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Das Rote Rathaus um 1924.

© Otto Hagemann/Landesarchiv Bln.

Das Zentrum der Berliner Stadtpolitik: Ein Turm im Strudel der Ereignisse

Zum 150. Jahrestag des Roten Rathauses erscheint eine Festschrift

Das alte, Ende des 17. Jahrhunderts errichtete Rathaus war schon lange zu klein gewesen. Schinkel hatte dem Gebäude bereits 1814 bescheinigt, es sei „unter den Rathäusern von Hauptstädten eines der unansehnlichsten und zugleich unbequemsten und unzweckmäßigsten überhaupt“. Doch erst 1859 fiel der Beschluss zur Errichtung eines neuen Rathauses, bis zu dessen Fertigstellung noch einmal zwölf Jahre ins Land gingen. Am 6. Januar 1870 tagte erstmals die Berliner Stadtverordnetenversammlung in dem neuen Gebäude.

Rechtzeitig zum 150. Jahrestag legte das Landesarchiv Berlin in Verbindung mit der Historischen Kommission eine umfassende Monografie zur Geschichte des Roten Rathauses vor. Die Baugeschichte spielt dabei naturgemäß eine wichtige Rolle. Der Band, mit etwa 170 Abbildungen opulent illustriert, bietet aber weit mehr. Die drei Autoren geben in den neun Kapiteln auch der politischen Geschichte viel Raum, der Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung, nicht selten in heftigen Auseinandersetzungen mit den preußischen Aufsichtsbehörden, auch der Sozialgeschichte, Industrialisierung und Wohnungsnot.

Ergänzt wird all dies durch instruktive Porträts der meisten der über 30 Bürgermeister, die im Lauf der Zeit die Geschicke der Stadt zu lenken versuchten. Umrahmt wird die ganze Darstellung von Michael Müller, der zu Beginn als Autor eines Grußwortes auftritt, dem aber, anders als Diepgen und Wowereit, zum Abschluss auch noch ein ausführliches Porträt gewidmet ist. Dort erfahren wir über den laut Umfragen unbeliebtesten Chef einer deutschen Landesregierung: „Mit seinem eher nüchternen Politikstil verschaffte er sich rasch Respekt sowohl in Politik und Verwaltung als auch bei großen Teilen der Berliner Bevölkerung.“

Von der Landes- zur Reichshauptstadt

Nur kurze Zeit nach der Fertigstellung des Rathauses wurde das Deutsche Reich gegründet und Berlin wurde durch Kaiserproklamation Reichshauptstadt. Das brachte einen enormen Wirtschaftsaufschwung und einen erheblichen Bedeutungszuwachs mit sich. Berlin schied 1881 aus der Provinz Brandenburg aus und bildete fortan einen eigenen Stadtkreis, aber bei vielen zentralen kommunalpolitischen Fragen lag die Oberaufsicht weiterhin beim Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg, was oftmals zu heftigen Kontroversen führte. Auch der Polizeipräsident, eine für das Geschehen in der Stadt zentrale Instanz, unterstand nicht dem Magistrat, sondern dem preußischen Innenminister.

1871 hatte Berlin 826 000 Einwohner, nur 25 Jahre später waren es mehr als zwei Millionen Menschen. Der Wohnungsbau hielt mit dieser Entwicklung in keiner Weise Schritt. Die Folge war ein kaum vorstellbares Elend für den ärmeren Teil der Bevölkerung. Familien mit acht bis zehn Kindern mussten sich oftmals ein einziges Zimmer teilen. Die Wohnungen waren feucht, dunkel, hatten keine eigene Toilette und in vielen Fällen war noch eine Schlafstelle an einen Schlafburschen untervermietet. Die Wohnungsnot war ohne Zweifel das drängendste sozialpolitische Problem, dennoch dauerte es Jahrzehnte, bis es überhaupt wahrgenommen wurde. Erst 1911 wurde ein städtisches Wohnungsamt gebildet, das versuchte, sich über den in der Stadt vorhandenen Bestand an Wohnungen einen Überblick zu verschaffen.

Den Rathausturm wollte Hitler abreißen lassen

Eine grundlegende Besserung trat erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre unter dem sozialdemokratischen Baustadtrat Martin Wagner ein. In sechs Jahren wurden fünf Großsiedlungen errichtet und nicht weniger als 140 000 Sozialwohnungen gebaut. Für den Verkehr war mit Ernst Reuter ein weiterer Sozialdemokrat zuständig. Ihm gelang es, das unglaubliche Gewirr aus Verkehrsgesellschaften, konkurrierenden Fahrplänen und Tarifen zu vereinheitlichen und 1928 die Gründung der BVG durchzusetzen.

Der spektakuläre Höhepunkt der NS-Zeit waren zweifellos die Olympischen Sommerspiele 1936, denen ein Jahr später die 700-Jahr-Feier Berlins folgte. Ein Kuriosum am Rande: Hitler, der sich bekanntlich für einen genialen Architekten hielt, war der Rathausturm ein Dorn im Auge, da er die Blickachse vom Brandenburger Tor in Richtung Stadtschloss störte. 1939 ließ er einen fingierten Leserbrief im „Berliner Lokal-Anzeiger“ veröffentlichen, um die Stimmung in der Bevölkerung zur Frage eines möglichen Abrisses des Turms zu testen. Der bald beginnende Krieg verhinderte womöglich Schlimmeres.

Seit 1990 das Rathaus einer geeinten Stadt

Die letzten vier Kapitel sind der Zeit nach 1945 gewidmet. Die Autoren berichten über die frühe Nachkriegszeit, die Systemkonkurrenz in der bis 1961 noch nicht durch eine Mauer geteilten Stadt, die tristen Jahre der Teilung, die 750-Jahr-Feier Berlins in West und Ost, den 1989 nur noch mit Mühe gefeierten 40. Geburtstag der DDR, den Mauerfall und den Weg zu Wiedervereinigung der beiden Stadthälften. Ihr Buch ist ein schönes Geschenk zum 150. Geburtstag des markanten Baus im Zentrum der Stadt.

— Thomas Flemming, Gernot Schaulinski, Bernd Ulrich: Das Rote Rathaus in Berlin – eine politische Geschichte. Jaron Verlag, Berlin. 448 Seiten mit 167 teils farbigen Abbildungen, 38 Euro.

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