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Blick von außen. Christian Schulz ist Leiter der Operativen Fallanalyse des Berliner Landeskriminalamtes. Die Profiler kommen zum Einsatz, wenn die Mordermittler Hilfe brauchen.

© Stefan Weger

Dem Mörder auf der Spur: Wie Berlins Profiler geheimnisvolle Fälle lösen

Christian Schulz kommt zum Einsatz, wenn die Mordkommission Hilfe braucht. Hier rekonstruiert er, wie die Fallanalyse einen mysteriösen Tatort erklären konnte.

Mordkommission Berlin, Keithstraße, dritter Stock. Christian Schulz, der Leiter der Operativen Fallanalyse (OFA), öffnet die Tür zum Innersten:

Das Zimmer, in dem sich die Berliner Profiler einschließen, wenn sie versuchen, einem Mörder oder Serienvergewaltiger auf die Spur zu kommen, umgeben von Fotos der Spurensicherung, der Mordkommission, Keithstraße, dritter Stock.

Schulz und sein Team kommen zum Einsatz, wenn die Mordkommissare Unterstützung benötigen. Oft handelt es sich um Altfälle, sogenannte Cold Cases, fast immer um außergewöhnliche Verbrechen. Schulz will einen Fall heraussuchen, an dem sich exemplarisch zeigen lässt, wie die Profiler arbeiten. Doch als der OFA-Chef den Raum betritt, sieht man an den Wänden: nichts.

Herr Schulz, warum hängen hier gar keine Fotos?

Ich habe einen besonders kniffeligen Fall herausgesucht. Und was Sie hier sehen, entspricht ungefähr der Ausgangslage, mit der wir arbeiten mussten, als wir den Fall übernommen haben.

Worum ging es?

Um den Mord an einer älteren Frau, der anfänglich wie ein Unfall aussah, weil die Obduktion keine Todesursache erbracht hatte. Es lag nur ein Foto vor von der bereits stark verwesten Toten im Badezimmer. Die Angehörigen hatten die Wohnung bereits gereinigt und der Leichnam war eingeäschert. Es gab einen einzigen Zeugen, aber seine Aussage konnte man nicht verwerten.

Sie haben sich also an diesem Besprechungstisch mit der grünen Plastikdecke versammelt. Vor ihnen hängt ein riesiger Berlinstadtplan, in der einen Ecke steht ein Flipboard, in der anderen ein Kühlschrank.
An der Stirnseite sitzt der Moderator, also der Verantwortliche der Fallanalyse, aber das bin nicht immer ich.

Es geht los mit einer Art Einführung?
Ja, das übernehmen die Mitarbeiter, die vorher Spezialaufgaben zugewiesen bekommen haben. Einer kümmert sich um die Leiche, also die rechtsmedizinischen Erkenntnisse. Einer schaut sich alles zum Tatort an, also beispielsweise die Befunde und Belege der Spurensicherung und der KTI, also des kriminaltechnischen Instituts. Und der Dritte ist zuständig für das Opfer und die Frage: Um was für einen Menschen handelt es sich? Leiche, Tatort, Opferbild - das sind die wichtigsten Säulen für die Fallanalyse. Jeder hält sozusagen zu Beginn der Fallanalyse einen kleinen Vortrag zu seinem Spezialgebiet.

Wo bleibt das Täterprofil?
Das kommt ganz zum Schluss. Tatsächlich ist das Täterprofil in der Regel der kleinste Teil der Analyse - und auch der unsicherste.

Deshalb mögen Sie es nicht, wenn man Sie Profiler nennt?
Ich bin nicht beleidigt, wenn man mich Profiler nennt, das hat sich ja so eingebürgert. Aber die Bezeichnung beschreibt nicht unsere Tätigkeit und deshalb wollen wir weg von diesem Begriff. Wir analysieren Fälle. Ein Täterprofil ohne Fallanalyse ist nicht möglich. Deshalb haben wir uns damals, als wir in Deutschland vor zwanzig Jahren anfingen, auf den Ausdruck Operative Fallanalyse geeinigt.

Das Rätsel um die Tote im Badezimmer I: Die Leiche war längst eingeäschert und die Wohnung geputzt. Doch dann fand die Polizei im Wohnzimmer Spuren.
Das Rätsel um die Tote im Badezimmer I: Die Leiche war längst eingeäschert und die Wohnung geputzt. Doch dann fand die Polizei im Wohnzimmer Spuren.

