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Giftwolken. Wie geht man damit um, wenn Bruder oder Schwester an Chemtrails oder andere absurde Theorien glauben.

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Chemtrails beim Sonntagsbrunch: Wenn Papa Verschwörungstheoretiker ist

Auf bizarre Theorien und rassistische Parolen stößt man teils auch in der eigenen Familie. So diskutiert man ohne Streit – ohne dabei verbissen zu werden.

Es sollte ein gemütlicher Sonntagsbrunch mit der Familie werden. Irgendwann zwischen Frühstücksei und Marmeladenbrot kam das Gespräch auf Politik. Wie jedes Mal nahm die Schwester sich vor, geduldig mit dem Bruder zu sein, reflektiert und sachlich. Doch eh sie sich versah, steckte sie mittendrin in der verfahrenen Diskussion.

Verschwörungstheorien, rassistische Vorurteile, frauenfeindliche Parolen. Man begegnet ihnen nicht nur in öffentlichen Debatten. Manchmal verläuft die Konfliktlinie auch im Privaten, direkt über den Küchentisch. Der Opa rät den Enkeln, ihr Erspartes vor der globalen Finanz-Mafia in Sicherheit zu bringen. Der Sohn hört Musik, in der gegen Ausländer gehetzt wird.

Die Schwester schwärmt von ihrem Kurztrip nach New York und fühlt sich – Stichwort „Flight Shaming“ – zu Unrecht von Klimaaktivisten schikaniert. In der Familie finden die großen Kämpfe im Kleinen statt. Unter erschwerten Bedingungen, denn anders als im normalen Leben kann man seinen Familienmitgliedern selten einfach aus dem Weg gehen.

Eltern geben ihr Wertesystem an Kinder weiter

Dabei sind Familien in der Regel durch ein gemeinsames Wertesystem geprägt. In der Erziehung geben Eltern diese Werte an ihren Nachwuchs weiter. Für kleine Kinder gilt meist: Was Mama und Papa sagen, muss stimmen. Wie kann es dann trotzdem sein, dass der eine oder andere sich regelmäßig fragt: „Wie kann ich nur so anders geraten sein als meine mit mir blutsverwandten Geschwister?“

Volker Tepp vom Coaching-Institut Berlin erklärt diesen Gegensatz mit den unterschiedlichen Erfahrungen, die ein Kind im Laufe des Erwachsenwerdens auch außerhalb des Elternhauses macht. Irgendwann entwickelt jeder seinen eigenen Kopf und widerspricht auch mal. „Eltern können Werte nur anbieten, sie müssen es respektieren, wenn Kinder anderer Meinung sind“, sagt der studierte Diplom-Pädagoge und Erziehungswissenschaftler, der Familien in Erziehungsfragen und Konfliktsituationen berät.

Zu ihm kommen Eltern, deren Kinder mit rechtsradikalen Ansichten liebäugeln oder deren Angehörige sich in ideologische Scheinwelten flüchten. Für Familienkonflikte gilt hier das Gleiche wie in öffentlichen Debatten. Volker Tepp rät allen Hilfesuchenden: sachlich bleiben, zuhören, nachhaken: „Wie kommst du darauf?“ „Was genau meinst du damit?“

Das Gegenüber respektieren und verstehen lernen

Sinnvoll streiten gehe nur, wenn wir versuchen zu verstehen, warum das Gegenüber so denkt. „Das bedeutet nicht, dass ich akzeptiere, was der andere denkt“, sagt Tepp. „Sondern zu respektieren, dass mein Gesprächspartner eine andere Meinung hat.“ Respektieren und Aushalten, das ist schwer, vor allem im familiären Umfeld. Die damit verbundenen Loyalitätskonflikte gehen oft mit emotionalem Stress einher.

Das Gefühl, einen Menschen, den man liebt, im selben Moment abzulehnen, ist enorm belastend. Verbundenheit und Liebe kämpfen mit Unverständnis und Abneigung. In solchen Fällen sei es wichtig, zwischen der Person (Wer ist jemand?) und der Sache (Was denkt und macht jemand?) zu trennen, sagt Tepp.

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Zwei Bereiche, die man einzeln betrachten und bewerten sollte. Das Grundvertrauen zum Menschen an sich, das dürfe niemals angezweifelt werden. Doch was derjenige sagt, das muss ich nicht zwingend befürworten. Also: Mein Bruder bleibt mein Bruder, egal, was er sagt. Seine beispielsweise rechtsradikalen Äußerungen darf ich zurückweisen und ablehnen.

Doch wie in der öffentlichen Debatte machen auch Eltern und Geschwister häufig den gleichen Fehler: Im Wunsch, den Diskussionspartner zu überzeugen, lassen sie sich zum verbissenen Schlagabtausch hinreißen. „Argumente-Pingpong“, nennt das die Journalistin Franzi von Kempis. Sie hat ein Buch darüber geschrieben, wie man mit Radikalen vernünftig streiten kann. Mit Menschen, die gegen Ausländer hetzen, gegen den Bau von Moscheen protestieren oder an die Impf-Mafia glauben. Denn, so von Kempis, die gesellschaftliche Debatte sei meist geprägt von einer kleinen Gruppe, die den großen Rest mit ihren hetzerischen Parolen terrorisiere. Die „laute Minderheit“ gegen die „leise Mehrheit“.

