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Ordnung? Welche Ordnung? Die radikale Linke bezeichnet den 1. Mai '87 gerne als Volksaufstand. Weil so viele dabei mitmachten, dass die Polizei in Teilen Kreuzbergs bis zum Morgen keine Kontrolle mehr besaß.

© imago/Peter Homann

Der 1. Mai 1987 in Berlin: Spur der Pflastersteine

Stahlgeschosse treffen Polizeiautos, Läden werden geplündert und gehen in Flammen auf: Der 1. Mai 1987 begründete einen Mythos des Krawalls. Rekonstruktion eines Umsturzes, der am Ende keiner wurde.

So ist das, wenn Geschichte gemacht wird. Wer dabei war, hat die Bilder noch 30 Jahre später im Kopf. Farbenstark, lodernd. So ist das nach 30 Jahren mit der Nacht, in der ein paar tausend Bewohner von Kreuzberg Krawall gemacht und ein Ritual begründet haben.

Das Ritual hat verschiedene Namen. Von „Kreuzberger Krawallen“ schrieben die Zeitungen. Von „Randale“ war die Rede. Als „schwere Unruhen“ bezeichnet die Internet-Enzyklopädie Wikipedia, was unter „Der Erste Mai in Kreuzberg“ erläutert wird. „Es war der erste echte riot, den Berlin erlebte“, heißt es im radikal-linken „Archiv – Der 1. Mai in Berlin“.

Siebzehneinhalb Stunden dauerte der Polizeieinsatz. Laut einer Dokumentation der Sicherheitskräfte wurden 196 Beamte verletzt, außerdem vier Feuerwehrleute. 53 Personen wurden festgenommen. „Zahlreiche Geschäfte geplündert und in Brand gesteckt“, las man im Tagesspiegel, nachdem das Chaos im Tageslicht des 2. Mai zu sehen gewesen war. 34 Läden waren es der Polizei zufolge, darunter ein Bolle-Supermarkt, eine Drogerie, eine Apotheke, ein Getränke Hoffmann. Und ein Wäschegeschäft.

Fotos von damals zeigen schwarz-weiß und grobkörnig Brandruinen. Abgefackelte Autowracks. Verkohlte Bauwagen. Aufgerissene Straßen, Asphaltbrocken. Herumliegende Pflastersteine. Ein Polizist fühlte sich an einen „Kriegsschauplatz“ erinnert.

Der 1. Mai 1987 wurde ein Mythos. In den Jahren danach haben die einen versucht, diesen Mythos wiederzubeleben. Die anderen haben versucht, ihn zu entkräften. So ist das, wenn Geschichte gemacht wird.

Es war ein Frieden auf Zeit

Ein paar Jahre lang war es friedlich geblieben in West-Berlin – gemessen an dem, was ’81 los gewesen war. Damals, zu Beginn des Jahrzehnts, war Häuserkampf. Junge Leute besetzten runtergewohnte Altbauten, in Kreuzberg, Schöneberg und anderswo. Die Polizei holte sie da wieder raus, räumte. Der Protest gegen diese ordnungspolitische Linie war massiv. Es kam immer wieder zu Demonstrationen, die in Gewalt mündeten, zu Anschlägen. Auf der Potsdamer Straße starb ein junger Hausbesetzer, Klaus-Jürgen Rattay. Er war bei einer Demonstration gegen den damaligen Innensenator Heinrich Lummer vor der Polizei davongerannt und unter einen BVG-Bus geraten. Randale wurde das Wort der Zeit.

Die Polizei registrierte im ersten Halbjahr 1981 über 150 Brand- und Sprengstoffanschläge. 1982 gab es acht „unfriedlich“ verlaufende Demonstrationen – und weitere acht Male ereignete sich, was als Randale inzwischen geläufig war. Banken, Geschäfte wurden „entglast“. West-Berlin war in Dauererregung versetzt, Tausende junge Leute waren auf Konfrontationskurs zum Senat gegangen. Dann änderte sich die Politik: Verträge für friedliche Besetzer, dafür keine neuen Besetzungen mehr. 1983 beruhigte sich die Szene. Aber ihre Militanz war trainiert.

Es war ein Frieden auf Zeit. Vier Jahre später, 1987, sah sich die robuste linke Szene mit einer ganzen Reihe strittiger Punkte konfrontiert.

