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Klaus Wowereit prägte das Berliner Stadtgefühl.

© IMAGO / Rainer Unkel

Der Stadt geholfen, sich selbst zu finden: So veränderte sich mit Klaus Wowereit das Berlin-Gefühl

Vor 20 Jahren zog Klaus Wowereit ins Rote Rathaus ein. Seitdem hat sich der Blick auf die Hauptstadt gewandelt.

Berlin im Jahr 2001: Unendliche Weiten. Die Millenniumswende war gelungen, Medienkanzler Schröder hatte Putin, Clinton und die Queen an die Spree gebracht, die Bundeshauptstadt durfte sich endlich als etabliert betrachten – und Angela Merkel war erfolgreich damit beschäftigt, ihre Partei von der bleiernen Herrschaft Helmut Kohls zu befreien. 

Das half ihrem Berliner Statthalter Eberhard Diepgen nichts, denn der scheinbar ewige Regierende wurde per Misstrauensvotum aus dem Amt gehebelt. Der Sozialdemokrat Klaus Wowereit, der das zuwege gebracht hatte, zog am 16. Juni 2001 ins Rote Rathaus ein, genau 20 Jahre ist das her. 

In Berlin schien die Zeit plötzlich schneller zu laufen – und die Stadt hat sich rasant verändert seitdem, bis Corona wieder eine Zäsur setzte. Vor allem: Berlin war 2001 pleite. Der im Februar aufploppende Bankenskandal hatte Licht in eine dunkle Ecke der Hauptstadtwerdung gebracht, und es schien durchaus unklar, wie das alles weitergehen würde im großen Umbruch.

Der war schon da, das zeigte sich im Großen wie in scheinbaren Kleinigkeiten: 2000 war das Jahr gewesen, in dem zwei große West-Berliner Institutionen, das Cafe Möhring und das Café Kranzler, von der Bildfläche verschwanden, eine ungeheure Erschütterung des Kurfürstendamms als Sinnbild metropolitaner Selbstgefälligkeit. Andererseits war mit der Eröffnung des Sony-Centers im gleichen Jahr die Erneuerung des Potsdamer Platzes vollzogen, der nun ausersehen war, die ganze Stadt neu zu zentrieren, ein Misserfolg, wie wir heute wissen. 

Die Berliner Band Seeed lieferte den Soundtrack zum Zwiespalt mit einem wummernden Dancehall-Reggae „Dickes B. oben an der Spree, im Sommer tust du gut, und im Winter tut’s weh“. Klaus Wowereit gab sich als Erneuerer des dicken B., platzte in diese vage Unsicherheit mit der für ihn typischen Unverfrorenheit.

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Die jahrelange Erfahrung als Vorsitzender des parlamentarischen Haushaltsausschusses brachte ihn dazu, auf Umschweife zu verzichten: Berlin sei arm, sagte er, vollzog dann aber im gleichen Satz die wowereitsche Wende: „...aber sexy“

Diese Botschaft wurde umgehend weltweit als unverzeihliche Flapsigkeit eines präpotenten Zufalls-Bürgermeisters eingestuft – aber sie ebnete den Weg Berlins zur weltweiten Hauptstadt des Clublebens, zum Touristenziel auf Augenhöhe mit London und Paris. In den Worten von Seeed: „Wir shaken, was wir haben, morgens 7 Uhr, woanders gibt's 'ne Sperrstunde, bei uns die Müllabfuhr“.

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2001 war davon nur wenig zu sehen, aber es gab einen Regierungschef, der daran glaubte und sich vom Image des überdrehten Partymeisters nur langsam lösen konnte. Er sei eben das Kontrastprogramm zu Eberhard Diepgen gewesen, sagt er heute, „der war auf denselben Veranstaltungen wie ich, nur wäre keiner auf die Idee gekommen, dass ihm das Spaß macht“.

„Heute würde ich den Schuh sofort fallenlassen“

Erst als das Zufallsfoto von der Bambi-Verleihung 2001 – jemand hatte ihm einen roten Pumps in die eine und eine Champagnerflasche in die andere Hand gedrückt – ihm die schwierigen Koalitionsverhandlungen zu vermasseln drohte, rudert er nach und nach zurück: „Heute würde ich den Schuh sofort fallenlassen.“

Schnappschuss: Wowereit hält den roten Schuh einer Dame in der Hand, den er mit Champagner füllt.
Schnappschuss: Wowereit hält den roten Schuh einer Dame in der Hand, den er mit Champagner füllt.

© dpa

Damals war gerade der Wahlkampf vorbei. Denn die Inthronisierung Wowereits als Chef einer rot-grünen, von der PDS geduldeten Regierung ersetzte ja nicht die turnusmäßige Wahl im Oktober. Und weil der Neue schon von den SED-Nachfolgern gestützt wurde, lag es nahe, dass die CDU einen antikommunistischen Lagerwahlkampf intonieren würde. 

Spitzenkandidat Frank Steffel beschwor zornbebend alte Ängste herauf, während Gregor Gysi, selbst den Chefsessel im Rathaus im Visier, den scharfzüngigen, aufgeklärten Citoyen gab. Der 40. Jahrestag des Mauerbaus mit Schröder und Wowereit mobilisierte die Emotionen, später flogen Eier auf Steffel und seinen Stargast Edmund Stoiber, und es kam eine vergrätzte Stimmung auf, die in ein diffuses Wahlergebnis mündete. 

