zum Hauptinhalt
Der Wilmersdorfer Gastroenterologe Andreas Schröder bei der Arbeit.

© Mike Wolff

Darmspiegelung: Leben retten mit der Kamera

Viele haben Angst vor einer Darmspiegelung. Aber der Eingriff ist heute relativ unkompliziert – dank ausgefeilter Technik. Der Nutzen einer Koloskopie überwiegt dabei die Risiken bei weitem.

Die Türen des hohen, schweren Stahlschranks stehen weit offen. Unterschiedlich lange, schwarze Schläuche hängen darin wie Aale im Räucherofen. Nur sind wir nicht in einer Fischräucherei, sondern in einer Arztpraxis. Die Schläuche werden gleich gebraucht, denn sie sind das wichtigste Equipment des Gastroenterologen: Endoskope, vier längere für die Darmspiegelung und vier kürzere für den Blick in den Magen.
Dass sie außerhalb der Praxiszeiten in dem robust konstruierten Stahlschrank verschlossen sind, hat seinen Grund: Denn die 1,40 Meter oder 1,50 Meter langen biegsamen Schläuche mit Elektronikkasten und Steuerelementen sind nicht nur wichtig, sondern auch teuer. Ein Endoskop kostet schnell 12 000 Euro oder mehr. Und in der gastroenterologischen Praxis von Andreas Schröder in Wilmersdorf hängen gleich acht davon. Schröder ist 62 Jahre alt, grau meliertes Haar, er trägt Brille, Schnäuzer und einen weißen Kittel. Gerade eben hat er eines der längeren Endoskope aus dem Schrank geholt. Eine Darmspiegelung steht an.
Der häufigste Grund für eine Koloskopie, wie man die Untersuchung medizinisch nennt, ist die Krebsvorsorge, die die gesetzlichen Krankenkassen für Frauen ab 55 und für Männer ab 50 alle zehn Jahre bezahlen, manche auch schon früher. Warum dieser Unterschied bei den Geschlechtern? „Männer erkranken statistisch betrachtet häufiger und früher an Darmkrebs als Frauen“, sagt Schröder, der auch Vorstandsvorsitzender des Vereins gastroenterologisch tätiger fachärztlicher Internisten in Berlin ist.

Die Patientin ist bei Bewusstsein, hat aber Beruhigungsmittel genommen

Jetzt wartet Isolde Gehringer (Name geändert) auf den Gastroenterologen. Die Sprechstundenhilfen haben die 56-Jährige auf einer Liege im Untersuchungszimmer schon in die richtige Position gebracht. Sie liegt auf der linken Seite, die Beine etwas angewinkelt. Sie ist zwar bei Bewusstsein, aber durch starke Beruhigungsmittel, die ihr kurz zuvor verabreicht wurden, döst sie vor sich hin und bekommt davon, dass ihr der Arzt das Endoskop in den Darm einführt, nicht viel mit. Selbst als die Schwester ihr auf den Bauch drückt, um die Passage des Geräts am ersten Darmknick zu erleichtern, stöhnt die Patientin nur leicht. Schmerzen im Darm würde sie aber sowieso nicht bemerken, denn in der Darmwand gibt es keine Schmerzrezeptoren. Der Darmabschnitt, der nun auf dem Bildschirm neben der Liege sichtbar wird, ist sauber ausgespült. Das Endoskop ist jetzt etwa 30 Zentimeter tief im Körper. Die feucht schimmernden pergamentfarbenen Wände sind marmoriert durch ungezählte feine rote Blutgefäße. In regelmäßigen Abständen durchziehen Muskelringe das Gewebe, die ein wenig an den Blick hinauf in ein rundes Treppenhaus erinnern. Diese Ringe sorgen für die Peristaltik des Darms, also die unwillkürlichen Bewegungen, mit denen der Speisebrei durch das Verdauungsorgan transportiert wird. Isolde Gehringer durfte 24 Stunden vor dem Termin nichts mehr essen, musste dafür aber Wasser trinken, in dem ein Abführpulver aufgelöst wird und das – so sagt Frau Gehringer nach der Untersuchung augenzwinkernd – „nicht gerade wie Orangensaft schmeckt“. Auch wenn der Hersteller sich alle Mühe gibt, die Mischung aus Natriumpicosulfat, Magnesiumoxid und Citronensäure-Monohydrat mit einem angeblich „frischen Zitrusfruchtgeschmack“ zu aromatisieren. „Die Trinksubstanz wurde in den letzten Jahren immer wieder verbessert“, sagt Schröder. „Während man früher noch mehrere Liter davon zu sich nehmen musste, reichen heute gegebenenfalls bereits drei 0,2-Liter-Gläser über den Tag verteilt aus.“

