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Die Körtestraße ist jetzt Fahrradstraße.

© Jörn Hasselmann

Coronakrise beschleunigt Verkehrswende: Kreuzberg macht mit der Pop-up-Fahrradstraße weiter

Mit Pop-up-Radwegen hat der Bezirk Maßstäbe gesetzt. Das zweite Vorzeigeprojekt: eine Fahrradstraße vom Südstern zum Mariannenplatz. Doch noch dominieren Autos.

So viel Fahrradstraße auf einmal gab es noch nie in Berlin - und auch nicht in dem Tempo. Nur vier Tage benötigte der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, um gut zwei Kilometer Strecke zu beschildern, provisorisch nach Corona-Regeln. Die Route führt vom Südstern über die Körtestraße, die Grimmstraße und die Mariannenstraße bis zum Mariannenplatz, also von Kreuzberg 61 nach 36. „Es geht weiter voran mit der Mobilitätswende“, verkündete Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne).

Das erste Vorzeigeprojekt des Bezirks hatte bundesweite Bekanntheit erreicht, innerhalb von zwei Tagen hatte der Bezirk im April den Straßenzug Kottbusser Damm und Kottbusser Straße mit pollergesicherten Radwegen versehen. Dazu wurden alle Parkplätze beseitigt – so etwas galt bis dahin in Berlin als unmöglich. Viele weitere dieser Pop-up-Radwege sind seitdem in Berlin und anderswo entstanden. Die nächste Maßnahme des umtriebigen Amtsleiters Felix Weisbrich: die Pop-up-Fahrradstraße.

Die provisorische Strecke vom Südstern bis zum Mariannenplatz soll nicht die einzige bleiben. "Wenn wir hier in Kreuzberg fertig sind, dann machen wir in Friedrichshain mit der Palisadenstraße weiter", verkündete Weisbrich bereits. Dort gibt es Pläne für eine lange Ost-West-Strecke parallel zur Frankfurter Allee über Palisadenstraße und Weidenweg.

In der Fahrradstraße dürfen Radfahrer nebeneinander fahren, sie haben nach Angaben des Bezirksamtes Vorfahrt gegenüber einmündenden Straßen und es gilt für Autos Tempo 30 - zumindest in der Theorie. Die Praxis sieht – noch – anders aus. Ist es Gewohnheit, sind die Schilder zu klein? Am Wochenende verstießen Autos massenhaft gegen die Straßenverkehrsordnung und nutzten die neue Fahrradstraße wie gehabt. Dies zeigte eine zweistündige Besichtigung. Wie alle Fahrradstraßen in Berlin erlauben Zusatzschilder unter dem Fahrradstraßen-Verkehrszeichen „Anlieger frei“. Aktivisten kommentieren dies gerne so: „Anwohner frei = Durchgangsstraße“.

Diagonalsperren könnten den Durchgangsverkehr verhindern

Monika Herrmann hat es kommen sehen. "Leider ist das aber nicht allen anderen Verkehrsteilnehmenden klar", sagte sie am Freitag, dem Tag der Fertigstellung, zu den Regeln einer Fahrradstraße und ihrer praktischen Umsetzung. Poller oder andere Sperren hat auch Kreuzberg nicht montiert. Diese können aber durchaus kommen.

Die Realität: Am Südstern fahren bei einer Ampelphase fünf Autos in die neue Fahrradstraße.
Die Realität: Am Südstern fahren bei einer Ampelphase fünf Autos in die neue Fahrradstraße.

© Jörn Hasselmann

Wie die Pop-up-Radwege sollen auch die Fahrradstraßen kein Provisorium bleiben. Über Twitter verriet Tiefbauamts-Chef Weisbrich seine Absicht: „Beobachtung der Verkehrsentwicklung. Gegebenenfalls Nachsteuern. Verstetigen, d.h. dauerhafte Anordnung.“ Dies gilt in Kreuzberg seit Beginn der Coronakrise als Grundsatz: nicht jahrelang planen, sondern erst einmal machen.

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Wie könnte ein „Nachsteuern“ in der neuen Fahrradstraße aussehen? So genannte Diagonalsperren könnten den Durchgangsverkehr verhindern. Solche Sperren gibt es zum Beispiel seit vielen Jahren in der parallelen Graefestraße. Auffallend ist zum Beispiel der starke Durchgangsverkehr vom Columbiadamm durch die Lilienthalstraße über den Südstern.