© Polizei/Repro: Weger

Führen Sie uns ein in den Fall der Toten im Badezimmer!
Am 18. Februar 2011 informierte eine Frau die Polizei und gab an, dass ihr Lebensgefährte Andreas H. vor etwa zwei Wochen in Wedding seine ehemalige Nachbarin Gertrud L. besuchen wollte, aber als der 38-Jährige ankam, stand angeblich die Tür offen und er hat sie tot im Bad gefunden. Vor lauter Panik sei er rausgerannt und habe die Tür hinter sich zugezogen. Weil er Angst hatte, selbst verdächtigt zu werden, habe er es erst niemandem erzählt. Gegen Andreas H. war schon einmal wegen eines Tötungsdelikts ermittelt worden.

Dieses Verhalten machte ihn vermutlich erst recht verdächtig?
Auch die Angehörigen hatten vermutet, dass da etwas nicht stimmt. Aber es konnte bei der Obduktion nicht festgestellt werden, ob die Frau durch einen natürlichen Tod, einen Unfall oder gewaltsam zu Tode gekommen ist.

Weil sie so stark verwest war?
Das erschwerte die Sache zusätzlich. Es gibt aber auch Tötungsarten, die nicht so leicht feststellbar sind. Es gab jedenfalls keine klar abgrenzbaren Verletzungen.

Also hat die Polizei die Wohnung wieder freigegeben?
Und die Frau wurde bestattet. Am 8. März stellten die Angehörigen dann fest, dass vom Konto der Frau Geld abgehoben worden war. Und zwar offenbar kurz vor dem Tod, aber auch danach. Andreas H. gab zu, dass er das war, behauptete aber, nichts mit dem Tod von Gertrud L. zu tun zu haben. Die EC-Karte habe er auf dem Weg samt Pin-Nummer zufällig in einem Mäppchen gefunden. Angeblich wusste er nicht einmal, dass das Konto seiner ehemaligen Nachbarin gehörte. Die Mordkommission nahm ihn fest.

Verbrechen in Berlin:

Aber sie konnte nicht beweisen, dass er lügt?
Wir hatten kein objektiv belegbares Tötungsdelikt, also keine Todesursache, keinen genauen Todeszeitpunkt und einen Zeugen, der auch Täter sein könnte. Die Mordkommission hoffte, dass wir mit unserer objektiven Methodik da vielleicht ein bisschen mehr Fleisch drankriegen, insbesondere in der Tathergangsrekonstruktion.

Als Sie übernahmen, hatten sich drei dicke Aktenordner angesammelt, die jetzt hier vor uns auf dem Tisch liegen.
Wir sind extrem gut vorbereitet, wenn wir mit der Fallanalyse beginnen. Jeder hat die Akten kurz vorher komplett gelesen, aber jeder jeweils aus einem anderen Blickwinkel.

Was machen Sie anders als die Mordkommissare?
Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal ist, dass wir vor allem die objektiven Daten fokussieren. Bei spektakulären Fällen gibt es oft hunderte Hinweise aus der Bevölkerung. Die ignorieren wir.

Sie trauen Zeugen nicht?
Wir Ermittler sind alle abhängig von Zeugen, aber man muss sehr genau prüfen, ob diese Aussagen auch der Wahrheit entsprechen. Das heißt nicht, dass die Menschen absichtlich lügen, aber sie können durchaus Täuschungen unterliegen. Wenn die Polizei tief in einen Fall eintaucht, mit Angehörigen und Nachbarn spricht, kann die Wahrnehmung der Ermittler auch von diesen Zeugen beeinflusst werden.

Das Rätsel um die Tote im Badezimmer II: Die Polizei findet an der Schrankwand winzige Blutflecken. Jemand hatte sie beim Beseitigen der Spuren übersehen.
Das Rätsel um die Tote im Badezimmer II: Die Polizei findet an der Schrankwand winzige Blutflecken. Jemand hatte sie beim Beseitigen der Spuren übersehen.

© Polizei/Repor: Weger

Sie können die Polizei in eine komplett falsche Richtung führen?
Das ist schon vorgekommen. Bei verschwundenen Kindern gibt es oft Zeugen, die beschwören, das Kind lebend irgendwo gesehen zu haben. Die Polizei muss diesen Hinweisen nachgehen, wir können sie ignorieren, solange sie nicht objektiv begründbar sind.

