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Schlechte Voraussetzungen für Homeschooling: Geflüchtete Familien wohnen in Berliner Notunterkünften meist auf engstem Raum.

© Bernd Settnik/dpa

Den Anschluss verloren: Wie geflüchtete Familien das Homeschooling erleben

Es fehlt an Platz, technischer Ausstattung und Unterstützung beim Lernen. Geflüchteten Kindern und Jugendlichen fällt das Lernen zuhause besonders schwer.

Als Nesrin Asima vor fünf Jahren mit ihren vier Kindern aus Syrien floh, stand ihr das Wasser im Boot bis zu den Knöcheln. Gemeinsam schafften sie es schließlich bis nach Berlin, Vater Amaere kam 2017 hinterher. Seitdem versucht die palästinensische Familie, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden, von der sie sich eine bessere Zukunft erhofft.

„Die letzten Monate sind schwer für uns gewesen“, sagt Nesrin Asima und meint damit bei Weitem nicht nur die Pandemie. Vor knapp drei Monaten hat die Familie ihren ältesten Sohn verloren. Nun leben die Asimas nur noch zu fünft in der Unterkunft, die ihnen von der sozialen Wohnhilfe des Bezirks Neukölln zugewiesen wurde. Tochter Sidra ist 16 Jahre alt, die beiden Söhne Maher und Amer sind neun und sieben.

Die Wohnung der Asimas besteht aus zwei kleinen Räumen und einer Kochnische, Rückzugsmöglichkeiten bietet sie kaum. Nach Schließung der Schulen sollte sie einen Ort ersetzen, an dem die Kinder nicht nur lernen, sondern auch Deutsch sprechen und sich mit ihren Freundinnen und Freunden treffen. „Die drei geben sich viel Mühe, das Beste aus der Situation zu machen“, sagt Nesrin Asima, die bis zur Zulassung der Notbetreuung jeden Tag mit den Kindern und deren Hausaufgaben verbracht hat.

Wie ihr Mann spricht die Mutter nur wenig Deutsch, kam deshalb in der Rolle der Lehrerin schnell an ihre Grenzen: „Ich hatte ständig Angst, dass ich ihnen etwas Falsches beibringe.“ Asima spürte, wie sich die Unsicherheit auf die Kinder übertrug. „Maher hatte immer Freude an der Schule“, sagt sie traurig. „Aber inzwischen habe ich das Gefühl, dass er es einfach nicht mehr versteht.“

Das von der Schule zugemailte Lernmaterial druckte Asima mit ihrem Smartphone in Copyshops aus. Ausgefüllte Blätter fotografierte sie und mailte sie an die Schule zurück. Einen Computer besitzen die Asimas nicht. Einen Laptop würde sich die Mutter ohne Hilfe ohnehin nicht zutrauen, ein Tablet schon eher.

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Unterstützung bekamen die Asimas schließlich vom gemeinnützigen Verein „Moabit hilft“. Mithilfe von Spenden organisierte er einen Drucker für die Familie und setzte sich dafür ein, dass die Kinder in die schulische Notbetreuung können. Diana Henniges, die Gründerin der Organisation, ist sich sicher: „Ohne den Todesfall hätten die Asimas die Notbetreuung nicht bekommen.“ Die Anfragen geflüchteter Familien würden oft zurückgewiesen, Homeschooling unter unmöglichen Bedingungen sei Regel statt Ausnahme.

So etwa beim neunjährigen Kore Inan (Name geändert) in Hellersdorf. Mit seinen kurdischen Eltern ist er vor knapp fünf Jahren aus der Türkei nach Deutschland geflohen. Obwohl es der Familie wie den Asimas an Platz und Ausstattung fehlt, wurde ihr Antrag auf Notbetreuung abgelehnt. Jeden Dienstag und Donnerstag fährt seine Mutter mit Kore zur Schule, gibt Hausaufgaben ab und bekommt einen neuen Stapel in die Hand.

Keine Möglichkeit, beim Lehrer nachzufragen

„Ich schaffe es nicht immer, die Hausaufgaben rechtzeitig fertig zu bekommen“, sagt Kore, der weitestgehend auf sich allein gestellt ist. Vor ein paar Tagen habe er nicht gewusst, wo er die Aufgaben finden könne: „Da stand eine neue Abkürzung, die ich noch nicht kannte.“ Einen Weg, den Lehrer rechtzeitig zu kontaktieren, gab es laut dem Kind und seinen Eltern nicht.

