsstellung, den bürokratischen Aufwand. Sie schlossen sich einer Institution an wie Dodi Reifenberg, der mit einem seiner beiden geförderten Forschungsvorhaben dem auf Raubkunst spezialisierten TU-Lehrstuhl von Bénédicte Savoy angegliedert ist.

Das Geld wird verteilt

In Magdeburg war man vom Antrag für Herbert Ginsberg sofort angetan, denn der Großneffe des Sammlers brachte einen vom Besitzer noch selbst gestalteten Katalog mit rund 500 Nummern von japanischen Netsukes und Masken, Holzskulpturen, Teppichen und Lackarbeiten bis zu Gewändern und Bronzen mit. Der dreibändige Katalog war vor anderthalb Jahren wieder aufgetaucht und veränderte komplett die Grundlage für das Forschungsprojekt. Hier gab es etwas zu greifen, wenn auch nur auf Papier, etwas Konkretes zu recherchieren.

Für die Vertreter des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste war dieses Vorhaben auch deshalb so elektrisierend, weil von Herbert Ginsberg, der bis zu seiner Flucht in die Niederlande 14 Jahre lang zur Expertenkommission des Museums für Ostasiatische Kunst gehörte, außerdem Gründungsmitglied und Schatzmeister des Fördervereins war, keiner mehr Kenntnis besaß. Wie schon der vorherige Antrag für Ludwig Ginsberg, der mit mehreren Hundert Blatt die größte Privatkollektion mit Menzel-Grafik besaß, wurde auch dieser Antrag sogleich genehmigt.

Rückgewinnung vergessener Biografien

Mit den beiden Forschungsaufträgen zu Herbert und Ludwig Ginsberg verbindet sich nicht nur die Rekonstruktion und möglichst Entdeckung zweier verschollener Sammlungen, von denen nach dem Krieg nur eine Kiste mit Ostasiatika auf einem Dachboden in Holland und die eine oder andere Menzel-Grafik in Museen aufgetaucht war, sondern auch die Rückgewinnung vergessener Biografien. Die großen Sammlernamen wie von dem Mäzen James Simon oder Verleger Rudolf Mosse sind inzwischen bekannt, von der zweiten, dritten Garde, die wie die Ginsbergs aber das Gesamtbild prägten, weiß heute kaum jemand mehr.

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Dodi Reifenberg beschreibt sein Projekt als großes Puzzle. Nach drei Jahren intensiver Recherche formt sich inzwischen ein Drittel. „Vielleicht werden es einmal zwei Drittel sein, vollständig wird es nie“, sagt der Künstler mit Bedauern und berichtet lieber von seinem Treffen mit einer Vertreterin des Aby-Warburg-Instituts in Hamburg eine Woche zuvor. Sie vermutet, dass zwischen den Ginsbergs und dem berühmten Kunsthistoriker eine verwandtschaftliche Beziehung bestehen könnte, sollten die Gebrüder auch in Moskau eine Filiale des Bankhauses unterhalten haben. „Dann würden wir in Hamburg auf neue Quellen stoßen“, macht sich Reifenberg Hoffnung auf weitere Dokumente.

In Plastiktüten nachgebildet

Wann immer sich das Forscherteam um Dodi Reifenberg alle paar Wochen in seinem Dachatelier in Moabit unter dem Bild von Louis Sachs trifft, das der Künstler in der für ihn typischen Technik aus Plastiktüten nachgebildet hat, gehen die Berichte von neuesten Entdeckungen in den Archiven hin und her. Am weitesten ist die Kunsthistorikerin Pauline Hanson mit Ludwig Ginsbergs Menzel-Sammlung gekommen, von der ein eigener Auktionskatalog aus dem Jahr 1930 existiert. Ein wichtiges Dokument, von dem ausgehend weitergefahndet werden kann.

