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Sommer, Sonne, Heiterkeit? Die Zeit des striktesten Lockdowns ist vorerst vorbei.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Das neue Normal: Berlin gewöhnt sich an den Corona-Ausnahmezustand

Nach drei Monaten im Lockdown ist die Pandemie nicht vorbei. Zwischen Kneipennächten und Abstandsregeln gibt es viele Widersprüche.

Vollere Restaurants und Stau auf Berliner Straßen, Aufhebungen von Reisebeschränkungen, überhaupt – Lockerungen der Maßnahmen und ein immer deutlicheres Gefühl, als gäbe es Grund zur Entwarnung. Die Anzeichen dafür, dass Berlin zur Normalität zurückkehrt, sind deutlich beim Streifzug durch die Stadt.

Die Forderung danach steht seit Monaten, fast seit Beginn der Krise, im Raum. Wie viele Bilder haben wir gesehen, von Menschen, die sich ohne Abstand vor dem Bundestag, dem Brandenburger Tor und auf dem Rosa-Luxemburg-Platz versammelten, um gegen die Hygieneregeln zu demonstrieren?

Verschwörungsmystiker, Seite an Seite mit Vertretern aller politischen Lager – fast hätte man meinen können, es finde eine Neuordnung des politischen Spektrums statt, ein sogenanntes Realignment. These: So unterschiedlich ihre Beweggründe im Einzelnen sein mögen, geeint hat sie vor allem die Ablehnung eines völlig absichtslosen, unberechenbaren Virus als neuer Macht, dem all das, was es verursacht, vollkommen egal ist. Und dem noch nicht einmal etwas grundlegend Böses nachgesagt werden kann.

Seine Bedrohung war dadurch aber kein bisschen geringer. Zeitweilig schien der mediale Fokus vor allem bei den Regel-Verweigerern zu liegen, während Nachrufe auf Covid-19-Tote oder Rekonvaleszenz-Reportagen weitgehend ausblieben. So konnte ein verzerrtes Bild der Zustände entstehen. Denn die große Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner erkannte das Virus an und folgte einem anderen Prinzip: der freiwilligen Selbstkontrolle.

Aus dem Haus zu gehen, war zu Beginn des Lockdowns mit Unsicherheit verbunden. Man begann, sich tagein tagaus über angemessene Verhaltensweisen zu informieren, verfolgte Statistiken und schlief zur Stimme des Charité-Virologen Christian Drosten ein oder wachte mit ihr auf. Man lernte den Ausweich-Tango und disziplinierte sich, eine Maske anzulegen und nicht ständig nachzujustieren, sich nicht ins Gesicht zu fassen. Wie oft hat man es in den letzten Monaten aber vergessen, war die Hand doch wieder irgendwo, wo sie nicht hingehörte, hat man irgendwen spontan umarmt und hinterher ein mulmiges Gefühl verspürt? Und wie oft ist doch nichts passiert?

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Der ermüdende Alarmzustand

Je weniger sichtbar die Konsequenzen sind, desto ermüdender wird die ständige Achtsamkeit. Und umso größer die Nachlässigkeit. Der Begriff „Alarm Fatigue“ beschreibt diesen Effekt. In der Medizin bezeichnet er die psychische Belastung von Personal, das in ständiger Alarmbereitschaft ist.

Zum Beispiel Ärzte und Pflegekräfte auf Intensivstationen, die permanent auf Signale von Geräten achten müssen, die auf Lebensgefahren für die angeschlossenen Patienten deuten können. Laut einem Artikel in der medizinischen Fachzeitschrift AINS von 2017 verursachen die Behandlungen von Intensivpatienten um die sechs Alarme pro Patient pro Stunde, von denen bis 90 Prozent Fehlalarme sein können.

Die Häufung von Fehlalarmen aber führt zur Abnahme der Alarm-Empfindlichkeit des Personals, sodass die Signale schlicht überhört werden. In der Folge bleiben, wie in einer getesteten Klinik in Salt Lake City, 41 Prozent aller Alarme unbeantwortet. Zugleich steigt seitens des Personals das Stresslevel, denn jeder zu spät oder gar nicht registrierte Alarm könnte für den Patienten lebensbedrohlich sein. Teils wird das Personal speziell für diese Belastungen geschult. Die Menschen in Berlin nicht. Wie auch?

