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Abgeriegelt: Ein bewaffneter Polizist steht am Samstagabend an einer Zufahrt zum Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz.

© Gregor Fischer/dpa

Der Schockmoment: Was über den Terroralarm am Breitscheidplatz bekannt ist

Drei Jahre nach dem Amri-Anschlag beobachtet die Polizei erneut verdächtige Männer auf dem Weihnachtsmarkt und räumt ihn. Wie kam es dazu? Eine Rekonstruktion.

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Aus den Boxen tönt die englische Version von „Stille Nacht“, die tiefe Stimme des Sängers weht über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, und an einem Glühweinstand steht Matthias Meyer und raucht eine Zigarette. Der Tourist aus Bayern bleibt ziemlich gelassen. Er hat sie gehört, die Nachricht von der Räumung am Vorabend, aber der Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war nur: „Nicht schon wieder.“

Es ist Sonntag, 16 Stunden zuvor ist der Weihnachtsmarkt von der Polizei geräumt worden. Die Beamten hatten den Platz nach einem potenziell gefährlichen Gegenstand abgesucht und zwei Männer in Gewahrsam genommen. Die Angst war groß. Fast auf den Tag genau drei Jahre zuvor, am 19. Dezember 2016, war der Attentäter Anis Amri mit seinem Lastwagen über den Breitscheidplatz gefahren. Bei dem Anschlag sind insgesamt zwölf Menschen gestorben.

Zuerst kursierten am Samstagabend Meldungen, islamistische Gefährder seien festgenommen worden. Später sprach die Polizei von einer Verwechslung, einem Fehlalarm. Eine Rekonstruktion.

Warum wurde der Markt geräumt?

Gegen 18.45 Uhr fielen Polizisten zwei Männer auf, die sich verdächtig verhielten, erklärte ein Polizeisprecher am Sonntag. Als sich die Beamten näherten, flüchteten die Männer und schoben Passanten beiseite. Beide trugen traditionelle Kleidung, wie sie oft von Salafisten getragen wird. Die Beiden wurden in Gewahrsam genommen. Bei der Feststellung der Identität von einem der Männer kam es zur Verwechslung mit einem islamistischen Gefährder, gegen den eine internationale Fahndung läuft.

Deshalb entschloss sich die Polizei, den Weihnachtsmarkt und die Gedächtniskirche zu räumen und den Markt weiträumig abzusperren. Auf Twitter teilte die Polizei mit, man untersuche den Weihnachtsmarkt nach einem „möglicherweise verdächtigen Gegenstand“ und habe deshalb geräumt. Erst um kurz vor 23 Uhr gab die Polizei Entwarnung: Fehlalarm.

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Wer sind die beiden Verdächtigen?

Bei ihnen handelt es sich um zwei Syrer, die einen Flüchtlingsstatus besitzen. Die Brüder haben bereits in Berlin gelebt, sind 21 und 24 Jahre alt. Sie werden nach Informationen aus Sicherheitskreisen der islamistisch-salafistischen Szene zugerechnet. Was sie am Samstagabend auf dem Weihnachtsmarkt wollten, war auch am Sonntag nicht klar. Sie wurden noch am Abend wieder aus dem Gewahrsam entlassen.

Über einen der beiden hatte es zwischenzeitlich geheißen, er halte sich illegal in Deutschland auf. Das konnte nicht bestätigt werden: In seinem Fall hatte es eine Diskrepanz zwischen dem Namen im Pass und dem im Aufenthaltstitel gegeben. Es handelt sich dabei, laut einem Polizeisprecher, um einen Übersetzungsfehler der deutschen Behörden. Die Polizei dementierte, dass bewusst ein Pass gefälscht wurde, es handele sich um einen „technischen Fehler“. Dahinter stecke keine kriminelle Energie.

Waren die beiden der Polizei bekannt?

Sie gehören laut des Polizeisprechers dem salafistischen Spektrum an. Nach Tagesspiegel-Informationen wurden sie auf dem Weihnachtsmarkt auch nicht zufällig entdeckt, sondern observiert. Sie sollen Kontakte in die islamistische Szene haben. Die Polizei bestritt indes am Sonntag, dass eine Observierung stattgefunden habe.

