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Man hätte das Gebäude auch abreißen können vor hundert Jahren, als eine neue U-Bahn-Trasse benötigt wurde. Es stehen zu lassen,

© Doris Spiekermann-Klaas

Das U-Bahn-Haus am Gleisdreieck-Park: Die letzte Nische

Keine Schönheit, kein Wahrzeichen. Trotzdem kennt jeder dieses Haus. Die Untergrundbahn fährt direkt hindurch. Wie lebt man mit 444 Zügen am Tag?

Da steht ein Haus am Park, durch das die U-Bahn fährt ... Witze beginnen so oder ein surreales Gedicht, eine dadaistische Großstadtvision, irgend so etwas. U-Bahnen, das wissen schon kleine Kinder, fahren im Untergrund, in Tunneln, sicher, auf stählernen Brücken auch. Mitten durch ein Wohnhaus fahren sie in der Regel nicht.

Es beginnt als fernes Grollen, das tief aus dem Inneren des Gebäudes zu kommen scheint wie aus einem Bergwerk, von irgendwo hinter der Wand mit den Briefkästen. Man bleibt unwillkürlich stehen da mitten im Hausflur, hält den Atem an, lauscht, das Geräusch wird lauter von Moment zu Moment, wird zu einem Rumpeln, die Decke scheint zu erzittern. Der Blick geht hoch zu der Dehnungsfuge, die sich da oben von Wand zu Wand zieht. Jetzt muss der Zug direkt im Haus sein, denkt man, direkt da über dem Hausflur, im Zweiten und im Dritten, tacktacktack macht es, tacktacktack, es hallt von den Bodenkacheln wider, dann ist der lauteste Punkt schon überschritten, der Lärm entfernt sich Richtung Straße, Richtung Park, ebbt ab, verschwindet schließlich ganz.

„Ein Geschenk ist das“, sagt Kerstin Serz ein paar Minuten später in ihrem Atelier im Dritten. Sie wusste gleich, das hier ist das Richtige für sie, die Malerin. „Wenn ich gefragt werde, wo ich mein Atelier habe“, sagt sie, „dann muss ich nur sagen: Im Haus, durch das die U-Bahn fährt. Und alle wissen Bescheid.“

Das Haus kennt jeder. Es ist eine heimliche Berliner Landmarke, zwischen den U1-Bahnhöfen Gleisdreieck und Kurfürstenstraße gelegen, direkt an der ehemaligen Brache, die heute der Park am Gleisdreieck ist. Schon von Weitem ist das Haus zu sehen, ein schnörkelloser Altbau, aus dessen weinroter Fassade die ummantelte Trasse wächst wie eine klobige Nase aus Beton. Dort tauchen die Züge ein, die auf der Stahlträgerbrücke den Park überquert haben, mitten hinein in das U-Bahn-Haus. Und jeder, der hier mal vorbeigekommen ist, der es mal gesehen oder davon gehört hat, der merkt es sich.

Denn es ist zu verrückt: Wie kann das funktionieren? Wie, bitte, kann man hier wohnen? Ja, wie lebt es sich konkret mit einem U-Bahn-Tunnel als nächstem Nachbar, und was hat diese in Berlin einmalige Konstruktion für Auswirkungen auf den Alltag, auf die Mieter? Das alles muss einen doch irre machen? Allein der Lärm.

„Wissen Sie“, sagt Kerstin Serz, „ich höre das gar nicht mehr.“ Ihr Atelier ist ein einzelner Raum links vom Treppenaufgang mit einem seltsamen Schnitt, spärlich möbliert bis auf Regal und Staffelei und jede Menge Holzpaletten, auf denen trockene Farbreste kleben. Überall bunte Spritzer, auf den Bodendielen, auf den Gläsern und Tischplatten. Der hintere Teil ein normales Viereck, rechtwinklig, doch nach vorne, zur Straße hin, verengen sich die Seitenwände bis auf eine Nische von kaum einem Meter Breite. Denn die U-Bahn durchschneidet das Haus diagonal. Direkt hinter der Wand fährt sie, einmal schräg durchs Haus.

