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Aus Angst vor einer Corona-Infektion warte manche Menschen mit psychischen Krankheiten derzeit länger, bevor sie sich Hilfe suchen.

© Shutterstock / iphotosmile

Charité-Psychiaterin über Folgen der Coronakrise: „Wir haben nicht den Eindruck, dass es eine Häufung von Suiziden gibt“

Die Direktorin der Psychiatrie-Klinik der Charité spricht im Interview über Suizide in Krisenzeiten und die mangelnde Versorgung von psychisch Kranken.

Von Sandra Dassler

Frau Heuser-Collier, Sie leiten die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Benjamin Franklin der Charité – stellen Sie eine Häufung von Suiziden beziehungsweise Suizid-Versuchen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie fest?
Nein, bislang haben wir nicht den Eindruck, dass es eine solche Häufung gibt. Allerdings stellen wir fest, dass manche Menschen, die psychisch erkrankt sind, aus Angst, sich mit dem Corona-Virus anzustecken, erst sehr spät zu uns kommen.

Ihr Charité-Kollege Michael Tsokos von der Rechtsmedizin hat gerade acht Menschen obduziert, die sich seinen Erkenntnissen zufolge seit Mitte März aus Angst vor einer Erkrankung mit Covid-19 das Leben genommen haben...
Diese Aussage und vor allem die Begründung halte ich für ganz, ganz schwierig – auch wenn es richtig sein mag, dass Professor Tsokos seinen Eindruck schildert. Es ist aber eben nicht mehr als ein gefühlter Eindruck, denn eine statistische Erhebung dazu kann es ja noch nicht geben.

Gehen beängstigende oder unsichere Zeiten nicht immer mit einer höheren Zahl an Suiziden einher?
Wir wissen, dass dies sowohl bei der Großen Depression im Jahr 1929 als auch bei der Finanzkrise 2008 mit einer gewissen Verzögerung vor allem bei Menschen der Fall war, die in Existenznöte gerieten. Und wir wissen, dass gerade psychisch kranke Menschen derzeit oft nicht ausreichend versorgt sind.

Warum?
Weil niedergelassene psychologische und ärztliche Psychotherapeuten derzeit noch nicht im normalen Umfang praktizieren und man sich aus Angst vor einer Ansteckung zu spät beim Facharzt oder in einer Ambulanz meldet. Das beobachten wir ja auch bei Patienten mit Herzinfarkt- oder Schlaganfall-Symptomen.

Was kann man gegen die oft nicht ausreichende Versorgung von psychisch kranken Menschen tun?
Wir bieten zum Beispiel eine große Anzahl von Videokonsultationen und eine sogenannte Video-Ambulanz mit Online-Sprechstunden an, die auch gut genutzt werden.

Einige kritisieren, dass Politiker und Medien Ängste schüren oder verstärken. Sehen Sie das auch so?
Ganz und gar nicht. Im Gegenteil - ich finde, dass die meisten Politiker im Großen und Ganzen rational und wenig alarmistisch oder beschönigend argumentieren. Vielleicht eher zu wenig deutlich sagen, dass die kommende Zeit nicht leicht werden wird.

Für Professor Tsokos ist eine Ursache der von ihm so genannten „Corona-Suizide“ die „apokalyptische Überzeichnung einiger Virologen und Gesundheitsexperten, die dann aus dem Zusammenhang gerissen von den Medien kolportiert“ werden.
Diese Meinung kann ich nicht teilen. Die Virologen halten sich doch mehr als andere an Fakten und Zahlen. Sie sagen aber auch, dass sie vieles noch nicht wissen und deshalb auch wenig sicher darüber sagen können.

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Das ist ehrlich. Es ist intelligent. Aber es schafft auch eine gewisse Unsicherheit, mit der wir aber – fürchte ich – noch eine ganze Weile leben müssen. Wohl wissend, dass der Wunsch nach festen Wahrheiten ein Grundbedürfnis des Menschen ist.

Haben es auch deshalb Verschwörungstheoretiker in dieser Zeit so leicht?
Ja, denn sie verkünden ja scheinbar klare und eindeutige Wahrheiten. Verantwortungsbewusste Wissenschaftler hingegen müssen auch mal zugeben, dass mit dem jetzigen Wissensstand keine sicheren Prognosen möglich sind.

Kann es aber nicht auch sein, dass die Bilder von hoffnungslos überfüllten Intensivstationen in Italien und die immer wieder gezeigten Leichenwagen die Angst vergrößerten? Und zwar nicht die Angst vor dem Tod, sondern vor einem solchen unwürdigen und einsamen Sterben?
Vielleicht. Aber es wurde ja auf der anderen Seite durch die seriösen Medien auch berichtet, dass in Deutschland keine italienischen oder englischen Verhältnisse drohten. Auch nicht die völlige Erschöpfung der Ärzte oder des Pflegepersonals. Und wenn jemand stirbt, wird er nicht alleine gelassen. Dafür ist gesorgt.

Isabella Heuser-Collier ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité.
Isabella Heuser-Collier ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité.

© promo

Wie finden Sie die derzeitigen Lockerungen?
Schwierig. Ich verstehe die Sorgen um die Wirtschaft, die vielen kleinen Händler und Künstler oder den Tourismus in Berlin. Aber ich vermisse eine gesamtgesellschaftliche Diskussion, die über Wolfgang Schäuble und Boris Palmer hinausgeht, und sich damit beschäftigt, wie wir vulnerable, also besonders anfällige Gruppen unter diesen Bedingungen schützen. Und zwar ohne sie in die Depression zu treiben, weil sie vereinsamen.
Da geht es um Nutzung moderner Medien, um Kommunikation, um phantasievolle Lösungen. Denn wie ich am vergangenen Sonnabend beobachtet habe, macht sich doch eine gewisse Sorglosigkeit breit. Die wenigsten haben Abstand gehalten.

Wie kann man in diesen Zeiten psychisch gesund bleiben?
Von den üblichen Dingen wie Bewegung, Entspannung, Konzentration auf schöne Dinge abgesehen, ist es sehr wichtig, die Kontrolle zu behalten. Und nicht nur sich selbst, sondern auch ängstlichen älteren Menschen oder Kindern immer wieder zu sagen: „Du kannst selbst etwas tun, wenn Du Dir öfter die Hände wäscht, Abstand hältst, eine Maske trägst.“

Haben Sie dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können.
Der Berliner Krisendienst ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern variieren nach Bezirk, die richtige Durchwahl für Ihren Bezirk finden Sie hier.
Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: www.telefonseelsorge.de

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