Wie kam es zur Verwechslung?

Nach Tagesspiegel-Informationen trägt einer beiden Männer den gleichen Namen wie ein islamistischer Gefährder, nach dem international gefahndet wird. Dieser soll Erfahrungen mit Sprengstoffen haben. Die Verwechslung führte dazu, dass die Sicherheitsbehörden Terror-Alarm auslösten und verschiedene Medien berichteten, ein Gefährder sei festgenommen worden. Aus Sicherheitskreisen ist auch zu hören, dass die Ermittler dem Verdacht nachgehen, die Männer seien nicht zufällig auf dem Weihnachtsmarkt gewesen.

Wie ernst wurde die Lage eingeschätzt?

Die Polizei entschied am Samstagabend in kürzester Zeit, präventiv zu handeln. Es kam viel zusammen – die salafistisch gekleideten Männer, die Namensverwechslung mit dem Gefährder, der sensible Ort – und so wurde der Platz weiträumig gesperrt. In Ermittlerkreisen kursierte am Abend die Information, die beiden Männer hätten womöglich einen verdächtigen Gegenstand auf dem Weihnachtsmarkt deponiert. Die Polizei rückte deshalb mit 250 Einsatzkräften und Sprengstoffspürhunden an. Auch der Bahnhof Zoo wurde vorsorglich nicht mehr von S-Bahnen angefahren.

Polizeiwagen versperren den Zugang zum Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz.
Polizeiwagen versperren den Zugang zum Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz.

© Gregor Fischer/dpa

In der Politik wurde die Lage äußerst ernst eingeschätzt: Innensenator Andreas Geisel (SPD) verschickte noch am Abend SMS an die innenpolitischen Sprecher der rot-rot-grünen Koalition, die sie über die Situation am Breitscheidplatz informierte. Dies geschieht nur bei besonderen Bedrohungslagen.

CDU-Fraktionschef Burkard Dregger forderte, „alles rechtsstaatlich Mögliche zu tun, um den Aufenthalt und das Bewegungsprofil von uns bekannten islamistischen Gefährdern zu beobachtenden“. Berlins Regierungspartner müssten „ihre Blockadehaltung beenden und den Weg freimachen für eine Überwachung durch Handyortung, Telefonabhörung und den Einsatz elektronischer Fußfesseln“.

Polizeiintern wurde am Sonntag kritisiert, dass es viel zu lange gedauert habe, den Markt zu räumen, wäre der Ernstfall eingetreten. Polizeisprecher Thilo Cablitz erklärte am Sonntag, dass der Befehl zur Räumung sehr schnell gekommen sei und die Polizei sensibel reagiert habe.

Wie bewertet die Berliner Politik den Polizei-Einsatz?

Innensenator Geisel erklärte am Sonntag: „Die Entscheidung der Polizei, den Breitscheidplatz zu räumen, war richtig.“ Im Vordergrund stehe die Sicherheit der Stadt. Die Einsatzkräfte hätten in kürzester Zeit eine Entscheidung treffen müssen, dies sei „auf Grundlage der zum jeweiligen Zeitpunkt vorliegenden Information“ geschehen. Der Einsatz habe gezeigt, dass die Polizei sensibilisiert sei. Geisel sagte weiter: „Eines ist auch klar: Ein Fehlalarm ist am Ende immer die bessere Nachricht.“

Verteidigte die Vorsicht der Berliner Polizei: Innensenator Andreas Geisel (SPD).
Verteidigte die Vorsicht der Berliner Polizei: Innensenator Andreas Geisel (SPD).

© Jörg Carstensen/dpa

Auch Benedikt Lux, innenpolitischer Sprecher der Grünen, lobte das Vorgehen der Polizei. „Die Polizei ist auf Nummer sicher gegangen und hat sehr umsichtig und präventiv reagiert.“ Lieber gäbe es einen Fehlalarm zu viel, als dass tatsächlich etwas passiere, sagte der Grünen-Politiker. Hinter vorgehaltener Hand hörte man in Koalitionskreisen viele Innenpolitiker, die sich über die Kritik ärgerten, die Polizei habe überreagiert.

