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Geliebter Ehrenbürger. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender geben sich im Roten Rathaus einen Kuss. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (r) verlieh Steinmeier die Ehrenbürgerwürde.

© dpa

Frank-Walter Steinmeier ist jetzt Ehrenbürger von Berlin: „Ich wünsche dieser Stadt, der Ort von Träumen und Träumereien zu bleiben“

Der Regierende Bürgermeister Michael Müller verlieh Frank-Walter Steinmeier die Ehrenbürgerwürde der Stadt. Mit dieser Rede bedankte sich der Bundespräsident.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist neuer Ehrenbürger Berlins. Steinmeier bekam die Ehrenbürgerurkunde am Montag im Roten Rathaus vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller und dem Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses, Ralf Wieland (beide SPD) übergeben. Das Land würdigt damit Steinmeiers Einsatz für die Demokratie und für sein Bestreben, Menschen für die Kultur des demokratischen Streits zu begeistern.

Mit diesen Worten bedankte er sich dafür. Die gesamte Rede zum Nachlesen:

"Vielen Dank, Herr Regierender Bürgermeister, lieber Michael Müller, für die freundlichen Worte, und meinen ganz herzlichen Dank dem Senat von Berlin und den Damen und Herren Mitgliedern des Abgeordnetenhauses für diese besondere Ehre.

Die Reihe der Berliner Ehrenbürger ist lang, und sehr viele Namen auf dieser Liste kennt man auch weit jenseits von Wannsee und Ahrensfelde, von Frohnau und Schmöckwitz.

Es sind Namen wie Alexander von Humboldt und Heinrich Schliemann, Robert Koch und Rudolf Virchow, Marie Elisabeth Lüders und Max Liebermann, Willy Brandt und Anna Seghers, Michail Gorbatschow und Margot Friedländer, um nur wenige zu nennen, und viele meiner Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten.

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In eine solchen Reihe gestellt zu werden, in einem Atemzug mit so manchen meiner größten Vorbilder, das lässt mich heute dankbar und vor allem demütig vor Sie treten. Demütig nicht zuletzt, lieber Michael Müller, weil ich ja gar kein waschechter Berliner bin!

Ob waschecht oder eingebürgert: Jeder hat so seine Geschichte mit Berlin. Meine beginnt in den 1970er Jahren, ich war damals Student in der hessischen Provinz. Von dort aus gesehen lag Berlin am Rande des bekannten Universums und war doch das Zentrum der Welt, der Ort vieler Träume – oder eher Träumereien.

Schweißperlen an der Grenze

„Herr Lehmann“ war noch lange nicht geschrieben, Sven Regener noch nicht mal in Berlin, aber es gab sie haufenweise, die Geschichten über das legendäre Berlin, über Kneipen, Hinterhoftheater und Happenings. Da musste man hin, jeder kannte einen in Berlin, am besten eine WG. Und natürlich sind wir dann auch hin, immer wieder – obwohl es doch eigentlich so beschwerlich war: Über Herleshausen oder Helmstedt – und jedes Mal war einer im Auto dabei, der seinen Pass vergessen hatte oder so tief im Rucksack vergraben hatte, dass beim Suchen die Schweißperlen wuchsen, je näher wir der Grenze kamen.

WG am Mariannenplatz

Auch die, die an Papiere gedacht hatten, waren nicht frei von dieser seltsamen Beklommenheit, wenn man an der Grenze stand und lange keiner kam – oder aber: die unbarmherzige Kontrolle gar kein Ende nehmen wollte.

Aber dann: endlich auf der Transitstrecke! Drewitz ab, vorbei am Imbiss Nikolassee, den es heute noch gibt, quer durch die Stadt, Unter den Eichen, Rheinstraße, Hauptstraße, Goebenstraße, Yorckstraße – nach Kreuzberg. Zwischen 61 und 36, das Land unserer blühenden Fantasien, untergekommen in einer WG am Mariannenplatz und abgetaucht in den Cafés und Kneipen rundherum – alles chaotisch und faszinierend zugleich.

Kein Weg zurück

Jahre später lief im „Slumberland“ von den „Fehlfarben“: „[…] Geschichte wird gemacht […]“ – und was für eine wurde das! Eine Geschichte, die Anfang der 1980er kaum jemand für möglich gehalten hätte: die Geschichte von Mauerfall und Friedlicher Revolution – während ich an den letzten Seiten meiner Doktorarbeit schrieb.