Wie trennen Sie die Spreu vom Weizen?
In der Fallanalyse bewerten wir jede einzelne Aussage. Wenn also beispielsweise ein Nachbar angibt, dass das Opfer um 0.30 Uhr getötet wurde, weil es genau zu dieser Uhrzeit gepoltert habe, dann fragen wir: Fakt - oder nicht Fakt? Irrte er sich in der Zeit? Und fand das Poltern wirklich in der Wohnung des Getöteten statt?

Sie ziehen also andere Quellen heran?
Und was fraglich bleibt, fliegt raus. Wir nehmen die Aussage erst als wahr an, wenn auch andere Nachbarn das Poltern genau um diese Zeit genau aus dieser Wohnung gehört haben.

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Wir befinden uns bei Gertrud L. immer noch bei Tag eins. Wie ging es weiter?
Bevor wir in die Analyse gehen, sammeln wir die offenen Fragen, die sich aus dem Aktenstudium ergeben haben. Die geben wir dann weiter an die Mordkommission. Also zum Beispiel: Gab es einen Hinweis darauf, dass Gertrud L. mal ihren Schlüssel verloren hat?

Sie lösen während der Analyse auch neue Ermittlungen aus?
Ja, und dann kommen wir zum absoluten Kernstück jeder Fallanalyse: die Tathergangsrekonstruktion. In diesem Fall waren vor allem die Gewohnheiten und der Charakter des Opfers besonders relevant. Wir mussten Gertrud L. erst einmal kennenlernen, um auf den Täter zu kommen.

Wie machen Sie das?
Als sich Mitte März herausstellte, dass es sich um ein Kapitalverbrechen handeln könnte, hat die Polizei die nun gereinigte Wohnung noch einmal besichtigt und einige Spuren und Gegenstände sichern können.

Zum Beispiel?
Ein Tagebuch, eine aufgeschlagene Fernsehzeitung, verwischtes Blut an der Toilette ... Im Wohnzimmer hat man etliche Blutspuren gefunden und festgestellt, dass offenbar jemand versucht hatte, das Blut wegzuwischen. Die Mordkommission hat dann bei der Rechtsmedizin eine Blutspuren-Muster-Analyse in Auftrag gegeben.

Ein Tagebuch ist doch ein Volltreffer, wenn man jemand näher kennenlernen will, oder?
Das Tagebuch von Gertrud L. zeigte als letzten Eintrag den 7. Februar. Das sagt aber erstmal gar nichts aus, wenn das Opfer es nur alle fünf Wochen und für ganz besondere Ereignisse herausgeholt hat. Außerdem können auch Tagebücher lügen. Wir haben jeden einzelnen Eintrag darauf überprüft, ob er als objektive Grundlage für unsere Hypothesen dienen kann.

Das Rätsel um die Tote im Badezimmer III: Eine Expertin der Rechtsmedizin analysierte die Blutspuren und diskutierte das Ergebnis dann mit dem Profiler-Team.
Das Rätsel um die Tote im Badezimmer III: Eine Expertin der Rechtsmedizin analysierte die Blutspuren und diskutierte das Ergebnis dann mit dem Profiler-Team.

© Polizei/Repro: Weger

Was für ein Mensch war Gertrude L.?
Einer, der manchmal sogar mehrmals täglich ins Tagebuch schrieb und alles festgehalten hat: Wann sie schlafen und einkaufen gegangen ist, wann sie telefoniert, ferngesehen und gewaschen hat. Sie war sehr vorsichtig, was Fremde angeht, hat hinter sich immer die Wohnungstür abgeschlossen.

Was für ein Verhältnis hatte sie zu Andreas H.?
Er hatte ein paar Jahre bei ihr im Haus gewohnt, kleinere Arbeiten für sie erledigt, Fenster geputzt, Laminat ausgelegt und auch das Schloss der Wohnungstür ausgewechselt.

