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Der öffentliche Nahverkehr ist bislang der große Verlierer der Krise. Er wird als idealer Ort der Infektion wahrgenommen.

© Christoph Soeder/dpa/pa

Die BVG in der Coronakrise: Ein Nulltarif außerhalb der Spitzenzeiten für mehr Abstand im Nahverkehr

Die Politik muss den Verkehr coronafest machen und eine Finanzierung finden, die nicht nur von Tickets abhängt. Ein Gastbeitrag von Mobilitätsexperten.

Der Not leidenden Lufthansa half die Bundesregierung mit Milliardenbeträgen. Nun fliegt sie wieder öfter und auch aus dem Dax, weil der Kurs um die Hälfte eingebrochen war. In ähnlicher Dimension wurde auch dem Touristikkonzern Tui mit einem Kredit unter die Arme gegriffen. Ebenfalls ungeachtet der Frage, ob die fliegende Mobilität im Dienste des Massentourismus noch ein Wirtschaftsmodell der Zukunft sein kann.

Die Beispiele offenbaren ihre Motive. Es geht darum, die Zustände wieder herzustellen, wie sie einst waren. Die immense Chance, mit den Rettungsversuchen deutliche Lenkungswirkungen für eine menschen- und klimagerechte Umwelt zu erzielen, wird vertan.

Nach dem Muster der Finanzkrise wird Geld wie Heu verteilt. Dass der Planet zurzeit auf eine tödliche Erwärmung von drei bis vier Grad zuläuft, wird verdrängt. Selbst die Grünen sind in der Coronakrise merkwürdig still geworden. Erste Kipppunkte wurden bereits überschritten.

Entwicklungen kommen in Gang, die kaum mehr aufzuhalten sind. Allein diese Erkenntnis müsste den monotheistischen Glauben an unbegrenztes Wachstum infrage stellen. Wir sollten Liebgewonnenes hinterfragen und Überfälliges in Gang setzen. Die Krise hat die Hebel für politisches Handeln bereits generiert.

Das Abstandsgebot hat zum Beispiel der Frage der Flächengerechtigkeit im öffentlichen Raum eine neue Dimension eröffnet. Sollen Fußgänger aus Gründen des Infektionsschutzes einen Mindestabstand einhalten, muss auch der Raum dafür geschaffen werden. Radwege auf Bürgersteigen, auf denen sich Menschen drängeln, sind nicht mehr tolerierbar. Stadtraum muss neu verteilt werden.

Pop-Up-Radwege sind pure Notwendigkeit

Die Radaktivisten erkannten diese Chance und fanden im Kreuzberger Bezirksamt ein Gegenüber, welches bereit war zu handeln. Pop-up-Radwege sind an Hotspots der Infektion pure Notwendigkeit. Da das Mobilitätsgesetz genau solche Radstreifen in angemessener Breite für jede Hauptstraße vorsieht, gibt es keinen Grund, sie je zurückzubauen.

Im Gegenteil. Nach einer Zeit der Erprobung werden aus gelben Streifen weiße, und aus grauem Bodenbelag grüner. Zum Schutze des Radstreifens vielleicht mit einem Hochbeet als Trennelement versehen, statt mit hässlichen Pollern.

Der öffentliche Verkehr dagegen ist bislang der große Verlierer. Jedes Gefäß, ob Bus, Tram, S- oder U-Bahn-Waggon, wurde als idealer Ort der Infektion wahrgenommen. Zu Recht. In der Morgenspitze des Pendlerverkehrs müssen sich in ihnen die Menschen drängeln.

Auf Maßnahmen, diese Situation zu entschärfen, verzichtete die führungslose BVG, dünnte den Fahrplan aus und verkündete, über zusätzliche Desinfektionsmaßnahmen nicht nachdenken zu wollen. Falsche Worte zum falschen Zeitpunkt. Ein Super-Gau. Die Kapitulation vor der Problemlage und das Einsparen von ein paar Tausend Litern Desinfektionsflüssigkeit dürfte den rasanten Verlust von Fahrgästen noch beschleunigt haben.