Kerstin Serz deutet auf die Wand, an der einige Bilder von ihr lehnen. Sie erklärt, dass dahinter nicht direkt der Tunnel kommt, sondern zunächst ein schallisolierter Mantel, erst dann das Gleisbett. Man versucht sich das vorzustellen, die gelben Züge, die nur ein paar Meter hinter der tapezierten Wand fahren müssen. Es fällt schwer.

Auf der anderen Seite des Treppenhauses befindet sich Serz’ Küche. Auch sie stark beeinträchtigt durch den schräg durchs Haus führenden Tunnel, nicht mehr als ein winziger Schlauch, am Eingang kaum breiter als die Tür. Ein Waschbecken, eine alte Kochzeile. Lose an die Wand gelehnt, warnt ein Schild: „Springe nicht ab während der Fahrt! Du bringst dich selbst in Gefahr und gefährdest den Verkehr!“

Schwer zu bekommen sei die verschnittene Wohnung nicht gewesen, sagt Kerstin Serz, damals, vor gut acht Jahren, als der Berliner Immobilienmarkt auch insgesamt noch deutlich entspannter war. Außer Kerstin Serz gab es nur zwei weitere Interessenten. Als der eine das winzige Bad sah, verschwand er gleich wieder. Serz unterschrieb, richtete sich ein, mietete später sogar noch einen weiteren, eher repräsentativen Raum im Erdgeschoss. Die Miete sei billig, sagt sie, immer noch, Mieterhöhungen habe es seit ihrem Einzug keine einzige gegeben.

Man hätte das Gebäude auch abreißen können 1911, als die neue U-Bahn-Trasse gebaut wurde. Aber es blieb stehen. Man hielt es für die praktikablere Lösung.
Man hätte das Gebäude auch abreißen können 1911, als die neue U-Bahn-Trasse gebaut wurde. Aber es blieb stehen. Man hielt es für die praktikablere Lösung.

© Doris Spiekermann-Klaas

Das Haus gehört den Berliner Verkehrsbetrieben, was nur konsequent ist. Die BVG ist schließlich für das Kuriosum verantwortlich. Als in den 20er Jahren eine Entlastungsstrecke zwischen Gleisdreieck und Nollendorfplatz vonnöten wurde, mussten 19 Meter Gefälle zwischen den Bahnhöfen überwunden werden. 25 Grundstücke mit den daraufliegenden Häusern erwarb die BVG damals für die geplante Rampe ganz, fünf weitere zum Teil. Statt nun aber im großen Stil die im Weg stehenden Häuser abzureißen, entschloss man sich, sie stattdessen zu durchbohren. Es schien die günstigere, praktikablere Lösung.

Während später die meisten Gebäude mit diesem Arrangement den Bomben und Nahkämpfen der letzten Kriegstage zum Opfer fielen und danach abgetragen wurden, blieb die Dennewitzstraße 2 stehen, wie durch ein Wunder kaum beschädigt. Ein störrischer Bau, über hundert Jahre schon alt, seit 1926 durchstoßen, heute werktags exakt 444-mal von den Zügen der U1 durchfahren, 222-mal pro Richtung, ein Fahrplan wie eine offizielle Beglaubigung für diese historische Schnapsidee.

Ins Innere des Hauses vorzudringen, ist aber nicht leicht. Als wäre ihm sein verwachsenes Äußeres peinlich. Als wollte es lieber keine große Sache daraus machen.