Wie gut kennen Sie ein Opfer am Ende einer Analyse?
Oft besser als jeder andere. Weil wir aus verschiedensten Quellen unsere Informationen erhalten. Wir haben Informationen von Eltern, Geschwistern, Kollegen, Sportfreunden, Bekannten, Nachbarn, besten Freunden und hören von jedem etwas Neues oder Anderes über das Opfer. Dazu kommt heutzutage noch Social Media, wo wir extrem viel über das Opfer und seine Vorlieben erfahren.

Wie viele Tage schließen Sie sich hier zum Brainstorming ein?
In der Regel drei bis fünf Tage, wir arbeiten am Tag mit Pausen etwa elf Stunden lang. Fallanalyse ist reine Teamarbeit. Alle, die meinen, alleine und aus der Ferne eine Fallanalyse machen zu können, sind hoch unseriös und unprofessionell. Ein Team erzeugt viel mehr Kreativität, man kommt nicht von alleine auf so viele Ideen, Optionen und Möglichkeiten. Und das Wichtigste: Das Team funktioniert als Korrektiv. Jede These muss überprüft und gegebenenfalls wieder aussortiert werden.

Gibt es so etwas wie eine goldene Regel?
Die banalsten Hypothesen sind meist die wahrscheinlichsten. Die wenigsten Taten sind bis ins Kleinste geplant.

Wie haben Sie es geschafft, den Todestag von Gertrud H. zu bestimmen und zu rekonstruieren?
Wir sammelten Hinweise: Die Fernsehzeitung war auf dem 6. Februar aufgeschlagen. Sie hatte offenbar gerade ein Mittagessen zubereitet. Dafür, dass die Tat am Tag stattfand, sprachen auch die geöffneten Vorhänge.

Es gab noch einen Tagebucheintrag am 7. Februar.
Ja, darin berichtete Gertrud L., dass sie sich in ihrem Lieblings-Supermarkt mit einer Verkäuferin unterhalten hat. Also haben wir die Polizei gebeten, das zu überprüfen. Tatsächlich fand sich eine Verkäuferin, die sich erinnern konnte, ihrer Kundin an diesem Tag von einem Konzert am Wochenende erzählt zu haben. Also konnten wir als Fakt verbuchen: Das Opfer hat am Vormittag noch gelebt. Und höchstwahrscheinlich war der 7. Februar auch der Todestag.

Wie ging es weiter?
Dann haben wir uns die Kontobewegungen vorgenommen und gesehen, dass am 7. Februar morgens um 7.19 Uhr 800 Euro abgehoben wurden und dann um 7.24 Uhr nochmal 200 Euro.

Das Rätsel um die Tote im Badezimmer IV: Die Analyse der Bluttropfen ergab, dass ein Unfall als Todesursache ausgeschlossen werden kann.
Das Rätsel um die Tote im Badezimmer IV: Die Analyse der Bluttropfen ergab, dass ein Unfall als Todesursache ausgeschlossen werden kann.

© Polizei/Foto: Weger

Steht darüber etwas im Tagebuch?
Nein, und da wurde es richtig spannend, alles begann ineinander zu greifen. Wir haben uns also alle ihre Kontobewegungen der letzten Jahre angeguckt und festgestellt: Noch nie hat Gertrud L. am Bankautomaten Geld abgehoben. Sie ist immer zum Schalter gegangen, hat sich aber niemals morgens und nie so hohe Beträge auszahlen lassen.

Hätte sie so ein Ereignis nicht auch im Tagebuch festgehalten?
Höchstwahrscheinlich. Das ist der Vorteil bei älteren Menschen, die haben so eine schöne Alltagsroutine. Hinzu kam, dass an den folgenden Tagen immer bei derselben Bank und immer zwischen 6.55 und 7.17 Uhr Geld abgehoben wurde. Es spricht also einiges dafür, dass es Andreas H. war, der auch am 7. Februar Geld abgehoben hatte. Aber das widersprach ja seiner Aussage. So reihen wir Fakten an Fakten.

Sind Sie denn bei allen spektakulären Mordfällen dabei?
Das entscheidet die zuständige Mordkommission. Es gibt aber auch spannende Fälle, die öffentlich nicht so bekannt werden. Wir hatten beispielsweise mal eine Geschichte, die imponierte als Mord nach einem Einbruch. Es sah so aus, als wenn in einem Marzahner Hochhaus ein junger Mann die Einbrecher auf frischer Tat ertappt hätte und diese ihn dann vom Balkon warfen.

