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Das Tunnelhaus samt durchfahrender U-Bahn. Statt es abzureißen, entfernte man die Wohnungen im ersten und zweiten Stock.

© Museum Tempelhof-Schöneberg

„Das Tunnelhaus hat uns das Leben gerettet“: Als die U-Bahn mitten durch ein Berliner Mietshaus fuhr

Bis 1943 fuhr die U-Bahn am Bülowbogen durch ein Mietshaus. Das sogenannte „Tunnelhaus“ rettete Hans-Joachim Kitzerow im Zweiten Weltkrieg das Leben.

Als Hans-Joachim Kitzerow ein Kind war, damals im Schöneberg der Dreißiger und frühen Vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts, war sein Alltag fast öffentlich: „Wir haben oft von Freunden gehört, dass sie uns aus der U-Bahn beim Abendbrot oder beim Spielen gesehen hatten“, erzählt der ehemalige Ingenieur, der 1930 am Bülowbogen geboren wurde.

Für ihn und seine Familie war die Hochbahn ein wichtiger Teil ihres Lebens. „Vom Fenster habe ich immer die Leute beobachtet, die auf dem Weg vom Regierungsviertel zum Ku’damm waren.“

Er lebte damals im ersten Stock der Dennewitzstraße 23 – genau neben dem „durchbrochenen Haus“ mit der Adresse Bülowstraße 70 im Nordosten Schönebergs, das bis zu seiner Zerstörung im November 1943 eine bekannte Sehenswürdigkeit der Hauptstadt war. Es stand dort, wo heute der Eingang Bülowstraße des Gleisdreieckparks liegt.

Hans-Joachim Kitzerow, der heute in der Nähe des Rüdesheimer Platzes in Wilmersdorf wohnt, erinnert sich noch gut an seine Kindheit direkt neben dem Tunnelhaus – so wurde es genannt.

Berühmtheit erlangte es mit dem Bau der Hochbahn zwischen Gleisdreieck und Nollendorfplatz um das Jahr 1900. Das Tunnelhaus war zur Zeit seiner Entstehung ein über die Grenzen Berlins und Deutschlands gefeiertes Großstadtwunder, ein Sinnbild des Fortschritts. Die neue Sehenswürdigkeit fand sogar ihr Echo in der Lyrik – etwa in Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Berlin“: „Da fährt die Hochbahn in ein Haus hinein und auf der andern Seite wieder raus.“

Wo das Haus früher stand, klafft heute eine riesige Lücke in der Häuserzeile.
Wo das Haus früher stand, klafft heute eine riesige Lücke in der Häuserzeile.

© Bruno Gaigl

Statt das Haus abzureißen, als die Hochbahntrasse gebaut wurde, entschied man sich für eine technisch schwierigere Lösung und entfernte das erste und zweite Stockwerk, sodass die Bahn hindurchpasste. „Die Strecke führte so dicht an den parallel stehenden Hinterhäusern vorbei, dass die Mieter des ersten Stocks den Streckenarbeitern durch das Fenster die Hand reichen konnten“, erinnert sich Kitzerow.

Was war zuerst da - das Haus oder die Bahn?

Als er erwachsen wurde, fing er an, intensiv zu seiner Kindheit neben dem Tunnelhaus zu recherchieren. „Als Kind habe ich mich immer gefragt, was war zuerst da? Das Haus? Die Hochbahn?“ In verschiedenen Archiven der Stadt fand Kitzerow Antworten – aber auch in den zahlreichen Büchern, die ihm Freunde schenkten. „Die wussten natürlich, dass ich ein neugieriger Berlin-Fan bin.“

Das Tunnelhaus hat für Hans-Joachim Kitzerow aber auch einen besonderen Wert, der mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs zusammenhängt. Sein Vater hatte die zeitlichen Abstände der vorbeirauschenden Züge so verinnerlicht, dass er aufwachte, wenn mal kein Zug kam, erzählt Kitzerow. Und das hieß damals meist: Gefahr im Anflug.

Das Tunnelhaus wurde bei dem Bombenangriff 1943 zerstört.
Das Tunnelhaus wurde bei dem Bombenangriff 1943 zerstört.