Zu mehr als einem Blick von außen in den Hausflur hat es bei den ersten zwei, drei Besuchen jedenfalls nicht gereicht. Ein düsterer Gang, ein paar Briefkästen links an der Wand. Hinten die Ahnung einer Treppe. Die Bewohner versteckten sich lange wie die U-Bahn oben in ihrem Tunnel, blieben unnahbar wie die braungraue Brandwand, mit der das U-Bahn-Haus an seiner rechten Flanke abrupt endet. Am Ende mussten Postkarten den Durchbruch bringen, die Namen vom Klingelbrett kopiert, ein paar handgeschriebene Zeilen und eine Visitenkarte mit der freundlichen Bitte um Rückruf. Zwei Tage passierte nichts. Am dritten Tag, spätvormittags, ein Anruf. „Hallo“, sagt eine sanfte Frauenstimme am anderen Ende, „hallo, hier ist Kerstin Serz. Ach ja, kommen Sie doch gerne vorbei.“

Zwei Tage später sitzt Horst Sorgatz in seinem Wohnzimmer ein Stockwerk unterhalb von Serz’ Atelier und pustet den Staub von einem roten Leitz-Ordner. Kerstin Serz hat ihn im Hausflur abgefangen und vorgestellt als jemanden, der in dem Gebäude fast sein gesamtes Leben verbracht hat. Auf dem Rücken des Ordners klebt ein kleiner Zeitungsausschnitt mit einem Foto eines abgestürzten U-Bahn-Zugs. Der Moment, der dort festgehalten worden ist vor bald 110 Jahren, im September 1908, ist gewissermaßen die Geburtsstunde dieses Hauses. Zwei Züge waren frontal zusammengestoßen, vermutlich nach einem Signalfehler auf der damals viel zu engen Strecke am alten Gleisdreieck. Der schwere Unfall mit 18 Toten, der die Stadt erschütterte, ließ Planungen für eine Entlastungsstrecke folgen, die während des Ersten Weltkriegs ruhten und schließlich Mitte der zwanziger Jahre abgeschlossen wurden. Das Gleisdreieck wurde zu einem Kreuz, und die U-Bahn fährt durch Horst Sorgatz’ Elternhaus.

Sorgatz, ein dünner Mann mit Zweitagebart und großen, tief liegenden Augen, sitzt auf einem klobigen Zweisitzer, der wie die beiden Sessel mit mehreren alten Decken behängt ist. Es ist stickig, obwohl ein Fenster gekippt ist. Das kleine Wohnzimmer ist vollgestellt mit diesem und jenem, Möbeln, Tischchen, einem Werkzeugkasten. Auf der Anrichte aus dunklem Holz liegt dick der Staub.

Der rückwärtig gelegene, rechteckige Teil der Wohnung ist anders als bei Kerstin Serz ein Stockwerk darüber mit einer Wand mit Oberlichtern vom vorderen Teil abgetrennt, wo Horst Sorgatz sein Schlafzimmer hat. An der Tür hängt ein Poster von Lady Diana. An der Wand daneben eine umfangreiche Bieröffnersammlung, einige gerahmte Zeitungsausschnitte: ein Mannschaftsfoto der deutschen Fußball-Nationalelf, Weltmeister 2014. Der große „BZ“-Hymnen-Check. Auf dem Couchtisch ein voller Aschenbecher. Man könnte meinen, bei Horst Sorgatz wäre irgendwann vor 20 oder 30 Jahren die Zeit stehengeblieben.

Es ist paradox: "Hier sind die Leute hergezogen, um ihre Ruhe zu haben", sagt die Künstlerin Kerstin Serz.
Es ist paradox: "Hier sind die Leute hergezogen, um ihre Ruhe zu haben", sagt die Künstlerin Kerstin Serz.