Da war die 750-Jahr-Feier, auf die sich der Senat vorbereitete, mit Festakten und Kunstwerken im öffentlichen Raum, für die plötzlich Geld vorhanden war, während Kreuzberg, die triste Ausbuchtung am Rand der Halbstadt, davon nichts abbekam. Südost 36, der südöstliche Teil des Bezirks, Lausitzer Platz: Gründerzeithäuser, viele in schlechtem Zustand. Eine graue Gegend, Ofenheizungs- und Kohlestaubgebiet. In den Straßen ein Sammelsurium von „Hausprojekten“, in denen ehemalige Besetzer zu Bewohnern wurden. Selbstverwaltete Betriebe. Und Brachen – viele Brachen.

Ronald Reagan sollte nach Berlin kommen - ausgerechnet Reagan

„Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden“. Worte aus einer anderen Zeit. Sie stehen in einem Mosaik, das den Turm der Emmaus-Kirche verziert. Der Turm aus rotem Backstein hat den Krieg überstanden. Und die Gottverlassenheit dieser Zeit. Es gab Straßenzüge, da war jeder Zweite ohne Arbeit. Von den Jugendlichen im Bezirk hatte jeder Fünfte keinen Job. Der Groll wohnte hier direkt neben dem Revoluzzertum.

Dann war da noch die Volkszählung. Das Polit-Projekt der Bundesregierung stand vor einer Neuauflage. Einmal war die Volkszählung am Bundesverfassungsgericht gescheitert. Jetzt, 1987, einte das Vorhaben Liberale, Linke und Linksradikale darin, „Ungehorsam“ zu zeigen und den Volkszählern die Tür nicht zu öffnen. Im Kreuzberger Mehringhof gab es eine „Initiative“ für den Boykott.

Und dann verkündete der Senat auch noch, dass US-Präsident Ronald Reagan der Stadt persönlich zum Geburtstag gratulieren wolle. Ausgerechnet Reagan, der für aufrechte Linke eine Unperson war. Schon bei seinem Besuch 1982 war er mit einer Straßenschlacht „gefeiert“ worden. Eine Wiederholung war zu erwarten.

Hauke Benner war ein „Autonomer“. 1987 war er Geschäftsführer in einem selbstverwalteten Betrieb und wohnte „gegenüber von Bolle“. Benner spricht über seine Zeit als radikaler Linker offen und vor allem sachlich. Keine Kriegserinnerungen, keine späten Bekundungen von Freude an umgestürzten Polizeifahrzeugen. Benner ist ein freundlicher und ernsthafter Mann, nicht groß, sehr schlank. Die 66 Jahre sieht man ihm nicht an.

Heute wohnt er in einem anderen Teil von Kreuzberg, ist Rentner, Teil einer Wohngemeinschaft in einem ausgebauten Dachgeschoss, hohe Decken, Bodenplatten aus Pressspan, viele Meter Bücher in Holzregalen und ein Sammelsurium von Bierflaschen zur Entsorgung. Er spricht als einer, der damals Teil der Bewegung war, aber er spricht nur für sich. 800 überzeugte Autonome wollte der Staatsschutz damals in Kreuzberg gezählt haben, schrieb der „Spiegel“.

Der Autonome. Hauke Benner gehörte zum Schwarzen Block. Die Randale betrachtete er als Widerstand, nicht als Gewalt.
Der Autonome. Hauke Benner gehörte zum Schwarzen Block. Die Randale betrachtete er als Widerstand, nicht als Gewalt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Politisch aktiv ist Hauke Benner immer noch. Aber jetzt geht es um die Vergangenheit. Nicht viele aus dem „schwarzen Block“ von damals sprechen darüber. Also ein paar Grundsatzfragen.

Was war das für eine Szene?

Sie bestand aus Leuten, die sich „während des Berliner Häuserkampfs kennengelernt“ hätten. „Sehr vielschichtig“ sei sie gewesen, sagt Hauke Benner. Der Schwarze Block – mit seiner Rüstung aus schwarzen Lederjacken und der Tarnung durch „Hass-Masken“, wie sie Motorradfahrer im Winter unter dem Integralhelm trugen – sei in Frankfurt am Main in der Auseinandersetzung um die Startbahn West entstanden. „Wir haben das angenommen.“ Das Selbstverständnis der West-Berliner autonomen Szene sei aber gewesen: „Wir üben keine Gewalt aus – wir machen Widerstand.“ Und es habe einen Konsens gegeben: „Wir greifen keine Menschen an, wenn Gefahr besteht, sie zu töten.“

Dieser Konsens sei aber „schwammig gegenüber den Bullen“ gewesen, räumt Benner ein. „Da wurde auch zurückgehauen.“

Autonom bedeutete: auf sich gestellt, unabhängig, auf Abstand zur Politik. Es sei in der Szene „immer strittig“ gewesen, inwieweit man Umgang mit Politikern der AL haben sollte. Die Alternative Liste stellte damals mit Werner Orlowsky den Baustadtrat in Kreuzberg.