Ein Irrtum?
Ja, wir haben festgestellt, dass es wohl ein vorbereiteter Suizid war. Der junge Mann wollte sterben, aber nicht als Loser aus der Welt gehen, sondern als Held und Kämpfer.

Bei welchem bekannten Berliner Kriminalfällen war Ihr Team dabei?
Wir haben eine Analyse gemacht zu der Joggerin, die vor elf Jahren im Spandauer Forst erstochen wurde. Und im Mordfall Graalfs. Die Ex-Frau eines Berliner Bauunternehmers ist 1997 verschwunden, ihre Leiche wurde dann später in Mecklenburg-Vorpommern enthauptet gefunden. Aber auch zu dem spektakulären Tunneleinbruch in die Steglitzer Volksbank-Filiale sind wir beauftragt worden.

War das Ihr erster Einbruch?
Ja, und unsere bislang aufwändigste Fallanalyse, weil es ein Metier ist, in dem wir uns nicht so gut auskennen. Wir sind Fachleute, wenn es um Tötungs- und Sexualdelikte geht. Aber bei der Volksbank mussten wir uns erstmal die Expertise zum Bankwesen aneignen. Wir haben mit Physikern und Experten vom Bergwerkbau gesprochen, um zu rekonstruieren, wie die Täter den 45 Meter langen Tunnel bis zum Tresorraum graben konnten.

Mannschaftsspieler. Christian Schulz sagt, dass Fallanalyse nur im Team funktionieren. Kein Profiler könne alleine seriös und professionell arbeiten.
Mannschaftsspieler. Christian Schulz sagt, dass Fallanalyse nur im Team funktionieren. Kein Profiler könne alleine seriös und professionell arbeiten.

© Polizei/Repro: Weger

Sind nicht alle diese Fälle bis heute ungelöst?
Auch wenn viele es gerne anders darstellen: Die Fallanalyse ist kein Wundermittel. Sie ist mit ihrer Methodik ein Teil der Ermittlungsunterstützung, so wie die Kriminaltechnik, Mantrailer-Hunde oder Rechtsmedizin. Aber manchmal kann die OFA eben auch einen entscheidenden Teil zur Ermittlung beitragen.

Warum sind die Altfälle, also Cold Cases, besonders kompliziert?
Das sind Fälle, in denen jahrelange Ermittlungen zu keinem Ergebnis geführt haben. Die Berliner Mordkommissionen lösen weit mehr als 90 Prozent aller Mordfälle. Es ist nicht erstaunlich, dass wir die größten Rätsel nicht plötzlich alle klären können.

Bei der Toten im Badezimmer sind Sie in die laufende Ermittlung eingeschaltet worden. War das eine Ausnahme?
Nein, auch das kommt vor. Für die Fallanalyse haben wir uns dann als nächstes den Tatort und die Leiche angeschaut.

Jetzt kam das Foto ins Spiel?
Wenn von Anfang an klar ist, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt, bekommen wir in der Regel dutzende Bilder. In diesem Fall konnten wir nur das eine Foto der Leiche vom Auffindetag mit dem Beamer an die Wand werfen.

Was dem Team aufgefallen ist, wurde mit gelben Pfeilen markiert. Können Sie uns sagen, was man da sieht?
Hier an der Hand sehen wir eine Austrocknung und dort unter dem Unterschenkel liegt am Badewannenrand ein Waschlappen. Wir fragten uns: Entspricht dieses Bild einem Unfallgeschehen? Warum hat eine Frau, die gerade aus der Wanne steigt, eine Unterhose an? Warum liegt ein Stapel frischer Wäsche auf dem Toilettendeckel bereit? Passt die Lage des Lappens? Wie wahrscheinlich ist es, dass er noch liegen bleibt, wenn ich stürze?

Und was sagt uns die Blutspur an der Toilette?
Die ignorieren wir als Fallanalytiker, weil wir nicht wissen, ob das Original durch die Reinigung der Angehörigen verfälscht worden ist. Was uns interessierte war, wie das Blut im Wohnzimmer zu dem Geschehen passen könnte.

Kniffliger Fall. Drei Aktenordner bekamen die Profiler für das Rätsel der Toten im Badezimmer, bevor sie sich für mehrere Tage zum Brainstorming einschlossen.
Kniffliger Fall. Drei Aktenordner bekamen die Profiler für das Rätsel der Toten im Badezimmer, bevor sie sich für mehrere Tage zum Brainstorming einschlossen.