Im Januar 1990 – es war bitterkalt – rief Wolfgang Ullmann in Potsdam und Berlin junge Wissenschaftler zusammen, um über die Zukunft im vereinten Deutschland zu diskutieren. 1989/90, ein Jahr, das mein Leben verändert und mich im Ergebnis nach Berlin gebracht hat.

Karriere vor mongolischer Ziegenledertapete

Meine Zukunft in der Wissenschaft, die ich mir erträumt hatte, habe ich in diesem geschichtlichen Moment suspendiert und mich für die Politik entschieden – vorläufig und vorübergehend, wie ich dachte. Aber es gab natürlich keinen Weg zurück. Und dass Hannover und die dortige Staatskanzlei am Ende eine Zwischenstation auf dem Weg in die Hauptstadt sein würden, das habe ich ebenso wenig geahnt.

Erst 1999 bin ich dann endgültig hier angekommen, mit den vielen Umzugswagen der Bundesregierung – und ein Jahr später mit einem einzelnen für meine Familie. Ironischerweise begannen meine Berliner Jahre ausgerechnet am ehemaligen Sitz des Staatsrats der DDR in den Räumlichkeiten des Staatsratsvorsitzenden Honecker – mit Blick auf den Palast der Republik und mongolischer Ziegenledertapete im dunklen Flur.

Polnische Schweißer am Hauptbahnhof

Anderthalb Jahre später ging es dann ins neue Kanzleramt am Spreebogen, mit Blick über den Tiergarten, das Brandenburger Tor, ganz ohne Mauer und Stacheldraht, aufs neu gestaltete Reichstagsgebäude – und jahrelang auf eine Riesenbaustelle, wo jetzt der Berliner Hauptbahnhof steht. Das faszinierende nächtliche Schauspiel, aufgeführt von Dutzenden polnischen Schweißern beim Aufbau der Stahlträger, hat sich mir fest eingeprägt.

2005 war ich zurück am Werderschen Markt und zurück in Räumlichkeiten alter SED-Herrlichkeiten, diesmal am ehemaligen Sitz des Zentralkomitees, auf dem Flur, wo einst Honecker, Erich Mielke, Harry Tisch ihr zynisches Geschäft betrieben und heute das Auswärtige Amt seinen Sitz hat. Das Verschwinden des Palasts der Republik, den Wiederaufbau des Stadtschlosses, habe ich in den acht Jahren, die ich Deutschland in der Welt vertreten durfte, von dort aus beobachtet.

Lauter zugereiste Ehrenbürger

Für meine Familie und mich ist Berlin längst unser Zuhause. Meine Tochter ist hier zur Kita gegangen und großgeworden. Eingeschult wurde sie dann in Zehlendorf, in der Dorfkirche – und in der Kirchstraße – allerdings in Moabit – wacht meine Frau mit ihren Kolleginnen und Kollegen über die Rechtmäßigkeit Berliner Verwaltungsentscheidungen.

Einundzwanzig Jahre sind wir schon in Berlin – Berlin ist uns längst zur Heimat geworden. Das war nicht schwer. Berlin ist bekanntermaßen tolerant gegenüber Neuankömmlingen. Ein einziger Blick in die lange Liste der Ehrenbürger bestätigt das: sehr viele Zugereiste! Neulinge mag das vielleicht verblüffen, wenn sie zum ersten Mal der ausgesuchten Herzlichkeit der Berliner Schnauze begegnen.

Keene Schrippen am Sonntag

Ich erinnere mich an meinen ersten Sonntag in Berlin und den ersten Besuch beim Bäcker in der Nachbarschaft, wo ich ganz arglos zwei Brötchen bestellte. Das Gesicht der Verkäuferin verdüsterte sich. Mit offen zutage getragener Empörung antwortete sie: „Sonntags ham wa keene Schrippen, da ham wa nur Bagetten!“ Wer wollte da noch ausgefallene Wünsche haben?

Will sagen: Neuankömmlinge fühlen sich also schnell pudelwohl in Berlin, und das nicht erst seit den coolen 1990er Jahren oder den 2000ern, als die Schwaben, Hanseaten und all die anderen Stämme der deutschen Lande in einer Art postmodernen Völkerwanderung den halben Berliner Altbaubestand in Beschlag genommen haben.