Und die Ziele?

„Wir wollten eine andere Stadt, eine andere Politik, ein anderes System.“ Das bedeutete: Häuser, die denen gehörten, die darin wohnten, und die selbstverwaltet wurden. Fabriken, die von denen verwaltet wurden, die darin arbeiteten. „Das patriarchale System sollte ein Ende haben.“ Abgelehnt wurde ein Staat, „der nur für das Kapital agiert“.

Diskutiert wurde die Frage: „Wie können wir West-Berlin zu einer eigenständigen politischen Einheit machen?“ Die Autonomen wollten den vom SED-Regime in der DDR verwendeten Begriff „ins Positive wenden“. Eine Strategie dafür habe es nicht gegeben, sagt Hauke Benner

Einige von Benners Mitstreitern beschäftigten sich mit der Kreuzberger Stadtteilpolitik. Er selbst war mit einer Kampagne gegen den Internationalen Währungsfonds und dessen für 1988 geplanten Gipfel in West-Berlin befasst.

Zur Vorbereitung der Szene auf die Auseinandersetzung und zur Gewaltfrage sagt Hauke Benner: „Wir konnten alle gut rennen. Einige konnten gut Steine schmeißen. Einige konnten gut Mollis bauen und wussten, wie man ein Auto anzündete.“

Was war mit Waffen?

Es gab „beständige Diskussionen über die Mittel, die wir eingesetzt haben“. Auch zum Beispiel über die Zwillen. Deren Benutzung „war strittig“. Aber niemand habe einem anderen die Zwille weggenommen.

Am 1. Mai 1987 war Hauke Benner mit schwarzer Lederjacke in der Gegend um den Lausitzer Platz unterwegs. Und er war, wie wohl jeder richtige Linke, geladen. Am frühen Morgen hatte die Polizei das Büro der Volkszählungsgegner im Mehringhof aufgebrochen und durchsucht. Die erste Ansage der Staatsmacht an die Boykotteure: Jetzt wird es ernst. Das war das Thema am 1. Mai. Am Abend war „stimmungsmäßig klar: Es würde irgendwas passieren“.

Also war die Randale, die Stadtgeschichte schreiben würde, geplant?

„Nee“, sagt Hauke Benner. „Nur die Wut war da, die Wut wegen des Überfalls auf den Mehringhof.“

Es war schon immer "ein Massenbesäufnis"

In einem Haus am Paul-Lincke-Ufer, einen Kilometer entfernt, saß Wolfgang Wieland mit Freunden beim Abendessen. Es gab Spargel.

Wieland war Abgeordneter der Alternativen Liste. Die linke, urbane Öko-Partei gehörte damals nicht zum politischen Establishment. Sie sprach für die Hausbesetzer, kritisierte aus Prinzip die Polizei, unterstützte Volkszählungsgegner.

Reden, mit Schärfe und Spott und Reibeisenstimme, konnte Wieland damals schon. Später wurde er Justizsenator. Dann ging er in den Bundestag. Den 1. Mai 1987 hat er nicht vergessen.

Treffpunkt Emmauskirche, Lausitzer Platz. Vor dem Kirchturm weist Wieland nach oben, auf einen Altbau mit Blick auf den Lausitzer Platz. Da habe damals ein Mitarbeiter von ihm gewohnt. Beim Abendessen ein erster Anruf. Der Mitarbeiter aus der Fraktion habe ihn sprechen wollen. Wieland wollte aber in Ruhe zu Ende essen. Nach einer Viertelstunde noch ein Anruf vom Lausitzer Platz: „Hier brennt’s.“

Auf dem Weg hierher habe er sich „regelrecht durchkämpfen müssen“, sagt Wieland. Vorbei an brennenden Autos, brennenden Barrikaden und Containern. Er erreicht das Fest auf dem Platz. Es sei „schon immer ein Massenbesäufnis gewesen“, sagt Wieland. Was die AL Kreuzberg nicht davon abgehalten habe, Wein zu verkaufen.

