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Berlin: Dagmar König (Geb. 1945)

Erzogen wie ein Junge, wurden Kunst und Politik ihr Leben. Und ein Laden

Von Julia Prosinger

Sie liebte Gedichte, Drehbücher, Theaterstücke, Opern und Ballett. Und sie war selbst eine Figur wie aus den Geschichten, die sie las, sah und sammelte.

Szene eins: Es ist drei Uhr nachts, der Wecker klingelt, Dagmar König steht auf, raucht eine Zigarette, trinkt eine Tasse Tee, schaltet den Videorekorder an. Maischberger, Plasberg, Jauch – Politmagazine. Sie regt sich auf über die Leute von der CDU und der FDP, die wieder Unsinn reden und freut sich über Alice Schwarzer, die wieder recht hat, Sarah Wagenknecht auch, aber die Linke ist ihr dann doch zu dogmatisch. Die Aufregung ist gut für den Adrenalinspiegel am Morgen.

Szene zwei: Dagmar König fährt Bus bis zur Haltestelle Spandau, raucht eine, steigt um in die S-Bahn, steigt aus am Bahnhof Bellevue, läuft in die Claudiusstraße, Stufen hinunter, schließt ihren kleinen Laden auf. Zwei dunkle Räume, direkt hintereinander, staubige kleine Fenster, Spitzenvorhänge. Hinten eine Theke mit Backwaren, Fruchtfliegen drehen ihre Runden, vorn der Tresen mit Zeitungen. 6.30 Uhr, Dagmar König öffnet den Laden. Erster Kunde: „Eine Bild bitte.“ Sie: „Hier, Ihre Lügenzeitung.“ Zweiter Kunde: „Eine Frankfurter.“ Er meint die Allgemeine, Dagmar König weiß das. Sie legt ihm die Rundschau hin.

Rückblende eins: Dagmar König ist ein kleines Mädchen. Ihre Mutter in Spandau flicht ihr strenge Haarkränze, scheucht sie aus der Küche, aus dem Haus, in den Garten zum Vater. Der ist Ingenieur, Abenteurer, er wäre gern ausgewandert nach Südamerika. Stattdessen hat er 30 kleine Bäume auf dem winzigen Grundstück gepflanzt. Er zieht Dagmar auf wie einen Sohn, füttert die Hühner mit ihr, malert, bastelt mit ihr, sie gehen jagen, er erzählt ihr von der SPD, kochen lernt sie nie.

Mit zehn Jahren entdeckt Dagmar das Ballett. Sie verpasst keine Aufführung, trifft ihre Helden Margot Fontyn, Rudolf Nurejew. Dagmar: „Ich werde Klofrau bei einer Ballettkompanie.“ Vater: „Auf keinen Fall.“ Mit 14 entdeckt sie das Lesen, Tolstoi, Dickens, sie schwänzt die Schule, liest im Park.

Szene drei: Laden in der Claudiusstraße, Auftritt Herr Dr. Klöbner, Kater der Nachbarn. Klöbner ist von zu Hause weggelaufen, er bevorzugt Frau König. Seine Besitzer müssen ihn fortan im Laden besuchen. Es nähert sich ein Nachbarhund. Dr. Klöbners Schwanz sträubt sich wie ein Tannenbaum. „Unser Hund tut ihrer Katze nichts“, sagen die Nachbarhundbesitzer. „Aber unsere Katze ihrem Hund“, sagt Frau König. Jahre später wird Dr. Klöbner von einem Kampfhund zerfetzt.

Rückblende zwei, Ende der sechziger Jahre: Dagmar König hat die Schule geschmissen, macht eine Ausbildung zur Buchhändlerin, zieht bei den Eltern aus, allein in die Lützowstraße. 80 Mark hat sie im Monat, nach 14 Tagen ist das Geld aufgebraucht. Sie lernt Jörg Grünewald kennen, der bei der Konkurrenzbuchhandlung arbeitet. Er mag ihren Dutt und die strengen Blusen, ganz gegen die Mode der Sechziger. Er mag auch, wie sie liest, systematisch, wie besessen. Sie werden ein Paar. Als die Mutter stirbt, zieht Dagmar zum Vater. Vater: „Du und ich, wir brauchen niemanden sonst, wir genügen einander.“ Der Vater ist eifersüchtig auf Grünewald. Mit ihm geht Dagmar ins Kino, ins Theater, zehnmal im Monat, am liebsten zu Peter Stein in die Schaubühne, solange das Geld reicht. Nach 16 Monaten ziehen sie zusammen in die Spandauer Altstadt. In ihrem Zimmer steht Tolstoi, bei ihm steht Thomas Mann. Sie heiraten nicht, sie wollen keine Kinder. Über große Gefühle informiert sich Dagmar König bei Hölderlin und Eichendorff.

Szene vier: 2008, der Laden in der Claudiusstraße. Dagmar König findet einen verletzten Vogel, eine Drossel, nennt ihn Emil, pflegt ihn gesund. Emil hüpft an den Kunden vorbei, bis ganz hinten in den Laden. Dort steht eine Kristallschale mit Rosinen. Emil pickt eine auf, fliegt über die Kunden, füttert draußen im Baum seine Kinder. Wieder und wieder. All die Jahre, auch heute noch.