© Doris Spiekermann-Klaas

Beobachtet von seiner Katze, einem Tier mit schwarz-weißem Fell, das im Hintergrund herumstreicht, auf den Sessel springt, hat Sorgatz nun den roten Ordner auf dem Couchtisch aufgeschlagen und blättert ihn, vorgebeugt, langsam durch, streicht über die eingehefteten Seiten. Alte Pläne des Hauses und der Gegend, BVG-Jubiläumsschriften, alles sorgsam aufgehoben, die Rahmenbedingungen seines Lebens, das sich bis auf die ersten drei Jahre immer hier in diesem Haus abgespielt hat. Er wohnte erst, jahrzehntelang, oben im Fünften bei seinen Eltern, seit elf Jahren schließlich hier unten im Zweiten. Sein Bruder hat die Wohnung der verstorbenen Eltern übernommen.

In dem roten Ordner findet sich auch die Erklärung für ein eigenartiges Phänomen, von dem Kerstin Serz am Tag zuvor gesprochen hat. Sie, das „Nachttier“, wie sie sich selber nennt, ist oft noch spät im Atelier und malt sie auch, die Nachttiere, jedenfalls nach den Bildern zu urteilen, die fast alle mit der bemalten Seite zur Wand gedreht sind, manchmal fünf, sechs Stück hintereinander. Auf der Rückseite mit Bleistift geschrieben die Titel: „Sleep of the Moths 2014“ oder „Two little moths“.

Nachts, sagte Kerstin Serz also, höre man die Bahnen, die durchs Haus führen, lauter als tagsüber. Das sei ihr aufgefallen. Und genau als sie das sagte, kam wieder eine Bahn, diesmal vom Park aus. Das Gleiche spielte sich nun ab wie zuvor unten im Hausflur, nur aus der Gegenrichtung – und, tatsächlich, hier oben ein bisschen gedämpfter. Aber man hörte es, man meinte sogar, den Boden erzittern zu spüren. Kerstin Serz lachte: „Sie meinen, dass hier Gläser klirren würden, wenn welche im Schrank stehen würden? Nein, nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hier zittert nichts.“

Warum poltert die Bahn nicht lauter durchs Haus? Sorgatz zieht den Ausdruck eines Artikels aus seinem roten Ordner, in dem es heißt: „Auf der ganzen Rampenstrecke liegen die Gleise, um störende Betriebsgeräusche zu vermeiden, in einer geschlossenen doppelwandigen Röhre.“

Außerdem: „Um auch das Geräusch der aus der Bauflucht in der Dennewitzstraße heraustretenden Züge von den nebenliegenden Häusern fernzuhalten, ist die Überbrückung der Dennewitzstraße als allseitig geschlossenes Eisenbeton-Bauwerk ausgeführt worden.“

Es wurde also auch schon an den Lärmschutz gedacht, damals, bei den Planungen vor über hundert Jahren.

Horst Sorgatz ist Rentner, er wird kommendes Jahr 70. Er erzählt von seiner Geburt, im Dezember 1948, nahe dem S-Bahnhof Schöneberg, „bei Kerzenlicht“, wie er sagt. Der Strom war gesperrt, es war die Zeit der Blockade, die Zeit der Luftbrücke, Berlin Frontstadt im Kalten Krieg. Er erzählt von den Anfangsjahren hier in der Gegend, Nachkriegszeit, wie sie als Kinder in den zerbombten Häusern gespielt haben, mit allem, was sich so in den Trümmern fand. Wie er auf dem Gelände gegenüber, wo jetzt eine Baustelle ist und damals Bahngrundstück war, um ein bisschen Kohle betteln ging, die er sich von den riesigen Bergen schippen durfte, eigentlich für Loks gedacht, aber welcher Haushalt hatte schon genug zum Heizen im Berlin der frühen Fünfziger.

Eigentlich habe er Schuhmacher werden wollen, sagt Horst Sorgatz, er kam aber „mit der Theorie nicht zurande“. Kam dann wie der Vater, der Straßenbahnen fuhr im Westteil und später Busse, bei der BVG unter, reinigte Busse, arbeitete „in der Lackerei“.

