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Berlin: Detlef Girrmann (Geb. 1928)

Sie brachten 1200 Männer, Frauen und Kinder in die Freiheit

Sie waren doch Freunde. Sie hatten keine Zweifel an ihm, eigentlich. Es war nur so: Sie wussten nicht, wie sie es ihm sagen sollten. Dass es einen Grund geben müsse, warum ausgerechnet die Touren, die er maßgeblich entwickelt hatte, zuletzt so oft schiefgegangen waren. Dass er an irgendeinem Punkt unvorsichtig gewesen sein könnte. Dass sie dafür zwar keine Beweise hatten, aber zu viele Hinweise. Dass sie sich deshalb von ihm trennen würden.

Sie erklärten ihm nichts, sie taten es einfach: Die „Girrmann-Gruppe“ trennte sich von Detlef Girrmann.

48 Jahre später fragt man sich: Hätten sie Girrmann damals den grausamen Freundschaftsdienst erweisen sollen, es ihm ins Gesicht zu sagen? Irgendwo ist ein Leck, wahrscheinlich. Du bist raus, definitiv.

Natürlich wäre es ein Schock für ihn gewesen. Aber dann hätte er nachgedacht, und dann hätte er verstanden. Oder auch nicht, es gab ja keine Beweise. Wie auch immer.

Detlef Girrmann und seine Mitstreiter waren Fluchthelfer. Oder, im Geheimdienst-Jargon der DDR: Sie gründeten eine „Agentenzentrale“ und eine „Menschenhändlerbande“. Wobei sie weder zentral organisiert waren noch mit Menschen handelten. Sie brachten etwa 1200 Männer, Frauen und Kinder in die Freiheit.

Girrmann zählt zu denen, bei denen sich die DDR besonders anstrengen musste, um es sich mit ihnen zu verderben. Sein Großvater ist Sozialdemokrat. Girrmann engagiert sich im Magdeburger „Antifaschisten Ausschuss“. In einer Arbeitsgruppe Philosophie liest er Hegel. Ein paar Wochen, bevor KPD und SPD zur SED vereinigt werden, tritt Girrmann der SPD bei. Doch es zeichnet sich schon ab, dass es mit freier Rede in der DDR nicht weit her sein würde. Unter seinem Kragen trägt er weiterhin das SPD-Abzeichen, als er längst Mitglied der zwangsvereinigten SED ist.

Links ist er schon. Wie das geht, muss ihm auch kein Ulbricht sagen. In einem Interview, das Girrmann mit ihm führt, sagt Ulbricht: „Wir sind keine Partei, wir sind die Partei!“

Girrmann erzählt: „Und da trat ich also ’48 aus der SED aus. Frappierte den ganzen Verein. Die sagten, es seien keine Bestimmungen dafür da; ich könne überhaupt nicht austreten; es stünde ja gar nicht in den Statuten.“ So steht es in dem Buch „Ich wollte keine Frage ausgelassen haben“, in dem ein Interview abgedruckt ist, das Girrmann in den sechziger Jahren mit Uwe Johnson geführt hat. Girrmann also schickt einfach sein Parteibuch zurück, per Einschreiben. Zwei Jahre später tritt er in die Liberaldemokratische Partei ein, aber seine Hoffnung, dort freier denken und sprechen zu dürfen, wird enttäuscht.

Er würde kein zweites Mal auf Heilsversprechen hereinfallen. Schon mit 14 hatte er sich freiwillig bei der SS gemeldet. Mit 16 schickten sie ihn nach Prag und Ungarn, wo er Hitler nicht mehr zum Endsieg verhelfen konnte. Er desertierte, versteckte sich im Wald, schlief bei einem Bauern und überquerte die Donau, um dann vom amerikanischen Sektor aus die Heimreise nach Magdeburg anzutreten. Dort flickte sein Vater Schuhe und handelte auf dem Schwarzmarkt, während Detlef das Abitur machte.

Später will er die DDR von innen heraus verändern: Er will Polizist werden, um den Polizeidienst nicht allein den Kommunisten zu überlassen. Nur kann er sich das kritische Denken nicht abgewöhnen. Er schmuggelt die Zeitschrift „Der Monat“ in den Ostsektor, auch Bücher wie „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ von Wolfgang Leonhard und „Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler. Er zieht Lesekreise auf, klebt Zettel mit einem „F“ für Freiheit an Häuserwände und steckt Flugblätter in Briefkästen. „Das Ergebnis war niederschmetternd“, erinnert sich Burkhart Veigel, ein ehemaliger Fluchthelfer: „Kein Mensch hat sich aufgelehnt, wenn er ein solches Flugblatt in seinem Briefkasten hatte.“ Außer die von der Staatssicherheit, für die war das „staatsgefährdende Hetze“.