Die Körtestraße. Noch gibt es reichlich Durchgangsverkehr.
Die Körtestraße. Noch gibt es reichlich Durchgangsverkehr.

© Jörn Hasselmann

Die Körtestraße ist jetzt das erste Stück der Fahrradstraße, eigentlich ist die Durchfahrt zur Urbanstraße verboten. Mangelhaft ist auch das mittlere Stück. Zwischen Grimmstraße und Kottbusser Brücke müssen Radfahrer über das Planufer fahren, teilweise über übles Kopfsteinpflaster. Hier hat die Route in der Beschilderung eine Lücke, da in einer verkehrsberuhigten Zone eine Fahrradstraße nicht ausgewiesen werden darf. Bürgermeisterin Herrmann klärte dies erst auf Nachfrage von Anwohnern über Twitter auf.

Alltag in der schmalen Grimmstraße: Der Laster liefert. Der Pkw weicht auf den Radweg aus.
Alltag in der schmalen Grimmstraße: Der Laster liefert. Der Pkw weicht auf den Radweg aus.

© Jörn Hasselmann

Die ideale Fahrradroute - wären nicht die Autos in der Monumentenstraße

Potenzial hat die vom Bezirk gewählte Route jedenfalls: Am Südstern schließt die 2008 als Fahrradstraße immerhin bis zum Marheinekeplatz ausgeschilderte Bergmannstraße an. Über Kreuzbergstraße und Monumentenstraße wird der Kleistpark in Schöneberg erreicht - eigentlich die ideale Fahrradroute.

An Fahrradfahrern mangelt es nicht in Kreuzberg. Durch die Grimmstraße läuft die Senatsroute nach Schöneberg.
An Fahrradfahrern mangelt es nicht in Kreuzberg. Durch die Grimmstraße läuft die Senatsroute nach Schöneberg.

© Jörn Hasselmann

Seit etwa 15 Jahren wird jedoch über eine Reduzierung des Autoverkehrs in der Monumentenstraße diskutiert, seit Monaten demonstrieren Anwohner und Aktivisten für eine Sperrung der Langenscheidtbrücke für den Autoverkehr. In der Monumentenstraße ist eine der Fahrrad-Zählstellen des Senats installiert. Am Sonnabend waren es 4524 Räder, in diesem Jahr 869.000.

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Auch die Grünen setzen nicht alles für Radfahrer durch

Aber auch die meisten ausgeschilderten Berliner Fahrradstraßen mit "Anlieger frei" leiden aus Sicht von Radfahrern unter dem starken Durchgangsverkehr. Ein negatives Beispiel ist die Prinzregentenstraße in Wilmersdorf, die Autofahrern als Alternative zur stark befahrenen parallelen Bundesallee dient.

Eine bauliche Sperre in Höhe der Fußgängerzone am Volkspark könnte die Durchfahrt verhindern, auch gegenläufige Einbahnstraßen für Autofahrer seien möglich, sagen Aktivisten. Passiert ist genau zehn Jahre nichts - obwohl die Grünen den zuständigen Stadtrat stellen. Auch hier werden Radler gezählt, am Sonnabend waren es 1518, also nur ein Drittel des Aufkommens in der Monumentenstraße.

Auch in Pankow gilt: Gut gewollt ist noch lange nicht gut gemacht. Dass die Ossietzkystraße seit kurzem Fahrradstraße ist, hatte sich vor allem unter Autofahrern nicht gleich herumgesprochen - Radler wurden angepöbelt, überholt, abgedrängt.

Fazit: Seit Beginn der Coronakrise hat Friedrichshain-Kreuzberg mehr erreicht als alle anderen Bezirke zusammen, alleine 12 von 22 Kilometern der "Pop-Up-Radwege". In den Jahren vor Corona hatte es - auch das muss gesagt sein - trotz grüner "Regierung" kaum Fortschritte gegeben. Nicht einmal der Kardinalfehler in der Bergmannstraße ist in zehn Jahren korrigiert worden: Das Zeichen "Fahrradstraße " steht nicht direkt am Südstern, sondern 50 Meter weiter - dann kehrt ein Auto garantiert nicht mehr um. 

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