Ein Leben als ungelernter Arbeiter liegt hinter ihm, das ihm kaum mehr als eine spärliche Rente eingebracht haben wird, und über 65 Jahre in diesem Haus, praktisch die gesamte Nachkriegszeit, die lange Teilungszeit, als hinter dem versandeten Niemandsland drüben beim Potsdamer Platz ein fremdes Land begann, dann die Wiedervereinigung, dann Berlins Comeback als Weltstadt in den letzten 20 Jahren.

Der Habicht und die Taube im Hinterhof

Alle 3.15 Minuten rast ein Zug über die Gleisrampe durch das Gebäude.
Alle 3.15 Minuten rast ein Zug über die Gleisrampe durch das Gebäude.

© Doris Spiekermann-Klaas

Horst Sorgatz zeigt seinen Mietvertrag, er ist ganz vorne eingeheftet in dem roten Ordner, gewissermaßen auch er ein Resultat des Unfalls damals, des Tunnelbaus, der zu allem geführt hat, auch zur spottbilligen Miete heute. 210,03 Euro warm zahlt Horst Sorgatz für seine 45 zerrissenen Quadratmeter im zweiten Stock. Nicht schlecht, mitten im Berlin des Jahres 2017.

„Das war eine vergessene Ecke hier“, sagt Kerstin Serz über die Nachbarschaft des U-Bahn-Hauses vor der Zeit, da sie es bezog. Bis in die nuller Jahre hinein hatte sich daran kaum etwas geändert. „Ein paar Baracken, der Club 90 Grad, Zäune, das war’s.“ Die Dennewitzstraße, das Gleisdreieck und seine Brache, zu Teilungszeiten war das Land’s End, West-Berlin. Dann aber kamen die Dinge in Bewegung, schnell, sehr schnell. Das 90 Grad gegenüber wurde 2011 abgerissen. „Jetzt haben die Leute totale Angst“, sagt Kerstin Serz, „Angst, dass sich alles verändert. Weil alles so hip geworden ist in den letzten vier, fünf Jahren.“

Sie deutet aus ihren Fenstern im Atelier auf den Neubau nebenan. Ein schnörkelloser Luxuskasten mit strengen Kanten und Innenbalkonen, wie sie in den letzten Jahren überall auf den freien Grundflächen der Innenstadtbezirke hochgezogen worden sind. Wohnraum für die Wohlhabenden. Eine goldene Fassade hat dieses Nachbarhaus und ein gleichfarbiges Gitter ab dem ersten Stock, das wohl für Kletterpflanzen gedacht ist. Ein goldener Käfig, denkt man sofort, der so gar nicht in die Nachbarschaft des verstümmelten Altbaus mit der U-Bahn-Nase passen will.

Vorher konnte sie bis hinüber zur Potsdamer Straße sehen, sagt Kerstin Serz, bis zum Turm des alten Tagesspiegel-Gebäudes. Das ist jetzt vorbei. Es wird jetzt alles ein bisschen enger hier an der alten Bruchkante der Stadt. Denn was früher an Grundstücken einfach nicht gebraucht wurde, ist heute der Ort für Investmentträume direkt aus dem Architekturprospekt. In Wurfweite des U-Bahn-Hauses ist in den letzten Jahren ein Neubau neben dem nächsten entstanden. „Flottwell Living“ steht an der roten Markise des Eckhauses. Die Fronten sind in Weiß oder Pastelltönen gehalten, es ist die ewig verschiedenartige Gleichförmigkeit des Upper-Class-Segments. Ein bordeauxfarbener Laster der „Wein Compagny“ rangiert sich in Parkposition in zweiter Reihe. Ein Sportwagen rauscht vorbei.