© BVG-Archiv

„Bevor man die Sirenen hören konnte, hatte die BVG von der Luftüberwachung bereits eine Vorwarnung bekommen. Das hat uns bei den Fliegeralarmen im Krieg einige Male das Leben gerettet.“ Denn dann wurde kein Zug mehr auf die Hochbahnstrecke gelassen, die Züge aus Pankow wurden spätestens am Potsdamer Platz, die aus Ruhleben am Wittenbergplatz im Tunnel festgehalten.

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„Mein Vater ist dann immer hochgeschreckt und hat gerufen: Zieht euch an! Es ist kein Zug gekommen, es gibt gleich Alarm!“ Am Abend des 22. November 1943 wurde sowohl das Haus an der Dennewitzstraße 23, in dem Kitzerow lebte, als auch das durchbrochene Haus von Bomben getroffen und zerstört. Heute ist an dieser Stelle eine Lücke, die Nummer 70 hat man nie wieder aufgebaut.

Eine Geste an die Bewohnerinnen und Bewohner

Aber auch wenn das Großstadtwunder von damals aus dem Stadtbild verschwunden ist, können heutige Städteplaner von ihren Vorgängern, die es beim Hochbahnbau stehenließen, lernen – das meint zumindest Max Schmidt, Architekt im Berliner Büro Kadawittfeld. „Vergangene Beispiele städtebaulicher Anpassung durch wachsende Infrastruktur zeigen oft einen weniger rücksichtsvollen Umgang mit der vorhandenen umliegenden Bebauung“, sagt der 30-Jährige.

Dass man das Haus für den Bau der Hochbahn Anfang des letzten Jahrhunderts nicht abriss, sondern sich für eine kompliziertere Variante entschied, wirke wie eine Geste an die Bewohnerinnen und Bewohner der sich wandelnden Stadt. „Neben der Entkernung und dem Durchbruch der beiden Stockwerke wurde sicherlich auch die Statik nochmal neu berechnet und verstärkt“, schätzt Schmidt.

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Letztlich war es wohl dem Pragmatismus der Nachkriegszeit geschuldet, dass das Haus nach seiner Zerstörung bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgebaut wurde, obwohl die Züge schnell wieder auf der Strecke verkehrten. „Das ganze Haus um die U-Bahn herum wieder aufzubauen, wäre einfach zu aufwendig und zu teuer gewesen“, meint Schmidt. Heute erinnert nur noch eine orangefarbene Infotafel an das Tunnelhaus, durch das einst die Züge rollten.

Und wie ging es weiter?

Und wie ging es weiter mit der Hochbahn am Bülowbogen? Silvester 1971 fuhr die U-Bahn vorerst zum letzten Mal über die Bülowstraße. Die Linie wurde daraufhin eingestellt, da sie nach dem Mauerbau kaum noch jemand nutzte.

Kiezkind. Hans-Joachim Kitzerow wuchs gleich neben dem Tunnelhaus auf.
Kiezkind. Hans-Joachim Kitzerow wuchs gleich neben dem Tunnelhaus auf.

© Bruno Gaigl

Der Bahnhof Bülowstraße wurde ab sofort nicht mehr bedient und die aus Dahlem kommenden Züge, die vorher bis Gleisdreieck gefahren waren, endeten nun am Wittenbergplatz. Die West-Berliner nutzten vorrangig die Strecke der heutigen U1 über den Bahnhof Kurfürstenstraße.

Nachdem die Hochbahn in Schöneberg-Nord lange Zeit stillgelegen hatte, wurde der Betrieb der U2 nach der Wende 1993 wieder aufgenommen – nicht für jeden ein Grund zur Freude. Viele Anwohner fühlten sich durch den Lärm belästigt. Denn bis zum Kauf neuer Züge verkehrten auf dieser Strecke zunächst nur ältere Waggons, die sehr laut waren. Ganz anders als die früheren Nachbarn des Tunnelhauses, damals in den Dreißigern: Lärmbelästigung habe man zur Zeit seiner Kindheit nie empfunden, sagt Hans-Joachim Kitzerow.

Bruno Gaigl

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