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Berlin: Christine Kühn (Geb. 1953)

Unentwegt sprach sie ihm zu, vertrieb Ängste, erahnte Wünsche.

Der folgenschwere Tag im März 1995. Sie hatten sich in der Kneipe verabredet. Doch Kalle, ihr Freund, kam nicht. Sie dachte, er arbeite noch an einem Vortrag, er war Doktor der Physik. Als sie spätnachts nach Hause kam, lag er bewegungslos auf dem Bett, ins Leere starrend. Weil er nicht reagierte, rief sie eine Freundin an: „Du, der Kalle ist so merkwürdig!“ Dann rief sie den Rettungsdienst.

Die Sanitäter vermuteten Drogenmissbrauch. Einer beugte sich über ihn und meinte gar: „Exitus!“ Aber Kalle war nicht tot. Er bekam das alles mit. Er hatte Stunden zuvor einen Schlaganfall erlitten, die Folge war ein Locked-In-Syndrom. Seine Gedanken flogen auf wie eh und je, sie waren putzmunter. Doch eine totale körperliche Lähmung nahm ihn gefangen. Kein Laut drang mehr nach draußen, er konnte nicht mal mehr mit den Augenlidern schlagen – bei vollem Bewusstsein und ungetrübten Sinnen.

Kalle, kam auf die Intensivstation, noch wusste niemand, was das alles zu bedeuten hatte, die Ärzte nicht, er nicht, und schon gar nicht sie, Christine. Sie war Künstlerin, Zeichen und Schriftbänder hatten in ihrer Kunst stets eine große Rolle gespielt. Nun lag da jemand vor ihr, der nicht mal mehr den Finger heben konnte, um sich bemerkbar zu machen. Sie brachte eine Uhr und Bilder mit ins Krankenhaus. Die Bilder sollten ihn an zu Hause erinnern, an die gemeinsame Wohnung. Die Uhr daran, welcher Tag und welche Stunde es war. Unentwegt an seiner Seite, tagsüber und nachts, sprach sie ihm zu, vertrieb Ängste, erahnte Wünsche. Nach ein paar Tagen konnte er die Augen wieder bewegen und auf Fragen mit Lidschlägen für Ja und Nein antworten. Auf diese Weise ließen sich auch Worte und ganze Sätze kompilieren, für jeden Buchstaben das Alphabet abfragen.

Ein Erfolg der täglichen Therapien ließ sich von außen kaum wahrnehmen. Aber sein Nervensystem, tief verborgen, regenerierte sich. Nach drei Monaten konnte er die Klingel an seinem Krankenbett betätigen und wieder selbstständig einen Löffel halten. Nach einem halben Jahr setzte er mit Christines Hilfe sogar erste Schritte. Monat für Monat brachte er eine medizinische Lehrmeinung nach der anderen ins Wanken. Nach einem Jahr fing sie endlich die erste klare Silbe von ihm auf. Über unzählige Therapie- und Rehabilitationsmonate hinweg hob er die schwere Taucherglocke der Lähmungen Millimeter für Millimeter an, um von da an mit ihr durchs Leben zu balancieren.

Eine Rückkehr in den Beruf war ihm nicht möglich. Christine hingegen schuf neue grafische Labyrinthe und Bilder aus Textspiralen. In ihren Installationen ließ sie Schriftlinien wie Wasserfälle über Wände, Fenster und Glasdächer öffentlicher Gebäude gleiten. Auch sein alter Computer und Arbeitstisch wurde in eine Installation verwandelt. Tisch, Stuhl und Monitor überzog sie mit Texten aus Huxleys „Brave New Word“. Auf dem Bildschirm flimmerte das Erfahrungsprotokoll seiner Zeit im Locked-In.

Zusammen gründeten sie einen Verein, der sich für die Interessen von LiS-Patienten einsetzte. Als gelte es, das Zenonische Paradoxon vom Wettlauf der Schildkröte mit Achilles in der Praxis zu beweisen, zogen sie nie aus der Schicksalswohnung im vierten Stock aus. Weit über hundert Stufen, Tag für Tag, Jahr für Jahr, er mit artistischen Körperdrehungen, sie im geduldigen Schneckentempo an seiner Seite.

In ihrem häuslichen Atelier herrschte das Chaos – Kartons, Kreidepackungen, Stifte, Bilderrahmen – in ihrem Kopf dagegen große Klarheit. Sie hatte ein Bildergedächtnis, das ans Fotografische grenzte. Sie dozierte vor Kunstinteressierten, traf sich mit Locked-In-Patienten und deren Angehörigen, um Erfahrungen auszutauschen und richtete für ihre Werke eine Internetseite ein.

Als hätte das Schicksal ihr nicht genug aufgebürdet, erkrankte sie an Krebs. Er wurde im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Acht Jahre lang kämpfte sie.

Dass ihre Werke nicht so leicht an die Nachwelt zu übergeben waren, wusste sie. So gründete sie kurz vor ihrem Tod eine Stiftung, in die ihre Arbeiten eingingen. Eine letzte kurze Linie aus Worten, die sie absichtsvoll in den öffentlichen Raum installierte, um den Kreis ihres Lebens zu schließen: „Christine Kühn Stiftung zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit Locked-In-Syndrom“ heißt die Stiftung, in der alle ihre anderen Werke aufgehoben sind. Stephan Reisner

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