Ausrücken: In Kreuzberg brennt die Luft

Randale wurde das Wort der Stunde. Mit Steinen und Zwillen wurde die Polizei attackiert.
Randale wurde das Wort der Stunde. Mit Steinen und Zwillen wurde die Polizei attackiert.

© imago/Peter Homann

19 Kilometer südöstlich davon: die Gebäude der „Direktion Einsatz“ der Berliner Polizei an der Königstraße in Zehlendorf. Für Olaf Heck war Schluss mit dem entspannten Spätnachmittag im Polizeirevier. Heck hatte am 1. Mai 1987 Bereitschaftsdienst. „Es war ein schöner, warmer Tag. Ich hatte einen 24-Stunden-Dienst und morgens um neun begonnen“, sagt er.

Olaf Heck war 24 Jahre alt, ein großer Mann, seit fünf Jahren bei der Einsatzbereitschaft der Berliner Polizei, demonstrationserfahren seit den Hausbesetzerzeiten. Aber keiner, der alle Besetzer für Kriminelle hielt. Er erzählt von einem Nachmittag, an dem er nach Feierabend Besetzer im Berliner Süden besuchte, um zu reden und zuzuhören. Ihm gefiel, wie sie ein altes Haus vor dem Verfall bewahrten. Er bedauerte, dass sie später aufgeben mussten.

Als stellvertretender Gruppenführer gehörte Olaf Heck zur Besatzung eines Mannschaftswagens, einer „Wanne“, mit etwa zehn Mann Besatzung. Den Nachmittag hatten er und seine Kollegen mit Softball-Tennis auf dem Hof zugebracht. „Dann kam die Nachricht: Zieht euch mal um – in Kreuzberg brennt die Luft!“

Viel umzuziehen war nicht. Schienbeinschoner, dünne Lederhandschuhe, ein Helm, mehr an Ausrüstung hatten sie nicht. Keine Protektoren für die Schultern und den Oberkörper wie heute, keine dicken Handschuhe. Nach dem, was er am 1. Mai 1987 erleben sollte, ging Olaf Heck in ein Sportgeschäft in Steglitz, um sich einen „Tiefschutz“ zu kaufen, wie ihn Kampfsportler zur Polsterung des Genitalbereichs benutzen.

Sie waren noch auf dem Weg Richtung Kreuzberg, da „riefen die Kollegen schon nach Unterstützung“, sagt Olaf Heck. Als er die Tür des Mannschaftswagens aufmachte, ein Mercedes Kastenwagen, Ausstieg hinten, „da bekam ich schon den ersten Stein ab, auf den Oberschenkel. Der nächste Stein traf den linken Daumen. Da war es noch hell.“

Von diesem Moment an gibt es nur noch Perspektiven auf das Kreuzberg dieses Tages. Unterschiedliche. Gegensätzliche. Unvereinbare.

Da ist die von Hauke Benner, der dabei war, als am Lausitzer Platz „eine Bullen-Wanne umgekippt“ wurde, der Platz „umringt wurde von immer mehr Polizei“. Nach 18 Uhr habe die Tränengas eingesetzt. „Das hat die Stimmung zum Kippen gebracht. Die haben das wirklich deutlich eskaliert. Die Polizei wusste auch: Es gab genügend Leute, die dann einen Stein in die Hand nehmen.“

Wolfgang Wieland sagt: Die Polizei war „in deutlicher Unterzahl“.

Olaf Heck bestätigt das. Bald habe „nachalarmiert“ werden müssen, erinnert er sich. Es war der Freitag am Beginn eines langen, warmen Wochenendes. Viele Telefone klingelten in leeren Wohnungen.

Barrikaden, Feuer, Steinhagel. Autonome unter Hasskappen, zehn von ihnen kippen ein Auto um, einer wirft einen Brandsatz hinein. Dann verschwinden sie wieder in der Menge

Wolfgang Wieland sagt, es habe keine Möglichkeit der Schlichtung und Deeskalation gegeben.