Am meisten wünscht sich Kore Hilfe bei den Deutschhausaufgaben. Wie der Schulunterricht finden auch die Sprachkurse seiner Eltern derzeit nicht statt. Den Tag, an dem er wieder in die Schule kann, sehnt er herbei: „Ich vermisse meine Freundinnen und Freunde – und sogar den Lehrer.“

„Es kommt so gut wie nichts“

Mit Zuständen wie diesen wird Henniges laut eigener Aussage täglich konfrontiert, sowohl in dezentralen Notunterkünften als auch in den Heimen. Wütend sei sie vor allem auf die Landespolitik, die einen maroden und überlasteten Lehrapparat zu verantworten habe: „Im März sind wir bald ein Jahr mit dem Homeschooling beschäftigt, aber es kommt so gut wie nichts.“

Tatsächlich erklärte jüngst die Beauftragte des Senats für Migration und Bildung, Katarina Niewiedzial, geflüchtete Kinder als „besonders gefährdet“. In vielen Haushalten fehle es an technischer Ausstattung und fachlicher Begleitung. Geflüchtete Schülerinnen und Schüler sollten deshalb in die Notbetreuung, zugleich benötige es weitere Maßnahmen.

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Auf Nachfrage des Tagesspiegels verweist die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie vor allem auf das Angebot der sogenannten Ferienschulen. Diese richteten sich explizit an junge Geflüchtete, außerdem unterstütze man Betroffene mit Vor-Ort-Lerngruppen und kostenlosen Tablets. Bereits im vergangenen Sommer hatte das Land angekündigt, 50.000 Geräte für bedürftige Schüler:innen in Berlin bereitzustellen. Rund 31.000 davon wurden laut der Bildungsverwaltung inzwischen herausgegeben.

„Wir ermutigen alle, die noch kein Gerät erhalten haben, aktiv zu werden und noch einmal nachzufragen bei den Schulen“, sagt Sascha Langenbach vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). In den Sammelunterkünften des Landesamts veranstalteten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Ehrenamtliche betreutes Lernen.

Gemeinschaftsräume sollen geöffnet werden

Zudem bittet Langenbach die Einrichtungen darum, ihre Gemeinschaftsräume trotz Corona für die Kinder zu öffnen: „Uns ist bewusst, dass die Räumlichkeiten in den Unterkünften manchmal sehr beengt sind.“ Das LAF versichert außerdem, dass in allen seiner 80 Einrichtungen Internetanschlüsse vorhanden seien. Wie es in den Unterkünften aussehe, die den Bezirken unterstehen, könne man nicht beurteilen.

Für Henniges betreiben öffentliche Stellen wie die Senatsverwaltung für Bildung Augenwischerei: „Es wird suggeriert, dass viele Rechner unterwegs seien“, sagt sie. „aber bei uns gibt es nicht einen Geflüchteten, der so ein Gerät erhalten hat.“ Höre man sich an den Schulen um, werde schnell klar, dass mit der Beantragung ein enormer bürokratischer Aufwand verbunden sei: „Eltern von Geflüchteten sind schon allein sprachlich überhaupt nicht in der Lage, sich da durchzukämpfen.“

Schluss mit dem „Flickenteppich“

Auch die Realität in Sachen Internetzugang sei eine andere. „Es gibt sogar brandneue Unterkünfte, in denen der Internetanschluss fehlt“, sagt Henniges. Um den Ansprüchen des Homeschoolings gerecht zu werden, müsse jedes Kind, das Leistungen beziehe, ein Endgerät erhalten – im Idealfall mit einem LTE-Stick. Alles andere laufe auf einen „Flickenteppich“ hinaus.

Im Moment könnten viele Kinder weder den Anschluss zur Klassengemeinschaft aufrechterhalten, noch bestehe Kontakt zu den Lehrer:innen. „In diesen Bereichen, wo so gut wie niemand hinsieht, erleben wir einen Totalausfall der Schulpflicht in Deutschland“, sagt Henniges. Sie ist sich sicher: „Wenn wir so weitermachen, wächst da eine verlorene Generation heran.“

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