Der Kampf um die Stadt der Zukunft, er findet auch hier statt, einmal wurde er bereits militant ausgetragen, hier an dieser Ecke, im Februar 2016. Vier Autos brannten damals in der Flottwellstraße aus, schräg gegenüber vom U-Bahn-Haus, zwei Mercedes-Limousinen, zwei BMW, 24 weitere wurden beschädigt. Ein „Kommando Noske und Ebert“ bekannte sich später online zu den Taten. Die Täter: 20 bis 40 Vermummte auf Fahrrädern, berichteten Zeugen. Klassenkampf, 21st-Century-Style.

In dieser schönen neuen Welt des Glatten und Brutalen wirkt das U-Bahn-Haus, Dennewitzstraße 2, in all seiner Verkorkstheit gleich noch einmal ganz anders. Wie der greise Torwächter eines verlorenen Stadtstaats. Wie eine letzte Nische für Künstlerexistenzen.

Nein, es wundere sie nicht, sagt Kerstin Serz, dass niemand außer ihr auf die Postkarten reagiert habe. „Hier sind die Leute immer hingezogen, um ihre Ruhe zu haben.“ Es klingt paradox, aber sie meint es genau so: Die lärmende U-Bahn ist immer schon so etwas wie ein Ruhepol gewesen. Vielleicht, weil sie verlässlich ist, man sich leicht arrangieren kann. Nach einer Weile hört man sie kaum noch.

Und kann sein Ding machen, wie Kerstin Serz es tut, Jahrgang ’71, Absolventin der Hochschule der Künste. Sie hat Stipendien bekommen und ein halbes Dutzend Einzelausstellungen hinter sich, die letzte 2016 im P103, einem Café-Restaurant an der Potsdamer Straße. An der Wand ihres Ateliers hängt eine Postkarte. Auf ihr steht: „Die Kunst, mit viel Arbeit kein Geld zu verdienen.“

Von der Malerei alleine kann Kerstin Serz wie so viele nicht leben, trotz bester Ausbildung, trotz jahrelanger Arbeit. Wenn man sie fragt, wovon sie ihre Miete zahlt, windet sie sich, weicht aus. Ein Wort schließlich kommt ihr über die Lippen: „Kaufhausbilder“. Sie will das aber lieber nicht zu genau ausführen, das mit den Auftragsarbeiten, die für sie keinen künstlerischen Wert haben, aber die Miete bezahlen und das, was sie und ihre Tochter sonst zum Leben brauchen. Das Haus, das verwinkelte, durchbohrte schützt sie. Aber vor der Tür ist es vorbei mit der Betulichkeit.

Allein im angrenzenden Gleisdreieckpark ist sommerabends und an den Wochenenden die Hölle los. Hier trifft sich das neue Berlin. Viel Asphalt, ein bisschen Grün. Schmale Bäumchen, die noch gestützt werden müssen. Und es geht immer weiter. Der Gewerbehof um die Ecke soll bald weiteren Neubauten weichen. Und wo Horst Sorgatz früher als Kind Kohlen schnorren ging, weisen schon mehrere Erdhaufen auf die nächste Baustelle hin. Laute Baggergeräusche. Mächtige Staubschwaden steigen auf, ziehen langsam über den Park. Ein Sattelschlepper fährt Erdaushub ab.

Was sagt der, der immer hier war, sein ganzes Leben, zu all dem Neuen, das dicht an dicht um seine alte Heimat herum entsteht? Stört ihn das alles da draußen?

„Nö“.

Horst Sorgatz zuckt auch auf Nachfrage nur mit den Schultern. Es scheint ihm wirklich egal zu sein. Ändert ja nichts an seinem Leben, seiner Wohnung, an den zwei winzigen Zimmern, dem vollgestellten Wohnzimmer und dem durch eine dünne Wand abgetrennten Schlafzimmer, dem engen Bad mit Duschkabine auf der anderen Seite des Gangs, und an seinem Nachbarn, der U-Bahn. Zu all dem Luxus da draußen, den Neubauten und der sich wandelnden Stadt, sagt Horst Sorgatz schließlich nur: „Was soll ich sagen? Man macht es mit.“

In der angrenzenden Nachbarschaft ist in den vergangenen Jahren ein neues Stadtviertel entstanden. Die zentrale Luxuslage grenzt an den Gleisdreieckpark.
In der angrenzenden Nachbarschaft ist in den vergangenen Jahren ein neues Stadtviertel entstanden. Die zentrale Luxuslage grenzt an den Gleisdreieckpark.