Rückblende drei, die siebziger Jahre: König und Grünewald gehen abends essen, sie kennen alle Lokale in Spandau, am Liebsten essen sie Lamm mit Kräutern der Provence, es bedient Wolfgang Skala, ein großer Mann mit tiefer Stimme. Er mag, was sie mögen. Balzac, Opern, Ballett. „Wenn wir zusammenziehen, wir drei, dann können wir das Geld in Kultur investieren“, sagen sie, werden eine Wohngemeinschaft und beschließen, einen Laden zu eröffnen. Keine Buchhandlung, zu teuer, die Leute werden bald nicht mehr lesen, sondern ein Tante-Emma-Geschäft. Es soll ein Treffpunkt werden für Professoren und Künstler, sie wollen Opern- und Literaturzeitschriften verkaufen, interessante Leute treffen. Szene fünf, ein Freitag im vergangenen Jahr: Auftritt Zillmann, SPD-Funktionär, die weißen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, Hosenträger. „Guten Tag, Frau Königin“, sagt er. Zilllmann setzt sich hinten an den kleinen Holztisch, darauf liegt ein schwerer Teppich. Weitere Nachbarn kommen. Sie trinken Sliwowitz. Frau König trinkt nichts, sie verträgt den Alkohol nicht mehr. Herr Zillmann nimmt sich, wie jeden Freitag, einen Windbeutel mit. Später holt jemand seinen Wohnungsschlüssel ab, ein anderer sein Paket.

Rückblende drei: 1995, Dagmars Vater stirbt. „Ich will zurück auf meine elterliche Scholle“, sagt sie. Das Elternhaus ist klein, 68 Quadratmeter, grau und verwittert, Hexenhaus nennen sie es. Dagmar König zieht mit Skala und Grünewald ein. Die 30 kleinen Pflanzen sind inzwischen 30 große Bäume geworden. Das Haus steht inmitten eines winzigen Waldes mit Buntspechten und Eichhörnchen, Waschbären und Füchsen. „Die grüne Hölle“ nennen die Nachbarn das Grundstück. Im Winter ist der Schnee voller Fährten. Skala kocht, Grünewald koordiniert das Kulturprogramm. „Es darf keine Flops geben, wir haben nicht viel Zeit.“ Literaturverfilmungen der BBC, die mögen sie. Sie sammeln 18 000 Kinoprogrammhefte, 10 000 Filmzeitschriften, den „Spiegel“ ab Ausgabe eins. Dagmar König liest Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zum dritten Mal. Sie liest die neuen Übersetzungen von Tolstoi und Dostojewski. Sie beklagt sich, dass der Laden nicht die richtige Kundschaft anzieht. Obwohl sie sich anpassen kann, dem Gärtner zuhört wie auch dem Theaterkritiker – sie kennt ja alle Welten aus den Büchern – aber sie wünscht sich ein höheres Niveau. Manchmal klappt es. Die Schauspielerin Eva Mattes kommt vorbei, Edith Clever, der Komponist Wolfgang Riehm, der Essayist Dieter Zimmer. Aber die meisten Leute kaufen inzwischen beim Discounter. Statt 180 verkaufen die drei Freunde nur noch 30 Schrippen am Tag und Zeitungen für 400 Euro die Woche. Früher waren es 2000 Mark. Dagmar König arbeitet jetzt oft allein im Laden, sie verkauft auch noch Antiquitäten. „Wolfgang“, sagt sie zu Herrn Skala, „du darfst dir mit deinem Herzinfarkt nichts mehr zumuten.“ „Jörg“, sagt sie zu Herrn Grünewald, „du darfst dir mit deiner Diabetes nichts mehr zumuten.“ Wenn keine Kunden kommen – um die Mittagszeit bleibt es oft leer – nickt sie hinter den Zeitungen ein. Um den Laden zu halten, gibt sie ihre eigene Rente dazu. Sie trägt eine dunkle Brille, weil sie sich an einem Postkartenständer ein Auge ausgestochen hat.

Szene sechs: Der Laden in der Claudiusstraße, Jahr 2011, es regnet, Auftritt Schutzmann Schöne, Kiezpolizist mit dunkelblauer Schiebermütze. „Wo soll denn der Strom so schnell herkommen, wenn wir aus der Atomenergie aussteigen?“, sagt er. Dagmar König wird wütend. Sie streiten und rauchen. Bei ihr sind es drei Schachteln, jeden Tag. Sie redet von sozialer Gerechtigkeit und schimpft über Rösler, Guttenberg und Wulff. Provoziert den Schutzmann. Aber sie erzählt ihm auch, wer krank ist im Kiez und wem ein Fahrrad geklaut, wo eingebrochen wurde.

Szene sieben: Sonntag, 17. Juni 2012. Dagmar König liegt bewegungslos auf ihrem Bett. Grünewald findet sie, ruft den Krankenwagen. 19 Stunden später ist sie tot, Hirnblutungen.

Schluss-Szene: Es ist Freitag, die Freunde, die Kunden treffen sich im Laden. Sie erinnern sich, dass Dagmar König den Eisbären Knut mochte, Wowereit und den russischen Zaren. „Sie war die einzige, der ich mich anvertrauen konnte“, sagt eine Frau. „Wir waren nie einer Meinung“, sagt eine andere. „Schön, dass man hier noch reden konnte, nichts kaufen musste, dass es nicht ums Geld ging“, sagt ein Nachbar. Ein junger Mann in kurzen Hosen läuft am Laden vorbei. „Haben Sie Club Mate?“, fragt er. Grünewald schüttelt den Kopf, lächelt vorsichtig. „Damit fangen wir jetzt auch nicht mehr an“, sagt er. In wenigen Monaten werden Jörg Grünewald und Wolfgang Skala den Laden schließen müssen. Julia Prosinger

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