Olaf Heck sagt, die Auseinandersetzungen sei einer Art Muster gefolgt: Es wurden Barrikaden errichtet, Feuer angezündet und Schaufenster eingeschlagen, es wurde „so ein Rabatz gemacht, dass wir einschreiten mussten. Wir haben den Platz geräumt. War er leer, haben sie sich an der nächsten Ecke wieder gesammelt und uns erneut angegriffen.“

Der Polizist. Olaf Heck hatte am 1. Mai Bereitschaftsdienst und geriet mit seinem Mannschaftswagen in den Steinehagel.
Der Polizist. Olaf Heck hatte am 1. Mai Bereitschaftsdienst und geriet mit seinem Mannschaftswagen in den Steinehagel.

© Polizei Berlin

Der Polizist erinnert sich an einen Moment unter der Hochbahn am Lausitzer Platz, der ihm wegen der „Masse“ der Randalierer und der Intensität der Auseinandersetzung im Gedächtnis blieb. Mit etwa 30 Kollegen sah er sich einer „Wand von Schwarzgekleideten und Vermummten“ gegenüber: „Wir mussten agieren, damit wir sie uns vom Pelz halten, nach vorne gehen, um sie auf Distanz zu halten.“

Skandiert wurden die üblichen Parolen. „Haut ab! Haut ab!“ – „Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass!“ – „Bullen, verpisst euch!“

„Den Schwarzen Block in der damaligen Größenordnung gibt es nicht mehr, heute fehlt der politische Hintergrund“, sagt Olaf Heck. Und ergänzt, dass die „Profis der linken Szene ganz genau wussten, was sie machten“. Seine Leute und er seien für die bloß „das Hassobjekt Staat“ gewesen. Denen „war egal, was mit dem Mensch in der Uniform passiert“.

Er habe, sagt Heck, „’ne gewisse Angst gehabt“, die aber etwas Gutes hatte: „Dann ist man vorsichtig.“ Seine Ansage an die Mannschaft: „Wir bleiben immer zusammen – keine Einzelaktionen!“ Trotzdem sei ein älterer Kollege „auf einmal verschwunden“ gewesen. Gefunden habe man ihn dann hinter einem Marktstand auf dem Lausitzer Platz, ohne Helm und „zusammengeschlagen“. Die Auseinandersetzung sei insgesamt „recht heftig“ gewesen, doch „die Brutalität nicht neu“. Ähnliches habe er bei anderen großen Demonstrationen der Zeit erlebt. Dazu gehörte der Einsatz von Zwillen. Verschossen wurden damit „Stahlkugeln, Muttern, Glasmurmeln – auf die Autos und auf die Kollegen. Bei zwei Mannschaftswagen wurde der Kühler durchschossen.“ Die aus Zwillen abgeschossenen Stahlkugeln hätten einen Helm durchschlagen können. Das, sagt Olaf Heck, sei aber am 1. Mai nicht passiert.

Wie wird sich das angefühlt haben für die Polizei? Nacht. Qualm. Tränengasschwaden. Klirrende Scheiben, zerbrechendes Glas. Zu zehnt unterwegs. Irgendwo fängt es an zu brennen. Man läuft hin. Steine fliegen auf einen zu, knallen auf den Helm, treffen die Arme. Die Feuerwehr kommt nicht durch. „Bullen, verpisst euch!“ Der Mannschaftswagen fährt nicht mehr: Der Kühler von einer Stahlkugel durchbohrt, ausgelaufen. Und dann der irre Lärm von der Hochbahntrasse: Über Stunden hämmerten Leute auf die eisernen Träger.

Eine Gemeinschaft in Lederjacken

Wieland sagt, die Polizei habe sich etwa um 23 Uhr zurückgezogen. Dann habe sich die Lage etwas beruhigt. „Die Szene glaubte, den absoluten Sieg davongetragen zu haben.“ Wieland selbst sagte sich damals: „Das war es jetzt. Hier ist politisch nichts auszurichten.“

Die Sicht der Autonomen: Kreuzberg bullenfrei. Eine Gemeinschaft in Lederjacken, Jeans, T-Shirts mit dem roten Stern drauf. Stärker als der Staat. Und völlig außer Kontrolle. Frei.

Frei?