© Katja Füchsel

Also haben Sie die Expertin der Rechtsmedizin um Besuch gebeten.
Sie kam für ein Fachgespräch und erläuterte uns das Blutspurenbild. Daraus konnten wir unter anderem schließen, dass das Opfer heftig im Gesicht geblutet hat. Der Tatort wurde ausgiebig gereinigt, jemand hatte etliche Möbel verschoben, um auch unterm Teppich sauberzumachen. Wenn es Mord war, hat der Täter richtig viel Aufwand betrieben, um die Spuren zu beseitigen.

Wer sagt denn, dass die Blutflecken mit dem Tod in Zusammenhang stehen?
Erstmal niemand. Aber hätte Gertrud L. so heftiges Nasenbluten gehabt, hätte sie das in ihrem Tagebuch vermutlich erwähnt, oder?

Die Expertin hat Ihnen eine Reihe von Fotos mitgebracht, auf denen man sieht, wie sich winzige Blutspritzer über die Schrankwand verteilen. Jeder Pfeil steht für einen Blutstropfen?
Ja, und wir haben darüber gesprochen wie die Tropfen an die einzelnen Stellen gekommen sind. Ist das Opfer gefallen? Wurde es geschleudert oder geschlagen? Nicht vergessen: Wir hatten ja immer noch keine Todesursache.

Und?
Nach dem Muster auf der Schrankwand hätte sich die Frau selbst mindestens zweimal ins blutende Gesicht schlagen müssen. Ja, Sie lachen! Aber erst war alles nur ein Verdacht. Wir stellen die Theorie zum Unfallgeschehen dar und können diese dann so deutlich ausschließen, dass Sie drüber lachen müssen.

Gibt es einen Fall, der Sie besonders beschäftigt hat oder nie losgelassen hat?
Der Fall Anna Saße. Die 79 Jahre alte Frau ist 1997 in ihrer Weddinger Wohnung ermordet gefunden worden.

Was hat Sie an dem Fall so berührt?
Das war eine wirklich reizende alte Dame mit einem tollen Verhältnis zu ihren Kindern und Enkelkindern, eine beliebte Nachbarin, die jeder kannte. Wen man auch fragte, wir haben nur positive Beschreibungen bekommen. Diese Frau wurde einfach mitten aus dem Leben gerissen und dann noch durch so eine hässliche Tat. Wir haben viele Spuren in ihrer Wohnung gefunden, auch DNA. Wir vermuten, dass der Täter ein junger Mann war, der unter anderem aus sexueller Neugier gehandelt hat. Er konnte bis heute nicht gefasst werden.

Welchen Cold Case konnten Sie lösen?
Den Mord an der 2008 getöteten Michelle. Die Kollegen aus Sachsen hatten uns und einen Kollegen aus Nordrhein-Westfalen um Hilfe gebeten, weil sie gleich zu Beginn eine Fallanalyse gemacht hatten und wussten, dass sie selber schon stark subjektiv beeinflusst waren. Wir waren sechs Leute aus drei Bundesländern und unsere Analyse hat dazu geführt, dass der Täter gefasst wurde, weil wir seinen Wohnort in der Nähe des Fundorts der Leiche vermutet haben.

Delikte am Menschen. In der Schöneberger Keithstraße sitzen alle Berliner Mordkommissionen - und auch das Team der Operativen Fallanalyse.
Delikte am Menschen. In der Schöneberger Keithstraße sitzen alle Berliner Mordkommissionen - und auch das Team der Operativen Fallanalyse.

© Katja Füchsel

Sie haben die OFA 1999 in Berlin mit aufgebaut. Was hat sich verändert?
Wir haben heute glücklicherweise weniger sexuell motivierte Tötungsdelikte und es gibt weniger Serienvergewaltiger.

Wie erklären Sie sich das?
Manche Studien deuten darauf hin, dass das Internet einiges kompensieren könnte. Klassische Fallanalysen zu Mord und Sexualdelikten stehen nicht mehr so sehr im Fokus wie vor 20 Jahren. Mehr und mehr spielen Gefährderbewertungen und Biografieanlaysen eine wichtige Rolle. Nach Amoktaten wird zum Beispiel das Leben des Täters analysiert, um zu erkennen wie es zu der Tat kam und es eventuell Beteiligte im Hintergrund gab.