Die eigentliche Untersuchung sollte mindestens sechs Minuten dauern

Die Untersuchung beginnt. Schnell schiebt Schröder das Endoskop vom Rektum über den absteigenden Darmabschnitt, den querliegenden und schließlich aufsteigenden Teil zum Blinddarm, wo er nach dem Dünndarm beginnt. Eine Schwester steht unterdessen am Kopfende der Liege, dabei spricht sie leise auf die Patientin ein und hält ihre Hand. „Hier geht es auch darum, Ängste zu nehmen“, sagt Schröder.
Die eigentliche Untersuchung des Dickdarms beginnt aber erst jetzt, beim Zurückziehen des Endoskops. Diese Phase sollte mindestens sechs Minuten dauern, sonst wächst die Gefahr, dass der Arzt etwas übersieht. Manchmal dauert sie auch zwölf Minuten.
Immer wieder macht Schröder währenddessen Fotos vom Darminnern, die er mithilfe eines Pedals auslöst. Diese kommen in die Patientenakte und dokumentieren das Ergebnis der Untersuchung. Das Endoskop ist ein Multitalent. Es kann Luft oder – wie in Schröders Praxis – Kohlendioxid ausstoßen, um den Darm für eine bessere Sicht etwas aufzublasen; es kann Luft absaugen und mit einer Flüssigkeit nachspülen, sollten Stuhlreste den Blick auf die Darmwand behindern. Außerdem enthält es ein Steuerelement, um den biegsamen Schlauch abzuknicken und in eine neue Richtung zu schieben. Es hat an der Spitze eine Kamera, die Bilder auf den Monitor überträgt, auf dem der Arzt die Koloskopie verfolgt.
Das Endoskop durchzieht zudem ein Kanal, durch den sich chirurgische Instrumente schieben lassen, um Wucherungen in der Darmwand – Adenome und Polypen genannt – entfernen zu können. Vor allem die Adenome sind oft Vorstufe für bösartige Tumore. Je mehr Adenome der Arzt entdeckt und entfernt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass später Darmkrebs entsteht. Deshalb gilt die Rate der entdeckten Adenome auch als ein Qualitätsmerkmal der Vorsorgeendoskopie.

Eine Wucherung muss entfernt werden

Heute verbessert sich auch Schröders Quote wieder. Auf dem Monitor wird eine Wucherung in der Darmwand sichtbar. Sie ist rosafarben und liegt wie ein umgefallener, langstieliger Pilz im Verdauungsschlauch. 15 Zentimeter Länge – ein fortgeschrittenes Adenom.
In dem abgedunkelten Untersuchungszimmer, in dem bisher eine medizinisch sachliche Ruhe herrschte, in dem nur die Stimme des Arztes zu hören war, der das eine oder andere erklärte, wird es plötzlich ein klein wenig hektischer. Schneidwerkzeuge müssen geholt und durch den Instrumentenkanal des Endoskops geschoben werden, das ist nicht ganz unkompliziert. Die Wucherung wird mit einer winzigen stromdurchflossenen Schere abgeschnitten. Durch den Strom werden die Wundränder nach dem Abtrennen verkocht und sofort verschlossen.
Schröder zieht das Adenom mit einem Greifinstrument durch das Endoskop heraus, deponiert es in einem Glasröhrchen, das zur Untersuchung ins Labor geht. Der Gastroenterologe ist sich jetzt schon sicher: „In drei oder vier Jahren wäre daraus eine bösartige Geschwulst geworden.“
Hat dieser Erfolg auch eine unerwünschte andere Seite? Grundsätzlich kann jeder medizinische Eingriff Komplikationen mit sich bringen und so auch die Koloskopie. Dazu zählen zum Beispiel Blutungen an den Stellen, an denen Adenome oder Polypen abgetragen werden. Oder Verletzungen der Darmwand durch Vorerkrankungen, wie etwa Divertikel, das sind dünne Schleimhautausstülpungen, die durch das Endoskop einreißen können.
Noch schlimmer ist es, wenn die Darmwand durchstochen wird. „Solch eine Perforation kommt aber nur selten vor, statistisch in einem von 10 000 Fällen“, sagt Schröder. Grundsätzlich sei der Nutzen der Vorsorge viel höher als die potenziellen und seltenen Komplikationen.
Eine hundertprozentige Sicherheit aber kann die Koloskopie nicht bieten. So können prinzipiell auch Menschen an Darmkrebs erkranken, die regelmäßig an der Vorsorge teilgenommen haben. „Jedoch sind diese Fälle eher die Ausnahme“, sagt Schröder. „Für den Großteil der Bevölkerung überwiegt ganz klar der Nutzen – und dieser Nutzen heißt: gerettete Leben.“

Zur Startseite