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Die verstreichende Zeit im Lockdown glich als Wartezeit dem langsamen, ermüdenden Spannen eines Bogens zurück zur Normalität. Es ist daher kein Wunder, dass die Reaktionen auf die ersten Lockerungen, die mit Meldungen sinkender Ansteckungsraten einhergingen und ausgerechnet auf die ersten warmen Tage des Jahres fielen, mitunter exzessiv ausfielen.

Die Grünanlagen Berlins haben bei gutem Wetter schon immer guten Zulauf gehabt. Aber in welchem Sommer hat man schon mal eine halbe Stunde lang im Tiergarten nach einem freien Fleck suchen müssen? Letzte Woche zum Beispiel. Auch die Menschenmengen auf dem Tempelhofer Feld dürften zuletzt beispiellos gewesen sein, und nicht wenige, die versucht haben, sonntags mit dem Fahrrad am Paul-Lincke-Ufer durchzukommen, dürften resigniert auf die holprige Reichenberger Straße ausgewichen sein, so dicht war das Gedränge.

Jojo-Effekt beim Achtsamkeitsstress

Ruft man sich noch die Bootsdemo der Clubs auf dem Landwehrkanal vom 31. Mai in Erinnerung, deren Bilder um die Welt gingen, stellt sich nicht der Eindruck von Normalität ein – vielmehr der einer Normalitätshysterie, als schlüge der latente Achtsamkeitsstress mit einem Mal in sein völliges Gegenteil um. Jojo-Effekt. Auch hier blieb ein mulmiges Gefühl, das sich im Reproduktionsfaktor des Virus bislang eher nicht bestätigte.

Und täglich erreichen uns Meldungen zu weiteren Lockerungen: Alle Läden öffnen, Bars haben bis in die Nacht geöffnet. Abstandsmarkierungen werden an vielen Supermarktkassen kaum noch beachtet und immer mehr verschwinden die Masken aus den Gesichtern des Supermarktpersonals. Berliner Kitas nehmen ab dem 22. Juni den Irgendwie-Vollbetrieb wieder auf und geht man an Spielplätzen vorbei, sieht es fast wieder so aus wie früher.

Kehrt also doch die Normalität wieder ein? „Die Nicht-Normalität ist zur Normalität geworden“, sagt ein Vater in Prenzlauer Berg. „Kinder spielen miteinander, aber fassen sich nicht an. Auf dem Spielplatz spielt jede Familie für sich, das ist traurig. Mich macht der Anblick manchmal fertig.“

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In einem Jeans-Geschäft am Alexanderplatz, dessen Betrieb auf den ersten Blick ganz regulär zu laufen scheint, sind alle Angestellten in Kurzarbeit. Und tragen Masken. „Wir haben festgestellt, dass die Kunden auch keine tragen, wenn wir es nicht tun“, erzählt der Verkäufer. Eine Angestellte leidet an der Atmosphäre im Großraumbüro, in das sie kürzlich aus dem Homeoffice zurückgekehrt ist: „Immerhin wird man nicht mehr von Kollegen umarmt, von denen man nicht umarmt werden möchte. Aber mit den Masken und Abstandsregeln bewegt man sich hier ziemlich geisterhaft.“

„Normalität“ – ein Begriff in der Schwebe

Unter die Meldungen von Lockerungen mischen sich immer wieder auch solche zu steigenden Ansteckungszahlen: Minimal nur der Zuwachs in Berlin, schlimm trifft es strukturell schwächere Regionen jenseits Europas, deren Benachteiligung unter der Pandemie noch deutlicher wird. Weltweit gesehen ist die Lage schlimmer als je zuvor, und weil das Virus nicht gänzlich an Grenzen halt macht, dürfte uns das langfristig auch lokal betreffen. Aus humanitären Gründen sowieso. Aber vor allem: Noch immer gibt es keinen Impfstoff.

Zunächst bleibt „Normalität“ ein Begriff in der Schwebe, der um den Reproduktionsfaktor kreist. Lockerungen können gekippt werden, sollten die Corona-Ampeln umschalten. In dieser Phase mutet vieles widersprüchlich an. Wie der Hinweis einer Barkeeperin an zwei Gäste, neulich in einer Neuköllner Kneipe, nachdem die sich in die Namensliste eingetragen hatten: „Ihr dürft gerne kuscheln, aber bitte mit Abstand.“

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