Menschen empfinden alles, was nicht ins Denkraster passt, als Störfaktor

Mit ihrer „Anleitung zum Widerspruch“ will von Kempis die verunsicherte Masse ermutigen, Kontra zu geben. Es ist eine Aufforderung, mitzudiskutieren und mitzustreiten bei Diskussionen auf der Straße, in politischen Debatten oder Internetforen. Oder eben im unausweichlichen Bereich der Familie. Von Kempis hat Hintergrundwissen und Fakten gesammelt, um die „leise Mehrheit“ mit guten Argumenten zu wappnen. Keine Frage: Es ist von Vorteil, sich mit dem Konfliktthema auszukennen.

Doch ganz am Anfang steht auch bei ihr die grundlegende Frage: „Wie kann ich überhaupt mit einer Person diskutieren, die eine andere Meinung vertritt als ich?“

Von Kempis beginnt ihr Buch daher mit einem Leitfaden, in dem sie sechs Aspekte einer gelungenen Kommunikation zusammenfasst. Vorab empfiehlt sie: Gesprächsziele und Grenzen zu definieren sowie eine konstruktive Haltung einzunehmen. Zudem helfe es, psychologische Effekte zu bedenken: Menschen empfinden alles, was nicht ins Denkraster passt, als Störfaktor. Es ist der Versuch, kognitive Dissonanz, so der Fachausdruck, zu vermeiden. Unschöne Wahrheiten werden ausgeblendet, denn es macht Angst, wenn das Weltbild ins Wanken gerät.

Verschwörer reagieren häufig mit Ausweichmanövern

Wer seit Jahren überzeugt ist, dass er von Chemtrails verseucht wird, will nicht hören, was für ein haltloser Schwachsinn das sei. Wer nur stur versucht, den anderen zu überzeugen, bewirkt meist das komplette Gegenteil.

Statt über Positionen zu streiten, sollten Angehörige lieber erörtern, wie beispielsweise das Kind, die Schwester oder der Großvater dahin gekommen sind, sagt auch Konfliktberater Tepp.

Das heißt, sie sollten versuchen herauszufinden, welche Erfahrungen und Emotionen zu einer verfestigten Haltung geführt haben. Ein Kind, das mehrmals von Kindern mit einem bestimmten Migrationshintergrund angegriffen wurde, entwickelt in der Folge vielleicht einen generellen Hass auf Ausländer. Das erfährt man allerdings nur dann, wenn man sich Zeit für Gespräche nimmt.

"Whataboutism" ist der Versuch alles zu relativieren

In von Kempis’ Leitfaden heißt es daher auch: zuhören und offene Fragen stellen. Kritik ist in Ordnung, sollte aber sachlich vorgebracht werden. Um nicht auf rhetorische Ausweichmanöver hereinzufallen, rät die Autorin, sich schon vorher auf solche einzustellen. Bei einer Diskussion, bei der es um die Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt geht, wird das Gegenüber sicherlich einwenden, dass auch Männer es im Leben schwer haben.

Diesen Aspekt könnte der Diskussionsteilnehmer also gleich vorwegnehmen. Der Versuch, eine Aussage durch ein anderes Konfliktfeld zu relativieren, nennt sich „Whataboutism“. Heimtückisch ist auch das tatsachenverdrehende „Strohmann-Argument“: Aus „Vielleicht würde es helfen, nicht jeden Tag Fleisch zu essen“ wird kurzerhand „Du willst, dass Fleisch verboten wird“.

Jeder ist geprägt durch die Zeit, in der er aufgewachsen ist

Egal, wie radikal die Positionen, die Grundprinzipien der Kommunikation bleiben dieselben. Man muss gar nicht so weit in die Öffentlichkeit gehen wie von Kempis in ihrem Buch. Familien treten in der Gesellschaft als Einheiten auf, doch sie sind keineswegs so homogen, wie es der Begriff suggeriert. Es sind Menschen mit individuellen Charakteren, Erfahrungen und Ansichten. Und jeder ist geprägt durch die Zeit, in der er aufgewachsen ist: Großeltern, die Krieg und Flucht erlebt haben; Eltern, die mit konservativen Rollenbildern aufgewachsen sind; Kinder, die mit sozialen Medien groß werden. Reflektieren und einordnen, den Einfluss der Generation bedenken – das helfe dabei, Konflikte zu entschärfen.

In der Theorie klingt das plausibel, in der Praxis läuft es meist nicht so rund. Dabei muss auch immer bedacht werden: Weniger als etwa zehn Prozent der Kommunikation, sagen Experten, mache der Inhalt aus. Viel wichtiger als das, was gesagt wird, ist manchmal, wie etwas kommuniziert wird. Von der vernünftigen Diskussion zum emotionalen Streit ist es daher oft nur ein kleiner Schritt.

In solchen Fällen empfiehlt Erziehungsexperte Tepp einen radikalen Cut. Stop. Themenwechsel. Rückzug. „Mehr vom Gleichen bringt in Konfliktsituationen keine Lösung“, sagt er. Es sei sinnvoller, das Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt noch mal aufzugreifen. Also: Die Politik ruhen lassen und den Sonntagsbrunch genießen. Nicht jeder Konflikt endet in Einigkeit und Harmonie. Bruder und Schwester müssen respektieren, dass sie anderer Meinung sind. Die Uneinigkeit akzeptieren. Das ist nicht einfach, aber alternativlos.

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