Benjamin Jendro, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP), ordnete den Einsatz am Samstagabend wie folgt ein: „Selbstverständlich hat das Thema Terror am Breitscheidplatz extreme Brisanz, aber wir sollten sehr vorsichtig mit Spekulationen sein.“ Kritik an der Informationspolitik des Innensenators äußerte der FDP-Innenexperte Marcel Luthe. „Wer schon mit einem Verdacht Unruhe stiftete, muss danach wenigstens so transparent kommunizieren, dass die Bürger sich nicht grundlos sorgen.“

[Lesen Sie zur Bewertung des Einsatzes auch einen Kommentar auf Tagesspiegel.de: Jetzt wissen es alle wieder besser als die Polizei – Julius Betschka erklärt, warum die Polizei richtig reagiert hat.]

Wie ist der Breitscheidplatz vor Terroranschlägen geschützt?

Der Aufwand ist enorm. Es gibt Metallpoller, Stahlgitterkörbe mit Sandsäcken sowie Betonsockel. Zudem streifen Polizisten in Zivil über den Weihnachtsmarkt.

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Wie reagieren die Händler auf der Weihnachtsmarkt?

Ziemlich gelassen. Ein Mitarbeiter eines Glühweinstands sagt am Sonntag, dass er bis zu diesem Moment gar nicht gewusst hätte, dass der Platz geräumt worden sei. Außerdem: „Die Berliner sind hart im Nehmen, denen macht das nicht viel aus. Zudem sind 80 Prozent der Leute auf dem Weihnachtsmarkt sowieso Touristen. Die wollen auf den Markt.“

Ein älterer Mann mit schwarzer Skimütze und schwarzer Jacke, der hinter seinem Stand mit Kunsthandwerk und ätherischen Ölen steht, ist ebenfalls ganz ahnungslos. Nein, von der Räumung hat er nichts mitbekommen, er war am Samstag nicht da. Und auch seine Kunden hätten nicht darüber gesprochen, dass etwas Besonderes geschehen sei. „Alles läuft hier normal ab“, sagt er. „Von der Räumung hat niemand etwas erzählt, und das Attentat von 2016 ist auch kein Thema mehr.“

Weshalb ist ein Berliner Sicherheitsgesetz geplant?

Weil damit in Bezug auf die Sicherheitskonzepte bei kommerziellen Großveranstaltungen eine bessere Rechtssicherheit hergestellt werden soll. Bisher müssen Veranstalter von kommerziellen Großveranstaltungen natürlich auch Sicherheitskonzepte vorlegen, ansonsten erhalten sie keine Genehmigung. Aber rechtliche Grundlage dieser Genehmigungen sind, je nach Ort der Veranstaltung, entweder das Grünflächengesetz oder das Berliner Straßengesetz. Nur ist in denen kein verbindliches Konzept vorgeschrieben, obwohl ein solches in der Praxis für eine Genehmigung verlangt wird.

Nach den Plänen der Verwaltung soll deshalb ein eigenes Sicherheitsgesetz verabschiedet werden, mit dem diese Lücke geschlossen wird. „Es wird eine verbindliche Rechtsgrundlage geschaffen, dass ein Sicherheitskonzept Pflicht ist und automatisch bestimmte Maßnahmen zur Sicherheit vorgenommen werden müssen“, sagte Martin Pallgen, der Sprecher der Senatsinnenverwaltung, dem Tagesspiegel.

In dem Sicherheitsgesetz sind nach jetziger Planung zwei Stufen vorgesehen: Veranstaltungen von 500 bis 5000 Besucher müssen angezeigt werden. Ob sie ein Sicherheitskonzept benötigen, wird im Einzelfall geprüft. Eine kommerzielle Großveranstaltung, bei der mehr als 5000 Besucher erwartet werden, muss genehmigt werden, und der Veranstalter muss ein Sicherheitskonzept vorlegen. Bei weniger als 500 Besuchern muss kein Konzept erarbeitet werden.

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