Rot-Grün war abgewählt, aber die Jamaika-Verhandlungen mit der FDP scheiterten – so schilderte Wowereit es – an der Erhöhung der Biersteuer, und so blieb am Ende nur Rot-Rot. Markanter Bestimmer des neuen Senats, der im Januar 2002 seine Arbeit aufnahm, war aber der Ex-Bundesbanker und Sozialdemokrat Thilo Sarrazin, der als Finanzsenator Wowereits Marschbefehl „Sparen, bis es quietscht“ in die Tat umzusetzen hatte. 

„Coolnessmäßig platzt die Stadt aus allen Nähten/aber wo sind jetzt die Typen, die auch ernsthaft antreten/um ihr Potential, ihre Styles heißzukneten/zu viel Kraft in der Lunge für zu wenige Trompeten.“ 

Noch vor der Neuwahl aber kippte eine weltpolitische Wende die Vorfreude auf Neues: Die Terrorflüge des 11.September, weit weg in New York, erschütterten die Sicherheitsarchitektur auf allen Kontinenten, ebenso das Grundvertrauen der Bürger und die vage Hoffnung, es könne das Ende aller globalen Konfrontationen nahen. Tragischer Kontrast: An eben diesem Tag wurde auch das Jüdische Museum in der Lindenstraße eröffnet.

Boris Becker als AOL-Werber

Es waren diese psychischen Gratwanderungen, die auch heute noch die Erinnerung an jene Zeit bestimmen: Das Internet öffnete sich, angefeuert von Boris Becker als Aol-Werber, für den privaten Gebrauch, Visionen vom grenzenlosen Shoppen in der ganzen Welt poppten auf. Aber gleichzeitig platzte die Dot-Com-Blase, und Unternehmen wie Pixelpark, die für diese Zukunft zu stehen schienen, rutschten mit ihren Aktienkursen in den Orkus.

Die Eröffnung des Kanzleramtes am 2. Mai mit Gerhard Schröder sollte ein letzter Baustein für den Umzug der Regierung nach Berlin sein – aber gleichzeitig wuchs der Eindruck, dass die schönen Hoffnungen, der Umzug möge die Stadt auch wirtschaftlich beflügeln, vorerst vergeblich blieben. Die Grundstückspreise sanken, viele Büros standen leer, die Arbeitslosigkeit stagnierte.

Der Druck auf die Arbeitsmärkte durch billige Kräfte aus den neuen EU-Ländern machte vor allem Geringverdienern zu schaffen, und dann kochten in Prenzlauer Berg rund um den Helmholtzplatz auch noch erste Gentrifizierungs-Debatten hoch, weil sich die angestammten Einwohner von reichen Wessis verdrängt sahen.

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Am Jahresende schließlich dräute das Ende der D-Mark – was sollte da nur werden? Aus heutiger Sicht wissen wir: Es wurde. Aber es dauerte noch bis 2006, bis zum „Sommermärchen“ der Fußball-WM, das die Stimmung kippte und endlich den Weg aufwärts auch moralisch freimachte.

2011 zeigte Wowereit der schwedischen Kronprinzessin Victoria und Prinz Daniel die Stadt.
2011 zeigte Wowereit der schwedischen Kronprinzessin Victoria und Prinz Daniel die Stadt.

© Maurizio Gambarini dpa/lbn

Klaus Wowereit begleitete diesen Weg noch bis zu seinem Rückzug 2014. Bis dahin durfte er gut gelaunt miterleben, wie eine als großmäulig verspottete Vision von 20 Millionen Touristen-Übernachtungen schon im Jahr 2010 vorfristig erfüllt wurde. Seeed hatten das 2001 vorweggenommen: Die Berliner Luft im Vergleich zu anderen Städten/bietet leckersten Geschmack, allerbeste Qualitäten/um Paraden zu feiern und exklusive Feten/die Massen sind jetzt da, es hat sie niemand drum gebeten.

Niemand? Das würde Wowereit nicht gelten lassen. Hatte er nicht als oberster Stimmungsmacher später die Früchte geerntet, die er mit seinem Amtsantritt 2001 gesät hatte? In der Tat zeigte er über viele Jahre immer wieder das Doppelgesicht, das seine politische Karriere bestimmte, nämlich den durch genaues Aktenstudium abgesicherten Machtinstinkt – und den an Leichtsinn grenzenden, mit pampigen Sprüchen garnierten Hedonismus.

Die Feinabstimmung zwischen beiden Polen misslang ihm auch später immer mal wieder. Aber insgesamt sieht es doch so aus, dass der von ihm verkörperte Wechsel vom routinierten Verwalten über unsichtbaren Abgründen hin zum optimistischen, aber nicht beschönigenden Klartext der Stadt geholfen hat, sich selbst zu finden. Heute würden wir es „Disruption“ nennen. Das ist nun 20 Jahre her, und es war wohl auch, um Klaus Wowereit zu zitieren, gut so.

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