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Die Ausdünnung des Fahrplans begründete sie mit dem Verlust von Ticketeinnahmen. Auch auf mittelfristige Sicht wird das Abstandsgebot notwendig bleiben, sodass die Fahrgäste mehr Platz in Bus und Bahn brauchen. Die BVG muss sich dieser Problemlage stellen.

Die durchschnittliche Auslastung des öffentlichen Verkehrs liegt in Normalzeiten bei 25 Prozent. Es müssten Anreize geschaffen werden, die Fahrgäste gleichmäßig über den Tag zu verteilen, sodass die Abstandsregeln befolgt werden können. Wenn die Täler der Fahrgast-Nachfrage für die Überschüsse des Morgens genutzt werden könnten, wäre das Problem gelöst.

Auslastung durch Gratis-Tickets glätten

Der wirksamste Anreiz wäre, außerhalb der Spitzenzeiten den Nulltarif einzuführen. Wenn die Verkehrsleistung gratis erbracht wird, würden all jene, die es sich zeitlich leisten können, das Angebot der Kostenfreiheit nutzen. Nur zwischen 7 und 10 Uhr bliebe der Preis, wie er ist. Die Kurve der Auslastung würde sich über den Tag glätten, sodass alle Fahrgäste die Abstandsregelung einhalten könnten.

Diese Offerte an Berlin müsste allerdings schnell umgesetzt werden. Sie soll Wirkung zeigen. Eines der besten Nahverkehrsnetze der Welt quasi zum Nulltarif für alle Berlinerinnen. Der Personalausweis ersetzt die Jahreskarte. Aber wie gehen wir mit den entstehenden Einnahmeverlusten um?

Derzeit wird über die Erneuerung des Wagenparks, die Erweiterung der Netze und über Taktverdichtungen nachgedacht. Moderner öffentlicher Verkehr wird sein Angebot auch um die letzte Meile erweitern müssen. Diese für die Zukunft überlebensnotwendigen Innovationen sind auf der mittel- bis langfristigen Zeitschiene kostenintensiv.

Das milliardenschwere Konjunkturprogramm der Bundesregierung kommt da zum rechten Zeitpunkt, wird den Finanzbedarf aber weder in Gänze noch auf Dauer decken können. Die Einnahmenseite für den öffentlichen Verkehr sollte sich also verbessern und gleichzeitig nicht länger ausschließlich vom Fahrkartenverkauf abhängen. Bei Wegbrechen der Fahrgastzahlen käme sonst wieder die Abwärtsspirale in Gang.

Da kommen die aktuellen, weltweit um sich greifenden Überlegungen zur City-Maut mehr als gelegen. Diese, innerhalb des S-Bahn-Rings erhoben, könnte den zusätzlichen Bedarf decken.

Mehr Aufenthaltsqualität, weniger Unfälle

Die aktuellen Pläne des Wissenschaftszentrums Berlin könnten als Vorlage dienen. Ein Preis weit unter neun Euro pro Tag würde reichen, um das Etatloch zu füllen. Die City-Maut würde den Autoverkehr und damit auch seinen Flächenbedarf in der Innenstadt reduzieren. Im Ergebnis hätten wir mehr Aufenthaltsqualität, weniger Lärm und Unfälle.

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Der Preis wäre ein Regulativ, das mit dem der Fahrscheine korrespondieren könnte. Diese Kombination aus Nulltarif und City-Maut liefert uns die Werkzeuge um mit Push- und Pull-Faktoren den Autoverkehr in der Stadt auszubalancieren.

Weniger Autoverkehr in der City bedeutet selbstverständlich auch dort bessere Luft sowie mehr Platz für Rad- und Fußverkehr. Seit wir von der Korrelation der Luftbelastung mit der Verletzlichkeit durch das Coronavirus wissen, wäre diese Variante der Entwicklung nicht nur eine Möglichkeit, sondern ein Muss. Die neue Normalität kann nicht die alte sein.

Die Gastautoren: Matthias Dittmer ist Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Mobilität; Frank Geraets ist Mathematiker und Zukunftsforscher; Andreas Knie ist Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Matthias Dittmer, Frank Geraets, Andreas Knie

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