Tiefer nachdenken, anders leben

Nein, Berlin ist schon etwas länger ein Sehnsuchtsort für die, denen es anderswo zu eng geworden ist, die tiefer nachdenken, weiter forschen, höher greifen, die etwas bewegen oder anders leben wollen.

Denken wir an den Prenzlauer Berg in Ostberlin, dieses wichtige Zentrum der Regimekritikerinnen und Bürgerrechtler, Künstlerinnen und Kirchenleute in der damaligen DDR, deren Widerstand die Mauer ins Wanken brachte und die Teilung der Stadt und des Landes überwinden half.

Denken wir an das Kreuzberg, das Schöneberg, das Charlottenburg der 1960er, 1970er und 1980er Jahre, an Wehrdienstverweigerer aus Westdeutschland und Friedensaktivistinnen aus Amerika und David Bowie aus dem Himmel der Musik.

Kulturelles Feuerwerk

Denken wir an die wilden 1920er, die in Berlin ein ganz besonderes kulturelles Feuerwerk entfacht haben, mit dem Sound von Friedrich Holländer – geboren in London – und von Kurt Weil – geboren in Dessau.

Denken wir an die preußische Hauptstadtzeit, als der andere Humboldt, Wilhelm, die Berliner Universität gegründet hat, die heute nach dem berühmten Bruderpaar benannt ist und die Berlin zum Zentrum von Geist und Wissenschaft gemacht hat.

Denken wir an 1848, als die Berliner für Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit auf die Barrikaden gingen, die Arbeiter, Handwerksgesellen und Studenten aus vielen Teilen Deutschlands, denken wir an den Thüringer Tierarzt Friedrich Ludwig Urban, der damals die wichtige Barrikade zwischen Schloss und Alexanderplatz verteidigte und vielen Aufständischen das Leben rettete.

Das Neue nicht abstoßen

Und denken wir an die 60 Jahre seit dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, an die sogenannten Gastarbeiter, an die Studierenden, die Kreativen, denken wir an die Tausenden Menschen und Familien aus aller Herren Länder, für die Berlin heute Heimat ist, deren Kinder auf Berliner Schulen gehen, auf Berliner Spielplätzen spielen und bei einem der vielen Berliner Fußballclubs kicken gehen.

Ja: Das Fremde, das Andere, das Neue nicht abzustoßen und auszuschließen, sondern es hungrig aufzunehmen und neugierig einzusaugen, diesen Sauerstoff, den jede Millionenstadt braucht, um echte Metropole zu sein – diese Offenheit zeichnet Berlin aus wie kaum eine andere Stadt, die ich kenne.

Gelassenheit, die Freiheit zulässt

Also, wenn ich Kazim Akbogas berühmten Songtext für die ebenso berühmte BVG zitieren darf: „Is‘ mir egal“ – das ist keine Absage an die Mitmenschlichkeit. Ganz im Gegenteil: Es ist die selbstbewusste Gelassenheit der Berliner gegenüber dem Anderen, dem Neuen, dem Fremden. Eine Gelassenheit, die Freiheit zulässt.

Und vergessen wir nie: Diese Freiheit, die ist wahrlich nicht vom „Himmel über Berlin“ gefallen, sondern sie wurde hart erkämpft.

Verneigung vor dem freien und vereinten Berlin

Von alliierten Soldaten, Straße für Straße, in einer Stadt, die bis Mai 1945 in weiten Teilen zerstört worden war im hier erdachten und entfesselten Zweiten Weltkrieg.

Von den Piloten der unzähligen Rosinenbomber, die während der Blockade von 1948 den Westen der Stadt mit dem Nötigsten versorgten.

Und von mutigen Berlinerinnen und Berliner selbst, immer wieder im Lauf der Geschichte und zuletzt im Jahr 1989, als die Berliner Mauer endlich zum Einsturz gebracht wurde.

Gerade mal seit dreißig Jahren – im Grunde ein Wimpernschlag – ist die jahrhundertealte Berliner Geschichte die Geschichte eines freien, wiedervereinten, demokratischen Berlins. Und ich verneige mich, als neuster Ehrenbürger dieser Stadt, vor allen, die vor mir kamen, und die dieses freie und vereinte Berlin errungen haben.