© Doris Spiekermann-Klaas

Der Blick fällt auf die beiden gerahmten Fotos, die über Horst Sorgatz an der Wand hängen. Seine Eltern in Schwarz-Weiß. Der Vater im Hemd und Pullunder. Eine einfache Karriere bei den Öffentlichen. „Am Schluss war er Hoftrottel“, sagt Horst Sorgatz. Die Mutter machte die Hauswartin hier im Haus und nebenan. Die beiden Söhne, die nicht auszogen. All die lange Zeit zusammen hier im Haus, mitten in der Stadt, dann am Rand der Stadt, dann wieder mitten in der Stadt. Was bleibt von all den Jahren?

Horst Sorgatz sagt dazu einen einzigen traurigen, aber bemerkenswert wahren Satz: „Man lebt eben vor sich hin, solange man da ist.“

Irgendwann im Laufe des Gesprächs ruft er bei seinem Bruder oben unterm Dach an, fragt, ob er auch Lust habe, mit der Zeitung zu sprechen. Hat er nicht. Horst Sorgatz legt auf. Zieht die Augenbrauen hoch. Steckt sich eine neue Zigarette an. Guckt auf die Uhr. Er hat noch ein bisschen Zeit, bis er seine zehnjährige Nichte von der Schule abholen muss. Er muss früh los mittlerweile. Es geht nicht mehr so wie früher, sagt er, die Lunge, er braucht eine halbe Stunde für eine Strecke, die früher zehn Minuten gedauert hat, aber gut, was will man machen.

Kerstin Serz ist das alles da draußen nicht so egal. Sie ist hin- und hergerissen.

Sie braucht die Ruhe, für ihre Arbeit, ihre Kunst, aber sie braucht auch die Öffentlichkeit, jedenfalls, wenn sie ihre Bilder verkaufen will. „Wir Künstler sind wie Spieler“, sagt sie. Jede neue Arbeit vielleicht das große Los, wahrscheinlich aber die nächste Niete. „Ich bin da aber sehr pragmatisch inzwischen“, sagt sie. Aber aufhören will sie nicht. Sie schüttelt mit Vehemenz den Kopf. Es geht immer weiter.

Ein neuer Tag, ein neues Bild. Es wird anders als das davor. Besser? Wer weiß.

Es ist wie mit der Stadt. Wie mit dem neuen Park gegenüber. Eigentlich mag Kerstin Serz ihn nicht, zu viel Beton, zu wenig Grün und Gestaltung. Aber wenn er am Wochenende aus allen Nähten platzt, da gefällt ihr die Mischung der Leute, da gerät sie fast ins Schwärmen. Hach, Berlin! Und sie ist mittendrin mit ihrem kleinen Atelier in einem Haus, das zu verschwinden scheint.

Man macht es mit, hat Horst Sorgartz gesagt. Über der Tür zu seinem Schlafzimmer hängt eine Scuderia-Ferrari-Fahne mit dem berühmten schwarzen Hengst auf gelbem Grund. Am Schrank ein Poster von Michael Schumacher im Formel-1-Wagen. „Ja, Schumi“, setzt er an, „ja ... der ist ja nun ... durch den Unfall ...“

Eine beklemmende Stille entsteht. Dann erhebt sich Horst Sorgatz mit einem Ruck und holt einen zweiten Heftordner aus dem Schrank. „F1 LISTE“ steht in Versalien auf dem Rücken. Auch er voller Zeitungsausschnitte. Er streicht über einen Artikel, in dem es um Michael Schumachers Sohn geht: „Mick fährt mit Schumi-Botschaft.“ Aus dem Radio kommt in diesem Moment, es wirkt ausgedacht, tatsächlich: „Simply The Best“ von Tina Turner.

