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Vier der sechs App-Entwickler: Ghaith Zamrik (19), Omar Alshafai (30), Ahmad Alarashi (30) und Yazan Salmo (20) (von links nach rechts).

© David Zajonz

Bureaucrazy in Berlin: Flüchtlinge entwickeln App gegen analoge Ämter

Unklare Zuständigkeiten, Formulare und Beamtendeutsch machen besonders Flüchtlingen zu schaffen. In Berlin entwickeln Syrer jetzt eine App im Kampf gegen die Bürokratie.

Wenn jemandem, der erst seit einigen Monaten in Deutschland lebt, Worte wie Mietschuldenfreiheitsbescheinigung problemlos über die Lippen gehen, dann läuft etwas schief. Flüchtlinge wie Ghaith erfahren nach ihrer Ankunft schnell, wie umständlich die deutsche Bürokratie sein kann. Der 19 Jahre alte Syrer wohnte erst in einer Turnhalle, fand dann einen Vermieter, der ihn bei sich aufnehmen wollte. Einziehen konnte Ghaith aber nicht. Ihm fehlten Formulare, Bewilligungen und Einverständniserklärungen. Zwei Monate später, nach vielen Anträgen und Behördenbesuchen, konnte er einziehen.

Auch seine syrischen Freunde Ahmad, Yazan, Munzer und Muhammad haben mehr Erfahrung mit der deutschen Bürokratie als viele Deutsche in ihrem Alter. Sie berichten von großen Ordnern, in denen sie ihre zahlreichen Behördendokumente aufbewahren. "Es ist wie Pokémon sammeln", sagt Ghaith. Lageso, Bürgeramt, Ausländerbehörde, Bamf, Jobcenter und Rentenversicherung. Was für die meisten Deutschen umständlich ist, kann für Flüchtlinge zum echten Problem werden. Vielen Behörden fehlen Übersetzer für Arabisch, Farsi oder Paschtu. Oft sprechen die Mitarbeiter auch kein Englisch. So unterschreiben Flüchtlinge häufig Dokumente, deren Inhalt sie überhaupt nicht verstehen.

App als Ausweg

Digitalisierung könnte hier helfen. "Die deutsche Bürokratie basiert auf gedrucktem Papier," beschwert sich Yazan. Deshalb entwickeln die jungen Männer jetzt Bureaucrazy – eine App, die Flüchtlingen und anderen Neuankömmlingen in Deutschland im Umgang mit der Bürokratie helfen soll. 

Keiner aus der Gruppe hatte eine IT-Ausbildung oder Programmierkenntnisse, bevor er nach Deutschland kam. Ihre Fähigkeiten haben sie in den letzten Monaten an der ReDi-School erworben, einem Berliner Start-up, das Flüchtlingen Programmieren beibringt. Am ersten Tag in der ReDi-School sollten die Kursteilnehmer überlegen, bei welchen Problemen, die Flüchtlinge in Deutschland im Alltag haben, digitale Innovation helfen könnte. Sofort war den jungen Syrern klar, dass Bürokratie ihr Thema wird.

Als Website und als App soll Bureaucrazy Übersetzungen, Erklärungen und Stadtpläne mit den Standorten der wichtigsten Behörden bieten. Daten, die einmal eingetippt wurden, sollen gespeichert bleiben und automatisch in andere Formulare übertragen werden, damit dieselben Angaben nicht immer und immer wieder eingetragen werden müssen. Den Prototyp für die Website haben die jungen Männer bereits gebaut, die App-Version muss noch programmiert werden.

Einen Nerv getroffen

Die Macher von Bureaucrazy wollen sich zunächst den Einrichtungen widmen, mit denen Flüchtlinge am meisten zu tun haben: die Bürgerämter und die Jobcenter – das "Herz der deutschen Bürokratie", wie Munzer sie nennt. Hier beantragen Flüchtlinge unter anderem ihre Sozialleistungen, die Finanzierung ihrer Wohnungen und Hilfe für die Suche nach Jobs und Ausbildungsplätzen.

Mit ihrer Idee haben sie offenbar einen Nerv getroffen. Ständig klingeln bei den jungen App-Entwicklern inzwischen die Handys. Menschen, die sie noch nie getroffen haben, beglückwünschen sie auf Facebook. Im BBC-Radio und dem Guardian durften sie ihre Geschichte schon erzählen. "Jedes Like für unsere Facebook-Seite ist ein Ausdruck des Hasses auf die Bürokratie. Jeder auf der Welt leidet darunter", sagt der 23-jährige Munzer.

Anfang kommenden Jahres soll die App an den Start gehen, es könnte auch früher klappen. Denn seit es die ersten Medienberichte über sie gibt, haben die jungen Männer Dutzende Hilfsangebote bekommen. Flüchtlinge, Deutsche und Menschen aus der ganzen Welt bieten kostenlos ihre Unterstützung beim Programmieren und Entwickeln an. Auf diese Hilfe werden die Syrer angewiesen sein, denn für komplexe Programmiertätigkeiten fehlen ihnen noch die Kenntnisse.

Wird die deutsche Bürokratie mithelfen?

Wenn sie fertig ist, soll die App nicht nur in Berlin anwendbar sein. Ob in Köln oder Rom, im Prinzip muss die App nur mit Daten und Formularen aus weiteren Städten gefüttert werden. Die große Frage ist aber: Wird die deutsche Bürokratie mithelfen? Für ihr Projekt müssen die App-Entwickler die Behörden nach den vielen Formularen fragen, die in die App einfließen sollen. Im Optimalfall würden die Behörden ihnen irgendwann Aktualisierungen schicken, wenn sich einzelne Dokumente ändern. So wäre Bureaucrazy immer auf dem neusten Stand. 

Ein Argument für die Zusammenarbeit mit den Behörden könnte sein, dass die App auch für Deutsche hilfreich wäre. Man könne als zusätzliche Sprachoption Behördendeutsch hinzufügen, sagt Ghaith halb im Spaß.

Zuerst wollen die Syrer nun per Crowdfunding Geld für ihr Projekt sammeln. Bevor es soweit ist, müssen viele steuerrechtliche Fragen geklärt werden und ein gemeinsames Bankkonto muss her. Ob das rechtlich geht, und was das für die Zahlungen vom Jobcenter bedeutet, wissen die jungen Syrer noch nicht. Die nächsten bürokratischen Herausforderungen stehen bevor.

Update: Inzwischen ist die Crowdfunding-Kampagne zum Projekt gestartet. Das Bankkonto dafür stellt die Leiterin der ReDI School of Digital Integration gGmbH, Anne Kjaer Riechert, zur Verfügung.

Der Text erschien zuerst auf Zeit Online, hier finden Sie ihn.

David Zajonz

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