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Im Jahr 2012 kaufte Autorin und Coach Kerstin Hack die „Anna Grace“ über Ebay und baute den alten DDR-Kahn zum Hausboot um.

© Kitty Kleist-Heinrich

Coaching-Boot in Oberschöneweide: Therapie mit Blick auf die Spree

Auf einem ausgedienten DDR-Schiff in Oberschöneweide hilft Coach Kerstin Hack ihren Gästen, Ängste zu überwinden. Übernachten können sie dort auch.

Um zum Schiff zu gelangen, muss man das Industriegelände des Comer Business Park durchqueren. Vorbei an Industriehallen und heruntergekommenen Gebäuden, vorbei an einem rostbraunen Gerüst und einem gelben Bagger, bis zum Wasser. Eine halbbekleidete Schaufensterpuppe lehnt am Geländer, daneben ein kleiner Holzsteg, der zu den Decks der zwei Schiffe führt, die hier im Wasser liegen. Das hintere ist die „Anna Grace“.

„Ebbe und Flut – Begleitung für die Höhen und Tiefen im Leben“ steht am Eingang des Schiffes. Mit diesem hat Kerstin Hack sich einen Traum verwirklicht: auf einem Hausboot in Berlin leben – und gleichzeitig einen Ort schaffen, an dem Menschen zur Ruhe kommen, sich neu ausrichten und an ihren Ängsten und Blockaden arbeiten können. Die Coaching Stunden sind aber nicht verpflichtend: „Wer will, kann während seines Aufenthaltes auch einfach nur für sich sein, Abstand zu seinem räumlichen Umfeld bekommen und aufs Wasser schauen“, sagt Hack.

Eine Seltenheit in Berlin: Absolute Ruhe

Gäste können sich einen Tag oder bis zu drei Wochen auf dem Hausboot einquartieren. Das 100 Quadratmeter große Schiff bietet eine Terrasse mit Sitzgelegenheiten, einen Grill – und einen unverstellten Blick auf die glitzernde Oberfläche der Spree. Außerdem gibt es etwas, was man in Berlin sonst eher selten findet: absolute Ruhe. Nur das Geschrei einiger Möwen ist zu hören. Zum Schiff gehören außerdem zwei Kajüten, ein Veranstaltungs- und Coachingraum sowie der private Bereich von Kerstin Hack, die mittlerweile ganz auf dem Schiff lebt.

Ist es komisch, seine Wohnung gegen ein Hausboot einzutauschen? Hack schüttelt den Kopf. „Das war gar kein Problem. In der Bauphase war ich sowieso schon mindestens drei Tage pro Woche vor Ort und habe immer öfter auch hier übernachtet. Es war also ein fließender Prozess.“

Zwei Jahre sollte die Renovierung dauern, fünf sind es geworden. „Gut, dass ich das vorher nicht gewusst habe“, sagt Hack und lacht. 2012 hatte die 51-Jährige das DDR-Marineschiff über eine Ebay-Anzeige entdeckt und gekauft. Baujahr: 1953, Kosten: 25.000 Euro, frühere Nutzung unter anderem als Torpedotransporter und Fahrgastschiff. Die letzten sieben Jahre war es in Privatbesitz. Liebe auf den ersten Blick war es nicht: Die weißen Außenwände waren von Dreck und Rost überzogen, das Innere mit Möbeln und Gerümpel zugestellt. Aber Kerstin Hack sah das Potenzial des Schiffes, und wie es einmal aussehen könnte – von Grund auf gereinigt, repariert und ausgebaut.

Die Überführung vom damaligen Liegeplatz in Hamburg nach Berlin verlief nicht reibungslos: Erst fand Kerstin Hack keinen Liegeplatz, dann wurden kurz vor der Überfahrt mehrere Lecks entdeckt, die repariert werden mussten. Und als die „Anna Grace“ es dann schon bis zur Schleuse nach Brandenburg an der Havel geschafft hatte, fehlte ein Stempel auf der Transportgenehmigung. Nach vielen Telefonaten durfte das Schiff seine Fahrt am nächsten Tag fortsetzen, und seit 2013 liegt es nun in Oberschöneweide auf der Spree. Fahrtüchtig ist die „Anna Grace“ heute nicht mehr; der Motor wurde ausgebaut. Dafür hat das Schiff einen beheizbaren Fußboden, einen Kamin und eine Komposttoilette. Strom gibt es von den Solaranlagen, und weil das noch nicht ganz ausreicht, auch von Land.

Ein niemals endendes Bootprojekt

Ganz alleine wäre das alles nicht machbar gewesen: Freunde, Bekannte und freiwillige Helfer unterstützten Kerstin Hack. Manche packten für ein paar Stunden mit an, andere halfen für einen längeren Zeitraum. Außerdem holte sich Hack Rat von erfahrenen Schiffsbauern und anderen Experten. In dem Boot stecken nicht nur unzählige Stunden an Arbeitskraft, sondern auch echte Maßarbeit: Jeder Millimeter des Schiffes wird optimal ausgenutzt. Und überall findet man kreative Arrangements – wie zum Beispiel die Puppenhand, die als Klorollenhalter auf der Toilette dient. Von hier aus hat man übrigens ebenfalls freie Sicht aufs Wasser.

Gewerkelt wird noch immer am Schiff, denn fertig ist die Arbeit nie. „Die Gäste können sich hier also auch gerne noch selbst einbringen und kreativ werden“, sagt Hack. Über die Höhen und Tiefen, die so eine Schiffsrenovierung mit sich bringt – vor allem, wenn man nicht vom Fach ist und sich alles selbst beibringen muss –, hat Kerstin Hack übrigens auch ein Buch geschrieben. „Leinen los“ heißt es und ist im Sommer erschienen.

Kerstin Hack.
Kerstin Hack.

© Kitty Kleist-Heinrich

Für wen ist das Schiff geeignet? „Für alle, die sich in einer Neuorientierungsphase befinden, eine Krise durchleben oder räumlichen Abstand benötigen“, fasst Hack zusammen. Fünf Coaching-Ausbildungen hat sie absolviert, unter anderem als Trainerin für gewaltfreie Kommunikation. Vor allem mit Menschen, die auf der Suche nach neuen Perspektiven sind, Blockaden und Ängste überwinden wollen, arbeitet Hack gerne. Manche wollen zum Beispiel ihre Angst vor Spinnen oder dem Fahrstuhlfahren loswerden. „Da reicht manchmal auch schon eine Stunde, um etwas zu verändern.“

Für die Coaching-Stunden gibt es feste Preise, für die Übernachtung gilt hingegen: Jeder zahlt das, was er kann, beziehungsweise das, was er auch sonst für eine Übernachtung ausgeben würde. „Von jemandem, der normalerweise in schicken Hotels eincheckt, erwarte ich einen anderen Preis als von jemandem, der in Airbnbs übernachtet.“ Für Berlin-Besucher oder Menschen, die nur eine Übernachtungsmöglichkeit suchen, ist das Schiff nicht gedacht. Die „Anna Grace“ soll ein Ort bleiben, an dem Menschen Orientierung suchen können – und im besten Fall finden.

Antonia Friemelt

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