Der ganze Kiez war unterwegs, viele machten beim Plündern mit, auch „Normalbevölkerung“, wie Wieland sagt, vom 13-jährigen Halbwüchsigen bis zur 70-jährigen Oma. Am Heinrichplatz hat Wieland eine türkische Familie gesehen, „die einen ganzen Kleiderständer vor sich herschob. Ausnahmezustand.“

Eine Sache aber machte Wieland Hoffnung: Die Leute aus den besetzten – und damals schon mit Mietverträgen ausgestatteten – Häusern hatten kein Interesse an Zerstörung. Die hätten „militant ihre eigenen Bauwagen geschützt“, sagt Wieland. Für ihn war das die Bestätigung der Politik der Vernunft im Umgang mit den Hausbesetzern, es zeigte, dass die „Legalisierung völlig richtig“ war.

Nur spärlich geschützt, versuchte sich die Polizei gegen die Randalierer zu behaupten und musste sich vielerorts zurückziehen.
Nur spärlich geschützt, versuchte sich die Polizei gegen die Randalierer zu behaupten und musste sich vielerorts zurückziehen.

© imago/Peter Homann

Quer über die Straße, zum „Bolleplatz“. Eine Moschee steht an dem Ort, an dem am 1. Mai 1987 der Supermarkt geplündert und in Brand gesetzt wurde. Komplett ausgeräumt, nie wieder eröffnet. Seine Tochter, die nebenan zur Schule ging, sei traurig gewesen, sagt Wieland. Bei Bolle kauften die Kinder nach der Schule Süßigkeiten.

Hauke Benner sagt: „Auch unsere Leute holten da Flaschen mit Alkohol raus – um sie zu zertrümmern.“ Zu viele der Feiernden seien schon zu betrunken gewesen. Wieland erinnert sich an einen Mann, den er in der Wiener Straße vor einem geöffneten Verteilerkasten sah. Der Mann spielte mit einem Stromkabel und ließ immer wieder Funken sprühen: „Er freute sich dran, war überhaupt nicht ansprechbar.“ Nicht weit davon entfernt sah Wieland einen einzelnen Polizeiführer auf einer Parkbank sitzen, verzweifelt. „Es gab eben wenig Vernunft – oder gar keine – in dieser Nacht.“ Als Politiker und als Kreuzberger wollte er vermitteln. Doch Verständigung war nicht möglich.

Hauke Benner sagt, Angst habe er nicht gehabt in dieser Nacht. Aber irgendwann habe er entschieden: „Uns reicht’s, wir gehen hier jetzt raus. Es waren zu viele Besoffene unterwegs.“

"Unfassbar, was ihr hier aushaltet."

Nach den Ereignissen legte der Polizist Michael Stricker eine Analyse der Ereignisse vor. In seinem Buch „Der 1.Mai 1987 – Demaskierung eines Mythos“ versucht er, die Behauptung vom polizeifreien Kiez zu widerlegen. Stricker listet die Vorgänge auf Grundlage der Funkprotokolle akribisch auf. Um 20 Uhr 20 brennt das erste private Auto. Kurz nach 22 Uhr 30 seien die Angriffe der Autonomen „immer stärker“ geworden. „Heranfliegende ,Mollis’ wurden von zwei Beamten mit den Schutzschilden abgewehrt. Diese zerplatzten in deren Armhöhe. Dabei fingen die Einsatzanzüge an den Ärmeln Feuer. Ebenso floss brennendes Benzin über die Schilde. Während die Anzüge schnell gelöscht werden konnten, verbrannten die weggeworfenen Schilde auf der Fahrbahn.“

Doch ein polizeifreies Kreuzberg habe es, so Strickers Fazit, nie gegeben. Stattdessen seien die Kräfte in der Nacht verstärkt worden und waren ständig „in den Gewaltbereichen eingesetzt“. Unbestritten sei aber, „dass einzelne Straßenzüge und Plätze über längere Zeit in der Hand der Autonomen und der Plünderer waren“.

Der Ausnahmezustand musste sich erschöpfen.

Olaf Heck erinnert sich an den frühen Morgen, an Menschen, die den Polizisten eine Thermoskanne mit Kaffee brachten: „Unfassbar, was ihr hier aushaltet!“ Seine Bilanz nach einer Nacht, in der er und seine Kollegen zuletzt aufgebrochene Geschäfte bewachen mussten, um weitere Plünderungen zu verhindern: „Kein Auto, das am Straßenrand stand, war unbeschädigt. Irgendwann am frühen Morgen war der Einsatz dann zu Ende. Die Sonne war schon aufgegangen.“

Hauke Benner nimmt den Eindruck eines „tollen Erlebnisses“ mit: ein Stadtteil, wo keine Polizei mehr war und später trotzdem Frieden einkehrte. „Ein breites Grinsen am nächsten Morgen – daran kann ich mich noch gut erinnern.“

Olaf Heck: „Die haben ihren eigenen Kiez in Schutt und Asche gelegt.“

Es sei „völliger Blödsinn“ gewesen, sagt Hauke Benner, dass auch kleine Läden zertrümmert worden seien. „Da ist hinterher viel an Selbstkritik gelaufen – auch wenn die Autonomen dafür gar nicht verantwortlich waren.“ Es waren „die falschen Leute geschädigt“ worden. Deshalb habe die Szene Geld für die Opfer gesammelt und „das Gespräch mit den Leuten gesucht“.

