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"Der Morgen"-Redakteur Lothar Heinke an seinem Schreibtisch in Ost-Berlin.

© privat

Das Verbotene reizt immer: So kamen DDR-Leser an den Tagesspiegel

Unser Autor kam im Osten mit Westmedien in Berührung – obwohl es nicht unbedingt erlaubt war. Der Tagesspiegel war nahe der Grenze besonders beliebt.

Es war einmal… ganz einfach: Der interessierte Zeitungsleser aus dem Berliner Osten fuhr oder ging über die real existierende, aber nur durch ein Schild markierte Grenze zum nächsten Kiosk und erwarb „seine“ West-Zeitung. Die Auswahl war groß, sie reichte vom „Spandauer Volksblatt“ über den „Telegraf“, den Tagesspiegel bis hin zur Boulevardzeitung, den „Abend“ oder die „Morgenpost“. Es konnte auch, einmal in der Woche, „Die Zeit“, „Der Spiegel“, „Stern“, oder die „Quick“ sein. Das ferne Fremde, das Verbotene, reizt immer, und verbotene Früchte sind besonders süß.

Der Tagesspiegel, seriös, glaubhaft, liberal und überparteilich, hatte vor allem an den grenznahen Kiosken einen höheren Um- und Absatz: Die Aufmachung, aus heutiger Sicht typografisch sachlich, um nicht zu sagen: langweilig, förderte die Glaubwürdigkeit. Aber der Besitz von Westzeitungen war im Osten streng verboten. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 lockerte die DDR die Strafverfolgung gegen Menschen, die sich „beim Klassenfeind“ informieren wollten. Das Fernsehen steckte damals noch in den Kinderschuhen.

„Nicht in jedem Fall“, erklärte das Oberste Gericht der DDR, „liegt das Verbrechen der Boykotthetze“ vor, sondern erst dann, „wenn zu dem Besitz von Westzeitungen noch Umstände hinzutreten, die erkennen lassen, das diese Zeitungen zu hetzerischen oder boykottierenden Handlungen benutzt werden oder benutzt werden sollen“.

Grundsätzlich müsse von jedem Bürger verlangt werden, dass er „den Besitz von Westzeitungen und -zeitschriften wegen ihres gegen die DDR gerichteten hetzerischen Inhalts und antinationalen Charakters ablehnt“. Anderenfalls gebe der Bürger, der sich „auf unsere demokratische Presse und unseren demokratischen Rundfunk konzentrieren soll, zu erkennen, dass er in seinem Bewusstsein zurückgeblieben und von der Politik der Regierung nicht überzeugt“ sei, verkündete das DDR-Justizministerium nach dem Aufstand am 17. Juni 1953.

Top secret jeden Morgen schwarze Mappen mit der „Westpresse“

Unser Jubilar gehörte zu jenen Zeitungen des Westens, die in den Ost-Redaktionen von den dazu befugten Chefs aufmerksam gelesen wurden. Top secret kamen jeden Morgen schwarze Mappen aus Kunstleder mit der „Westpresse“. Beim „Morgen“, meinem damaligen Arbeitgeber, war das die „Frankfurter Rundschau“. Wer einen Artikel aus der Westpresse kommentieren sollte oder wollte, bekam oft nur einen Ausschnitt des Originals aus der „Feindpresse“.

Umgekehrt nutzten die West-Kollegen hinter der Mauer Meldungen, Berichte und Glossen aus der Ost-Presse für ihre Geschichten. Kooperationen zwischen den Kollegen in Ost und West gab es kaum. Wir alle waren als Zeitzeugen Soldaten in den Schützengräben des Kalten Krieges, bis zum erlösenden 9. November 1989, seit dem alles Gedruckte allen gehört. Das Flüstern hatte ein Ende, so gut wie alles konnte gesagt, geschrieben und gedruckt werden. Und auch erzählt, wie diese Geschichte:

Als DDR-Bürger im Osten den Tagesspiegel kaufen? Nix da!

Zu Mauerzeiten ging ich einmal schnurstracks zur Rezeption ins (leider längst abgerissene) Palast-Hotel am Ufer der Spree in Mitte und wollte einen Tagesspiegel kaufen. Einfach so. Der hing mit manch anderen Blättern vom anderen Stern im Zeitungsständer.

Mich trennten zwei Meter von den Gazetten des Klassenfeindes, aber dazwischen stand dieser Mann in der Livré des „Devisenhotels“ und fragte streng: „Sind Sie Bürger der Be-Errr-De?“ „Leider nicht“, erwiderte ich, und schon war der Dialog zu Ende. Nix Tagesspiegel.

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Andererseits: Am 10. November 1989 war ich einer der Ostmenschen, die am Checkpoint Charlie in den Westen strömten. Jeder Zweite meiner Ost-Berliner hatte eine groß aufgemachte Sondernummer der oft zitierten „taz“ unter dem Arm. „Wo gibt’s denn diese Zeitung?“, fragte ich einen West-Berliner Polizisten. Der antwortete spontan: „Wenn Sie nur deshalb kommen, können Sie gleich wieder kehrtmachen.“ Nanu? Aber so war das damals.

Heute lachen wir darüber. Und wie selbstverständlich steckt morgens der Tagesspiegel im Briefkasten. Das ist noch immer wie ein Wunder, wie so vieles andere in den blühenden Landschaften unserer merkwürdigen Zeit.

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