Pauline Hanson
Pauline Hanson

© Kitty Kleist-Heinrich

Ginsberg musste sich damals offensichtlich wegen der Weltwirtschaftskrise von einem ganzen Block seiner Werke trennen. 71 Lots mit etwa 150 Einzelblättern, Mappen, Büchern und Autografen wurden nicht versteigert und gingen an ihn zurück, wie sich durch einen Bericht der Zeitschrift „Weltkunst“ rekonstruieren lässt – ein wichtiger Befund für die Weiterverfolgung. 1935 gab Ginsberg nochmals große Teile seiner Sammlung in eine Auktion, 120 Lots insgesamt – diesmal ganz offensichtlich unter Zwang, um die Reichsfluchtsteuer für sich und seine beiden Töchter zahlen zu können.

Ein verzweifelter Briefwechsel

Wie verzweifelt der schwer kranke Mann gewesen sein muss, geht aus seinem Briefwechsel mit dem Geigenvirtuosen Bronislaw Huberman hervor, den er in besseren Zeiten gefördert hatte. Die ältere seiner zwei Töchter konnte zum Studium noch nach England ausreisen, die geistig eingeschränkte Jüngere blieb in Berlin und zog nach dem Tod des Vaters 1939 mit ihrer Betreuerin in eine kleine Wohnung in der Barbarossastraße. 1942 wurde sie deportiert und in Riga ermordet. Ihre große Schwester Alice verstarb 2000 in London. Als Erbe setzte sie das Royal Institute of Blind People (RNIB) ein, von einer Kunstsammlung ist in ihrem Testament keine Rede mehr.

Natürlich könnte es jetzt für die Nachfahren kompliziert werden, denn schon sind im Berliner Kupferstichkabinett und im Dürener Leopold-Hoesch-Museum die ersten Menzel-Blätter der Ginsberg-Sammlung aufgetaucht, die nach 1933 offensichtlich unter Zwang verkauft wurden und deshalb restituiert gehören. Noch hat Dodi Reifenberg mit der Londoner Blindengesellschaft keinen Kontakt aufgenommen, an einem Rechtsstreit ist er weder mit der Institution noch der restlichen Familie interessiert, die heute auf Israel, Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten verstreut ist. Der Schatz, den er heben möchte, ist die Familiengeschichte, ihr will er ein Denkmal setzen – ob in Form einer Gedenkstele, eines Buches, einer Ausstellung oder eines Films, den Julia Albrecht bereits vorbereitet.

Der Großneffe suchte seine Sammlung

Die Regisseurin möchte darin vor allem den politischen Aspekt berücksichtigt wissen. Zornig wird sie, wenn sie an Herbert Ginsberg denkt, den Großneffen von Ludwig Ginsberg, der den Holocaust überlebte. Er versuchte vergeblich, von New York aus in der Nachkriegszeit durch offizielle Anfragen seine Sammlung wiederzufinden: ob bei den Behörden in München oder Leopold Reidemeister in Berlin, der in der Vorkriegszeit als Kustos bei der Ostasiatischen Abteilung gearbeitet hatte und 1957 von Köln nun als Generaldirektor der Staatlichen Museen in West-Berlin zurückberufen wurde.

Auskunft konnte oder wollte ihm niemand geben. Herbert Ginsberg war sich damals sicher, dass seine noch im holländischen Exil einem Banker anvertraute Sammlung durch die Nationalsozialisten nach Berlin zurückgebracht worden war. Darin irrte er sich zwar womöglich, wie TU-Absolventin Laura-Marijke Hecker in ihrer Masterarbeit über Herbert Ginsbergs Wiedergutmachungsakte herausgefunden hat. Zusammen mit ihrer Mentorin Christine Howald, die inzwischen beim Museum für Asiatische Kunst als Provenienzforscherin arbeitet, gehört sie ebenfalls zum Team um Dodi Reifenberg und recherchiert nun mit Unterstützung des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste weiter nach dem Verbleib der Sammlung. Ihr Fokus ist gleichzeitig auf die Umstände des Raubs während der deutschen Besatzung in Holland gerichtet und darauf, welche Rolle der Kunsthandel damals spielte.