Die Antwort auf das lästige Ritual lautete: Myfest

Der Einsatz endete um 06.34 Uhr. Und in West-Berlin begann ein Sommer des Glasbruchs.

Als Präsident Reagan Mitte Juni eintraf, errichteten sie auf dem Heinrichplatz Barrikaden. Festnahmen und Randale folgten. Innensenator Wilhelm Kewenig ließ den nördlichen Teil Kreuzbergs und den Bezirk Tiergarten abriegeln. Bei Reagans Rede am Brandenburger Tor („Mister Gorbachev, tear down this wall!“) wurden Demonstranten eingekesselt. An den folgenden Abenden: Randale in SO 36. Wo die Polizei Präsenz zeigte, lag Ärger in der Luft. Doch der Senat und die Polizei standen unter Handlungsdruck. Umso massiver war die Präsenz der Mannschaftswagen.

Berliner Binnengefühle im Sommer ’87: auf der einen Seite die Szene mit ihrer Wut, auf der anderen die Politik, die sich mühte, der heruntergekommenen Stadt zu ihrem 750. Jubiläum ein bisschen Glanz zu verleihen.

Eine „Hochspannungszeit“ sei das gewesen, sagt Wolfgang Wieland. In der Szene herrschte der Eindruck: „Das ist der Ku’damm-Senat, der das Sektglas nie aus der Hand gibt.“ Und für Kreuzberg nicht viel übrig hat.

Der Politiker. Wolfgang Wieland versuchte als Abgeordneter der Alternativen Liste, zwischen den Fronten zu vermitteln.
Der Politiker. Wolfgang Wieland versuchte als Abgeordneter der Alternativen Liste, zwischen den Fronten zu vermitteln.

© Imago

Hauke Benner spricht von einer „Machtprobe zwischen Senat und der organisierten Linken in Kreuzberg, die entschlossen war, die Machtprobe anzunehmen“.

Als Reaktion auf die Mai-Randale wurde eine Polizei-Einheit geschaffen, die sich auf die Festnahme von Straftätern bei Großdemonstrationen spezialisierte: die „Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training“, kurz EbLT. Sie erwarb sich den Ruf einer harten Truppe und wurde nach etwa zwei Jahren aufgelöst.

Außerdem wurden die Kühler der Mannschaftswagen mit Gittern vor Geschossen geschützt. Die Haltegriffe am Fahrzeugheck wurden demontiert, nachdem Randalierer versucht hatten, sie mit langen Erdnägeln zu blockieren. Vor jedem 1. Mai wurden in Kreuzberg umfassende Halteverbote angeordnet, Glascontainer und Straßenbaustellen abgeräumt oder von Hundertschaften geschützt, damit die Haufen von Pflastersteinen nicht als Munition für die Steinewerfer dienten.

Vergebens. Als sich die Ereignisse 1988 wiederholten, hatte sich ein Ritual für Leute etabliert, die den Reiz einer Straßenschlacht erleben wollten. Türkische junge Männer waren nun darunter, Polit-Touristen aus West-Deutschland, Maoisten.

Irgendwann wurde das Ritual ermüdend. Autos wegfahren. Halteverbote beachten. Am besten gar nicht da sein um den 1. Mai herum.

Die Ermüdung führte zum „Myfest“. Leute aus Kreuzberg organisierten in Absprache mit der Polizei eine Straßenfeier. Sie zeigten: Wir wollen hier keine Gewalt. Es funktioniert seit 2003. Die Randale wurde zur Randerscheinung. Doch bis heute horcht man in Kreuzberg und dem Rest der Stadt auf, wenn autonome Kreise Ärger in Aussicht stellen.

Ruhe vor dem Sturm.
Ruhe vor dem Sturm.

© imago/Peter Homann

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