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Berlin: Detlef Berentzen (Geb. 1952)

Im Kindesalter werden Weichen gestellt, von da aus geht es auf die Strecke oder aufs Abstellgleis.

Eine Weile hatte er überlegt, ob die wunderbare Wohnung in bester Lage, die er geerbt hatte, nicht sein Alterssitz werden könnte, aber mit 600 Euro Rente wäre er selbst darin nicht über die Runden gekommen. Dann lieber verkaufen und ein wenig Spielraum für die nächsten Jahre bekommen. Das Kapitel Bielefeld war damit abgeschlossen. Im Übrigen waren seine Erinnerungen an diese Stadt ja durchaus ambivalent.

Eine 50er-Jahre-Kindheit: Die Väter kamen aus dem Krieg, es wurde geraucht und gesoffen. Detlef hörte die Gespräche am Kneipentisch. Zoten aus dem Krieg, selten etwas Ernsthaftes. Dass es große Dinge gab, über die man lieber nicht sprach, spürte Detlef. Wenn so etwas hochzukommen drohte, rief einer nach dem Ober: „Einer geht noch!“ Und alle grölten wieder. Manchmal schickte ihn die Mutter, um den Vater zu holen. Der soll nach Hause, sofort! Doch der Vater kam nicht mit, der Kleine wartete, drängelte, fühlte sich schuldig und bezog das heimische Donnerwetter dann auf sich. Zumal die Mutter ihre Wut oft genug an ihm ausließ. Er, der ungeliebte Sohn, war am Leben; sein Bruder war mit zwei Jahren an Leukämie gestorben. In diesem Schatten wuchs Detlef auf.

Wer hätte gedacht, dass er ein so lauter, raumgreifender Charakter werden würde. Damals saß er am Rand, beobachtete, war auf der Hut vor Zurechtweisungen und Schlägen. Dass er der Mutter in ihrer Krebskrankheit noch einmal nahe kam, das hat ihm gutgetan und ihr wohl auch. Einsichten aus seiner Therapie waren wichtige Utensilien in seinem publizistischen Werkzeugkasten. Über eine Kindheit wie die seine schrieb er den Roman „Hermann“. In den Artikeln für die Zeitschrift „Psychologie heute“ vernimmt man das Hintergrundrauschen selbst erlittener Traumata.

In einem seiner frühen Beiträge für den Hörfunk beschäftigte ihn die Kindheit Adolf Hitlers. Mit einem jüdischen Psychoanalytiker sprach er in New York über ihn, und aus dem Unmenschen wurde das verletzte Kind. Nicht um Absolution ging es, sondern darum, den Verbrecher als Mensch zu beschreiben.

Im Kindesalter werden Weichen gestellt, von da aus geht es auf die Strecke oder aufs Abstellgleis. Detlef gehörte zu den Gründern der Berliner Kinderläden und hat die Aufbrüche und Absurditäten hautnah miterlebt. Für die „taz“ schrieb er in deren Anfangszeit, wollte dort eine feste Kinderseite etablieren und gründete, als er damit scheiterte, eine eigene Zeitschrift für sein Thema: „enfant t“.

Mit den Hausbesetzern hat er sympathisiert, er initiierte ein Wohnprojekt in der Ohlauer Straße und schrieb darüber. Mittendrin sein und doch professionelle Distanz wahren, das kann klappen, Detlef Berentzen hat es bewiesen. Angreifen, debattieren, niedergebrüllt werden, feiern, experimentieren. Die 80er waren mal viel besser, mal viel schlimmer, als man heute ahnt.

Am Geld hat das Glück nie gehangen, aber es war immer wieder Thema. Er war ein Freiberufler. Richtig gut verdient hat er selten. Bei der „taz“ war die schlechte Bezahlung Programm, die Öffentlich-Rechtlichen zahlten anfangs gut, aber auch dort sind die fetten Jahre längst vorbei. Immer mehr für immer weniger, das macht den Beruf anstrengend. Auch mit Büchern wird man ohne Glück und Prominenz nicht reich. Unter dem Titel „Brenne und sei dankbar“ hat er die oft prekären Verhältnisse von Kreativen im Rentenalter beschrieben. Nach manchen Abbrüchen kam mit dem Südwestdeutschen Rundfunk eine segensreiche Zusammenarbeit zustande. Gute Leute, interessante Themen, viel Lob und mit mancher Zweitverwertung dann auch wieder genügend Kohle.

Detlef war viel unterwegs zwischen Sendern, Verlagen, Interviewterminen und Lesungen. Umso wichtiger waren ihm die Zeiten, die er mit Feli verbringen konnte. Er hatte sie in einer für ihn durchaus unüblichen Demutshaltung kennengelernt. Sie war seine Zahnärztin. Öffentlich waren die beiden sehr gegensätzlich, Detlef laut und meinungsstark, Feli zurückhaltend, beobachtend. Allein oder in kleiner Runde schwanden die Unterschiede. Eine gute Ehe, fanden die beiden, und die Freunde stimmten zu, bei genauem Hinsehen passte alles. Man konnte sogar vermuten, dass er sie dringender brauchte, als sie ihn. Das Gleichgewicht, das ihm zuweilen fehlte, hatte sie einfach so mitbekommen.

Es gab keine Vorzeichen, kein Unwohlsein. Als sie Mitte Juli von der Arbeit kam, lag er auf dem Boden. Kein seltener Tod bei Männern in diesem Alter, wie der Notarzt feststellte. Gerade noch war alles im Lot, sie meinten, gemeinsam und gesund ins Alter gehen zu können, und plötzlich war alles anders. Leere Wohnung, leerer Tisch, leeres Bett, leere Zukunft.

Eine seiner Sendungen handelt von der „Renaissance der Utopien“ und von der Aktualität von Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie: „Denken heißt überschreiten. Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Detlef träumt mit dem Philosophen die große Veränderung und bleibt doch dicht am Leben. So laut er oft war, konnte er doch auch erstaunlich leise sprechen. Seine Stimme klingt nach, mal eindringlich, fordernd, provokant und dann wieder einfühlsam, fragend. Noch eine Weile wird man sie hören können im Netz, aber auch dort ist die Ewigkeit von überschaubarer Dauer: dberentzen.de/hoerfunk.html.

Jörg Machel

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