Christine Howald und Laura-Marijke Hecker
Christine Howald und Laura-Marijke Hecker

© Kitty Kleist-Heinrich

Dodi Reifenberg grollt

Die Filmemacherin Julia Albrecht aber macht vor allem wütend, dass zeitgleich mit Ginsbergs abgeschmetterten Anfragen Baldur von Schirachs Witwe ihre sichergestellte Sammlung von den Behörden offensichtlich ohne größere Bedenken zurückerhielt. Und das obwohl sich Raubkunst in der Kollektion des einstigen Wiener NS-Reichsstatthalters befunden haben muss. Genauer nachgeprüft wurde das nicht. Auch Dodi Reifenberg grollt und träumt von Objekten, die sich im Depot des Museums für Asiatische Kunst unter jenen Beständen befinden könnten, die in der Nachkriegszeit von der russischen Armee erst als Beutekunst ausgeführt und dann wieder nach Deutschland zurückgegeben wurden.

Islamische Kunst

Die Hoffnung auf einen solch spektakulären Fund könnte sich auch Helmuth Braun machen, ebenfalls Mitglied des Forscherteams.

Helmuth Braun fahndet im Hauptarchiv der Staatlichen Museen in Akten nach Max Ginsberg, dessen Sammlung zuletzt 1933 im Museum für Islamische Kunst zu sehen waren.
Helmuth Braun fahndet im Hauptarchiv der Staatlichen Museen in Akten nach Max Ginsberg, dessen Sammlung zuletzt 1933 im Museum für Islamische Kunst zu sehen waren.

© Kitty Kleist-Heinrich

Der frühere Ausstellungsleiter des Jüdischen Museums hat sich die Sammlung von Max Ginsberg vorgenommen, Ludwigs Bruder und zusammen mit Herbert einer der drei Gesellschafter der Familienbank. Max hatte sich auf islamische Kunst spezialisiert. Dazu dürfte ihn ein Onkel seiner Frau Henriette animiert haben, der Forschungsreisende und Fotograf Hermann Burchardt, den er vermutlich begleitete und dessen außergewöhnliche Fotosammlung er später dem Ethnologischen Museum übergab. Wie Ludwig und Herbert wird auch er 1929 in dem Aufsatz „Der Berliner Kaufmann als Kunstfreund“ des Kunstkritikers Adolph Donath erwähnt. Im Frühjahr 1933 beteiligt er sich an einer Sammlerausstellung im Museum für Islamische Kunst und erhält laut einer Liste die aufgeführten Stücke wieder zurück.

Den Söhnen gelingt die Flucht

Das war es auch schon. Von seiner rund 400 Objekte umfassenden Kollektion mit orientalischem Glas, Fayencen und Keramik zeugt heute nur noch eine Fotografie aus der Ausstellung von 1933. Seine Stücke waren also den Nationalsozialisten bekannt, der Rest lässt sich denken. Fortan war die Sammlung wie vom Erdboden verschwunden. Vier Jahre später gibt Max Ginsberg einige Teppiche und wichtige Bücher zur Islamkunst in den Handel, vermutlich um Geld für die Ausreise aufzutreiben. Im folgenden Frühjahr verstirbt er an Krebs. Seine Frau Henriette, die Tochter und ihr Schwiegersohn werden deportiert und 1943 ermordet, den beiden Söhnen gelingt die Flucht in die USA. Obwohl es nur wenig Material gibt, verfolgt auch Braun hartnäckig die Spur der dritten Ginsberg-Sammlung und könnte sich ebenfalls vorstellen, beim Zentrum für Kulturgutverluste einen Antrag auf Unterstützung zu stellen.

Chancen hätte er gewiss. Auch Max Ginsberg verkörpert jenen Typus des jüdischen Sammlers, wohlhabend, gebildet, sozial engagiert, der für die Kunst brennt. Langsam kristallisiert sich das Bild einer großen jüdischen Familie, dreier Sammlungen heraus. Das Schweigen über die Vergangenheit, das Dodi Reifenberg auch in Haifa erlebte – ob aus Kummer oder dem Wunsch nach einem Neubeginn –, ist zu Hause längst gebrochen. „Die Erinnerung ist im Judentum doch zentral“, sagt er. „Schon in der Bibel.“ Mit seinem Forschungsprojekt gibt er nicht nur sich selbst, sondern auch Berlin ein Stück eigene Geschichte zurück.

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