Als die Verhaftung droht, geht Detlef Girrmann in den Westen. Er schreibt sich an der Freien Universität in Jura und Publizistik ein, beginnt eine Doktorarbeit, beendet sie aber nicht. Stattdessen leitet er die Förderungsabteilung des Studentenwerkes, wo er und seine Mitarbeiter sich unter anderem um die „Grenzgänger“ kümmern, also um die Studenten, die im Westen arbeiten und im Osten wohnen. Nach dem Mauerbau sorgt Girrmann zusammen mit Dieter Thieme und Bodo Köhler dafür, dass diese Studenten ihr Studium fortsetzen können – durch Flucht in den Westen.

Sie wissen, wie ihre Studenten aussehen, und machen sich auf die Suche nach West-Berlinern, die ihnen ähnlich sehen. Die bitten sie um ihren Pass, schmuggeln ihn über die Grenze, geben ihn den Fluchtwilligen. Die ersten Studenten kennen sie persönlich, durch Mund-zu-Mund-Propaganda werden es immer mehr. Detlef Girrmann koordiniert die „Läufer“, die Kontakt nach Ost-Berlin halten, sowie die Fluchthelfer, Flüchtlinge und deren Familien.

Girrmann und Thieme besorgen Tickets und gefälschte „Behelfsmäßige Personalausweise“, sie erkunden neue Routen. Einigen gelingt die Flucht durch die Kanalisation. Besonders dankbar zeigen sie sich nicht. „Es kam uns manchmal ein bisschen bitter an, dass die das einfach so als selbstverständlich hinnahmen“, sagt Girrmann.

Im Westen der Stadt sind die Fluchthelfer zunächst heimliche Helden. Dann werden ihre Aktionen immer kritischer gesehen. „Die Westdeutschen fragten häufig: ,War denn das legal, was Sie gemacht haben?’“, erinnert sich Veigel. Die Universitätsleitung fürchtet, dass Studenten und Dozenten gefährdet werden könnten. 1962 wird Girrmann entlassen, immerhin mit einem Stipendium zur Beendigung seines Studiums. Das Geld steckt er in neue Fluchthilfen. Laut Kollege und Freund Dieter Thieme haben die Beteiligten zu der Zeit bereits privat Schulden aufgenommen, um die Fluchten zu finanzieren. Später nehmen sie doch Geld für ihre Dienste und werden dafür kritisiert. Thieme: „Wir zahlten unsere Schulden durch Fluchthilfe ab.“

Die Staatssicherheit weiß, wo sie wohnen und kennt ihre täglichen Wege, es wäre ein Leichtes gewesen, Detlef Girrmann zu schnappen. Vielleicht schützt ihn seine Bekanntheit bei den westdeutschen Behörden. Girrmann: „Wenn herausgekommen wäre, dass hinter einem solchen Anschlag die Stasi beziehungsweise die DDR gesteckt hätte, hätte das der internationalen Reputation der DDR massiv geschadet. Also konnte man einen solchen Anschlag nicht riskieren.“

Johnson umkreist die Frage, warum Girrmann sein Leben riskiert. Man wird beim Lesen der Protokolle das Gefühl nicht los, als wolle Johnson etwas Hehres hören. Aber Girrmann tut ihm den Gefallen nicht. Er sagt sie nicht, die Zauberworte: Mut, Not, Pflicht, Lebensgefahr. Er sagt: „Hinzu kommt das Gefühl der Verantwortlichkeit: Wir haben die (Studenten) bisher betreut, und wir müssen es auch jetzt tun.“ Und auf Nachfrage: „Wir hatten auch etwas das Gefühl, denen ein Schnippchen zu schlagen. Das war nicht vorherrschend, und das war auch nicht das Motiv, aus dem wir angefangen haben. Bloß: Keine Handlung setzt sich ja aus einem Motiv zusammen. Es war auch dabei, dass wir gesagt haben: ‚Seht ihr, ihr da mit eurer Absperrung: Es wäre ja gelacht, wenn wir das nicht schaffen würden, das zumindest teilweise illusorisch zu machen.“

Girrmann: „Es ist wohl so, dass ein Mensch, der in Not ist, der gewinnt immer eine gewisse moralische Qualität ... Ich weiß nicht ... “

Johnson: „Eine gewisse moralische Größe dann! Eine Forderung?“

Girrmann: „Ja, man selber transportiert da irgendwie noch gleichzeitig irgendetwas Moralisches mit rein, glaube ich; häufig jedenfalls. Und die Erkenntnis, dass also die Flüchtlinge genau solche ‚guten’ Bundesbürger sind wie die, die hier sind, das kam dann ziemlich bald“

Johnson: „Moment mal: ‚gute’ Bundesbürger, das heißt … politisch gleichgültig, moralisch verkommen …“

Girrmann: „Ja.“

Detlef Girrmann beendet sein Studium nicht und nimmt schließlich ein Angebot der Berufsgenossenschaft Druck und Papierverarbeitung in Wiesbaden an. 1992 wird er Sachverständiger in der Zentralen Gehaltsstelle des Thüringer Finanzministeriums in Erfurt. 1990 stellt sich heraus: Es gab zwei Spitzel in seiner Fluchthelfergruppe. Da versteht er. Andreas Unger

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