Horst Sorgatz blättert vor und zurück in seinem Formel-1-Ordner, hin und her. „Finde ich jetzt nicht“, sagt er, ohne zu erklären, was er sucht. Er klappt den Ordner zu. Da ist jetzt nur noch der alte Song aus dem Radio, das Lächeln von Lady Di an der Schlafzimmertür, Schumi mit dem feuerroten Helm. Die Ikonen eines verblassenden Jahrhunderts. Es scheint alles gesagt.

Dann setzt sich Horst Sorgatz aufrecht hin. Es ist seine Art, einen höflich hinauszubitten. Er wolle noch eine Kleinigkeit essen und müsse dann bald los. Die Nichte abholen.

Und ein Gedanke beim Weg aus dem Haus: So unterschiedlich sie sind, der Rentner und die Künstlerin, sie haben auf ihre Weise beide hier den perfekten Ort gefunden, hier in diesem Haus, das den Lärm der Stadt in eine Oase der Ruhe umwandelt, das wegen seiner kuriosen Verstümmelung dem allgemeinen Preisdruck widersteht, das sich unbeeindruckt zeigt von der massiven Gentrifizierung, die schon an seiner Schwelle steht. Hier, im U-Bahn-Haus, mit seinem Rattern und Dröhnen und ja, auch Zittern, hier in all den verbauten Wohnungen und winzigen Kammern, scheint auf eine seltsame, aus der Zeit gekommene Art, noch eine Welt in Ordnung zu sein.

Wenn man sich aus dem Fenster lehnt im Atelier von Kerstin Serz, kann man die lang gezogene Rampe der U-Bahn und den kleinen, ummauerten Hinterhof sehen, dahinter das Grundstück, das zum goldenen Eckhaus gehört. Ein paar kahle Teppichstangen, ein Gemüsebeet, zwei überdachte abschließbare Fahrradkäfige, eine Buddelgrube mit einer winzigen Plastikrutsche.

Bei geöffnetem Fenster hört man die vom Park kommende Bahn schon früh, ein sich steigerndes Sausen, wenn sie auf der anderen Seite des Hauses auf der Brücke beschleunigt über dem Park. Der Schall wird von der Fassade des Eckhauses zurückgeworfen, noch bevor der Zug ins Haus schießt.

„Das muss ich Ihnen noch erzählen“, sagt Kerstin Serz und ihre Augen funkeln, „die Geschichte mit dem Habicht und der Taube neulich.“ Vor ihren Augen hat sie sich zugetragen, als sie einem befreundeten Künstler Modell saß und nach draußen blickte, so wie jetzt. Da sah sie die beiden Tiere, den gierigen Habicht und die Taube, die er jagte. Aufgeschreckt, in Todesangst, flatterte das Tier auf die Fassade des Neubaus zu, schließlich in einen der Balkone hinein, die nach innen in die Hauswand eingelassen sind. Mit voller Wucht krachte die Taube dort gegen die Fensterscheibe, blieb benommen auf dem Balkon liegen.

Er sei ganz ruhig gewesen, erzählt Kerstin Serz, er war sich seiner Sache nun sicher, der Habicht, setzte sich nur auf die Balkonbrüstung und wartete geduldig. Schaute sich alles an, beobachtete die Taube für eine Weile. Versetzte ihr schließlich den Gnadenstoß und flog dann davon, zwischen den großen Klauen die tote Taube, seine Beute. Und hinter ihm her, so erzählt es Kerstin Serz mit einer Mischung aus Erregung und Ekel in der Stimme, ein paar Krähen. Der Jäger und die Aasfresser, sein Schwarm.

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