Wie unterscheiden sich die Fallanalysen zu Serienvergewaltigern und Mördern?
Hauptsächlich dadurch, dass wir nicht den Tathergang rekonstruieren müssen, weil das Opfer lebt und uns ganz genau Auskunft über das Geschehen geben kann.

Gibt es einen bestimmten Modus operandi?
Serien-Vergewaltiger legen sich in der Regel nicht auf einen bestimmten Tatverlauf fest, sondern reagieren auf das Verhalten ihrer Opfer beziehungsweise die jeweilige Tatsituation

Können Sie das erklären?
In Berlin beispielsweise finden mehr Taten im Hausflur statt als in Schleswig-Holstein, wo es zwischen den Städten und Dörfern viel mehr einsame Orte und Maisfelder gibt. In Berlin kommen die Opfer oft spät am Abend aus den öffentlichen Verkehrsmitteln und laufen nach Hause. Auf dem Weg finden die Täter dann manchmal keine passende Gelegenheit.

Und der Moment an der Haustür ist seine letzte Chance?
Dann bleibt ihm nur die Wahl: zuschlagen oder abbrechen. Deshalb kommen auch Vergewaltigungen im Hausflur, im Treppenhaus und im Hinterhof vor.

Zwischen Serien-Vergewaltigern und ihren Opfern gibt es selten eine Vorbeziehung, Mörder stammen meist aus dem Umfeld des Opfers. Was uns wieder zu Gertrud L. bringt: Gab es noch andere Details, die nicht zu einem Unfall passten?
Den Ermittlern war nach dem Tod aufgefallen, dass frische Wäsche gewaschen war, aber die Zusammensetzung in der Maschine passte überhaupt nicht. Es war auch nicht ihr Waschtag, das war immer Sonntag und im Tagebuch war vermerkt, dass sie das erledigt hatte. Wir haben dann nachgefragt und es wurde Blut auf zwei der Handtücher gefunden.

Fall gelöst. Das Gericht rekonstruierte den Tathergang so wie es Christian Schulz und sein Team ermittelt hatten.
Fall gelöst. Das Gericht rekonstruierte den Tathergang so wie es Christian Schulz und sein Team ermittelt hatten.

© Stefan Weger

Wie viele Hypothesen spielten Sie komplett durch?
Insgesamt vier: Tod durch Unfallgeschehen, natürlicher Tod, Tod durch Fremdverschulden eines fremden Täters, Tod durch Fremdverschulden eines Täters aus dem sozialen Umfeld.

Was sprach gegen einen Fremdtäter?
Warum sollte ein fremder Täter erstmal die ganze Wohnung putzen und dann die Leiche im Bad drapieren? Ein Fremder haut die Frau um und ist weg. Mit jeder Minute, die er in der Wohnung bleibt, läuft er Gefahr entdeckt zu werden, weil er nicht weiß, wer gleich dazu kommen könnte. Es gab auch keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen oder Abwehrverletzungen. Diesen Aufwand muss nur jemand auf sich nehmen, der Angst hat, dass man ihn verdächtigen könnte.

Und ein natürlicher Tod war noch unwahrscheinlicher?
Spielen Sie mit dem Wissen, das wir herausgearbeitet haben, mal alle Theorien durch. Sie werden merken, dass es bei jeder Hypothese hakt. Nur bei der letzten, also dem Täter aus dem sozialen Umfeld, machte plötzlich alles Sinn und alle Haken waren verschwunden. So haben wir es geschafft, aus einer bloßen Annahme am Anfang eine hohe Wahrscheinlichkeit am Ende zu machen.

Das hat dann für eine Anklage gereicht?
Das Gericht hat das Tatgeschehen im Urteil genauso rekonstruiert wie wir. Es ging davon aus, dass der Angeklagte Gertrud L. am 7. Februar umgebracht hat, entweder weil sie entdeckte, dass er sie bestohlen hatte oder weil er genau davor Angst hatte. Danach arrangierte Andreas H. am Tatort die Leiche so, dass es wie ein Unfall aussah. Das Gericht hat ihn zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Haben Sie das gefeiert?
Wir haben darauf angestoßen – alle zusammen.

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