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Fertig machen für den Auftritt. Die Tiller-Girls in der Berliner Scala 1927.

© Verlag

Der Glanz von Berlin: Warum die Metropole in den 1920er Jahren so verlockend war

Die Schriftstellerin Irmgard Keun vergnügte sich einst in Berlin – genau wie ihre Romanfiguren. Michael Bienert setzt ihr mit seinem Buch ein Denkmal.

Was war das für ein Getümmel, damals Anfang der 1930er Jahre am Bahnhof Friedrichstraße? Von hier aus fuhren Züge nach Amsterdam, Brüssel, Paris, ja sogar bis Istanbul. Die blutjunge Doris kommt aus der Provinz in die riesige Stadt und hat nur ein Ziel: Sie will „ein Glanz“ werden. Ganz benommen ist sie von all den Eindrücken und schreibt: „Berlin senkt sich auf mich wie eine Steppdecke mit feurigen Blumen.“

Irmgard Keun hat diese Doris, das kunstseidene Mädchen, erfunden. Ein Roman über das Leben in der Metropole und ihre Menschen, die Verlorenen und Gestrandeten, die Geretteten und Glücklichen.

Mit Verve und Witz wirft Keun ihre Geschichten aufs Papier. „Hier wächst etwas heran, was es noch niemals gegeben hat: eine deutsche Humoristin“, begeisterte sich Kurt Tucholsky.

Wer aber war diese Irmgard Keun? Michael Bienert hat ihr in seinem spannenden, akribisch recherchierten Buch „Das kunstseidene Berlin“ ein Denkmal gesetzt. [Das kunstseidene Berlin. Irmgard Keuns literarische Schauplätze. Verlag für Berlin-Brandenburg. 200 Seiten, 205 Abb., 25 €.]

Er spürt die Schauplätze ihrer Protagonistinnen auf, treibt sich in ihren Kiezen herum und skizziert nebenbei das politische Geschehen jener Zeit. Was die Schriftstellerin mit ihren Figuren gemein hat und was sie unterscheidet, ist Teil der Recherchen. Irmgard Keun wird den Lesern schnell zu einer Vertrauten.

Irmgard Keun bei Dreharbeiten zur Verfilmung ihres Romans "Nach Mitternacht".
Irmgard Keun bei Dreharbeiten zur Verfilmung ihres Romans "Nach Mitternacht".

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Stenotypistin mit Bubikopf

1905 wurde sie in Berlin geboren. Ihre Eltern wohnten in der Meinekestraße 5 in Charlottenburg, eine Adresse, die sich wenige leisten konnten. „Es scheint, als habe hier die Menschheit aufgehört zu seufzen und angefangen, ihres Lebens endgültig froh zu sein“, so beschrieb Robert Walser 1910 die noble Gegend. Irmgard ist 13, als die Familie berufsbedingt nach Köln umzieht.

Einige Jahre später wird sie dort als Stenotypistin für die Westdeutsche Gardinen Aktien-Gesellschaft ihr Geld verdienen. Sie besucht Lesungen, beginnt selbst zu schreiben und schickt das Ergebnis selbstbewusst einem Berliner Verlag. „Ich habe hier ein Manuskript und wünsche bis spätestens übermorgen eine Antwort.“

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Ihr Roman „Gilgi, eine von uns“ erscheint 1931. Der Schauplatz ist Köln. Es geht um eine junge Frau mit Bubikopf, Stenotypistin wie ihre Schöpferin. Selbstständig und unabhängig will sie leben – und scheitert. Mit der Liebe klappt es nicht, ihren Job verliert sie.

Sie flieht nach Berlin. Und vermeidet, dort aufs Elend zu schauen, das ihr rund um den Alexanderplatz begegnet. „Ist verflucht keine Zeit zum Schlappmachen und Weichwerden“, mahnt sie sich. Im wahren Leben folgt Irmgard Keun ihrer Protagonistin an die Spree. Und begleitet dort auch den Alltag ihrer Figur Doris, die 1932 in „Das kunstseidene Mädchen“ veröffentlicht wird.

Eleganz am Tauentzien. Die Postkarte von 1930 zeigt den Boulevard mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Eleganz am Tauentzien. Die Postkarte von 1930 zeigt den Boulevard mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

© Archiv Michael Bienert

Doris geht zu den Lesbierinnen in die Domino-Bar, hält sich lange auf in den Zuntz-Kaffeestuben, wo es billiger war als im „Romanischen“, lässt sich mit Männern ein. Im „Resi“ lernt man viele kennen, per Tischtelefon und Rohrpost.

Amüsante Tipps für den Männerfang

Bienert nimmt die Leser mit in die halbseidene, schrille Welt. Rund 200 Fotos spiegeln das Flair der Restaurants, Bars und Vergnügungsstätten der Stadt. Das Capitol am Zoo etwa hatte 1284 Zuschauerplätze und ein versenkbares Podium fürs Orchester. Die Leute liebten Filme. Rund 400 Lichtspielhäuser gab es 1926 in Berlin. Im Capitol fand die Premiere der Romanadaption von „Gilgi“ statt – und provozierte. 150 Funktionärinnen des Verbandes der deutschen Angestellten etwa wetterten: „Dass Gilgi ihre Arbeitslosenunterstützung zu nichts Dringlicherem benötigt als zur Anschaffung von Puder und Lippenstiften, ist vollends ein Hohn auf die Not der Zeit.“

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Der Film hat im Gegensatz zum Roman ein Happy End. Keun mag es nicht gezuckert. „Das Publikum will Unglück Glück werden sehen? Man irrt sich“, schreibt sie. Amüsantes formuliert sie für Zeitschriften. Im Magazin „Querschnitt“ stellt sie das „System des Männerfangs“ vor: „Erste Regel: der Eitelkeit des Mannes Futter geben“. Sie selbst pendelt später zwischen Ehemann und Liebhaber.

Auszug aus dem Buch "Nach Mitternacht", hier in einer Ausgabe von 1958.
Auszug aus dem Buch "Nach Mitternacht", hier in einer Ausgabe von 1958.

© Archiv Bienert

Den Nazis passten ihre Bücher nicht. Keine Lektüre „für ein nationalsozialistisches Volk“, heißt es. Die Werke kamen auf die Schwarze Liste. 1933 kehrt Irmgard Keun nach Köln zurück, emigriert später in die Niederlande. Sie schreibt weiter, eher Düsteres jetzt, trinkt zu viel, verliert nach dem Krieg den Anschluss.

Erst in den 1970er Jahren wird ihre Literatur wiederentdeckt. Durch Michael Bienerts Buch rückt sie zu Recht wieder in den Fokus – und Berlin dazu. Wie viel Prickeln damals in der Luft lag! Vollbesetzt mit Touristen fuhr der „Berolina-Bus“ die Linden entlang, die Stadt warb 1929 mit Attributen wie „World City – clean and beautiful, City of Music und Theaters …“

Unwirklich mutet das an, jetzt zu Corona-Zeiten. Vielleicht macht es deshalb doppelt so viel Spaß, in diesem Buch zu blättern. Es war nicht alles Gold in Berlin, aber die Stadt war prall gefüllt – mit Leben.

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