Magnetische Wirkung auf Menschen

Mit dem Humboldt-Forum, gleich hier um die Ecke, haben wir vor wenigen Tagen einen Ort eröffnet, der – hinter seinen monumentalen barocken Fassaden – wie kein zweiter für diese Offenheit stehen könnte: für Debatte, für kritisches und selbstkritisches Denken und für die Auseinandersetzung mit der Welt. Ein hoher Anspruch. Für Berlin und für unser Land hoffe ich sehr, dass er eingelöst wird.

Ihnen, meine Damen und Herren, brauche ich gar nicht erst zu erklären, wie viele Herausforderungen ins Haus stehen, wenn eine Stadt so magnetisch auf die Menschen wirkt: vom Wohnungsbau über die Schulpolitik und die Bürgerservices bis zur öffentlichen Ordnung. Deshalb hat es niemanden überrascht, dass diese Themen im jüngsten Landeswahlkampf eine große Rolle gespielt haben. Und jetzt, nach der Wahl, ist es Aufgabe der Politik und derjenigen, die Verantwortung übernehmen wollen, für einen Ausgleich der vielen verschiedenen Interessen zu sorgen.

Diskussionsfreudige Stadtgesellschaft

Als Bundespräsident bin ich vor allem anderen froh und dankbar, wie lebendig und vielfältig und zupackend die Demokratie in dieser Stadt ist – das haben diese Wochen und Monate auf jeden Fall bewiesen!

Ja, werden Sie sagen, aber in Berlin klappt doch nicht immer alles! Stimmt. Eins stimmt aber auch: Wenn’s nicht klappt, dann kriegt es in dieser Stadt wirklich jeder mit, der nicht aktiv weghört – und ganz Berlin diskutiert darüber. Für eine lebendige Demokratie, lieber Michael Müller, liebe Mitglieder des Abgeordnetenhauses, kann man sich eigentlich keine aufgewecktere und kritischere Stadtgesellschaft wünschen, als wir hier in Berlin haben.

Aber mindestens ebenso wichtig für die Demokratie wie eine diskussionsfreudige Stadtgesellschaft ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihren Staat, sind starke Institutionen und verlässliche demokratische Prozesse. Und das darf uns allen nicht egal sein.

Die Nachbarn im Hansaviertel

Wie aufgeweckt, wie offen, wie lebendig diese Stadt ist, das merke ich bei allen meinen Terminen in der Stadt, ob in den Kiezschulen oder in den Opernhäusern, ob in den alten Genossenschaftssiedlungen der 1920er Jahre oder in meiner Nachbarschaft, der Nachbarschaft von Bellevue, in Moabit. Dort, im Hansaviertel, steht auch das Grips-Theater, wo seit 1986 die „Linie 1“ aufgeführt wird, diese einmalige Berlin-Revue über eine junge Frau, die zum ersten Mal in Berlin ankommt.

Im ersten Song heißt es: „Sechs Uhr fünfzehn, Bahnhof Zoo / Ich steh und atme, ganz tief ein / Es riecht nach Großstadt, nach Ruß und Abenteuer / Nach Kino, Weltkrieg und Benzin / Schicksal und“ …naja… „Wahnsinn: das isse / Die Luft von Berlin.“

Große Bühne und Hinterhof

Berlin, das ist Leben im Kiez und Leben mit der Welt. Das ist große Bühne und Hinterhof. Das ist Kultur und Kreativität. Das ist Kebab und Currywurst. Ich mag Berlin – mit allen seinen Ecken und Kanten, mit seinen Menschen, die das Herz auf der Zunge tragen.

Ich wünsche dieser Stadt, meinem Berlin, der Ort von Träumen und Träumereien zu bleiben. Ich wünsche mir, dass die geballte Kraft dieser Stadt weiterhin Start-ups und große Unternehmen anzieht – und dass alle Berlinerinnen und Berliner ihren Anteil an Kultur und Bildung haben können, dass Berlin Platz bietet für Menschen aus allen Schichten und Perspektiven für die ganz Jungen, die ihr Leben noch vor sich haben.

Und ich wünsche mir, dass Berlin weiter viele wunderbare Menschen anzieht, aus allen Teilen des Landes und der Welt, und dass der eine oder die andere darunter dann eines Tages genauso stolz wie ich heute hier stehen darf – als neue Berliner Ehrenbürger.

Vielen Dank für diese sehr besondere Auszeichnung!"

Frank-Walter Steinmeier

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