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Berlin: Bruno Brunner (Geb. 1963)

Spänchen der Republik, unterscheidet euch!

Über welchen Bruno reden? Über ihn, so wie die Welt ihn sah, von außen, oder über den anderen, den wirklichen Bruno? Über den Versager oder über das Beinahe-Genie?

Den Überwachungsaugen der Welt, denen der Ämter und der Statistik also, zeigte sich folgendes Bild: Ronald Brunner, gelernter Zerspanungsfacharbeiter „mit DDR-Hintergrund“. Seit der Wende arbeitslos, stark übergewichtig. Stirbt, noch keine 50 Jahre alt, an einer Verengung der Herzkranzgefäße allein in seiner kleinen Friedrichshainer Hinterhofwohnung.

Unser neuer Bundespräsident unter Zukunftsvorbehalt, Virtuose der abstrakten Welterklärung, könnte am Lebenslauf Bruno Brunners seine Lieblingstheorie über eine gewisse ostdeutsche Minderbegabung zur Freiheit illustrieren. Aber was, wenn kaum einer so ernst gemacht hätte mit ihr wie gerade Bruno Brunner? Ronald nannten ihn nur seine Mutter, die Lehrer und schließlich das Arbeitsamt.

Schade, dass sie sich nicht mehr begegnen können, Gauck und Brunner, vielleicht auf einem Empfang des Bundespräsidenten. Bruno Brunner ging gern zu Empfängen, oft mehrmals in der Woche. Es konnten diplomatische Empfänge sein, er begnügte sich aber auch mit solchen von Landesvertretungen oder Stiftungen. Denn es gehört zur Freiheit, Veranstaltungen zu besuchen, auf denen man nicht erwartet wird. Auch widerlegt es das Vorurteil, dass Hartz-IV-Empfänger nur zu Hause oder in der Kneipe sitzen. Auf die Gästeliste setzte sich Bruno, auch „Bruno, der Hacker“ genannt, notfalls selbst. Er erschien meist in T-Shirts, über seinem mächtigen Bauch waren die verblassten Umrisse von Figuren zu erkennen, die vielleicht mal Mickey Mouse oder Donald Duck waren. Freiheit ist immer auch die Freiheit von Kleiderordnungen.

Viele glauben, dass Freiheit ein anderes Wort ist für die Möglichkeit und die Fähigkeit, viel Geld zu verdienen. Er dagegen kultivierte die Freiheit, ganz oder fast kostenlos für andere zu arbeiten. Vorausgesetzt, er hielt das, was sie taten, für sinnvoll. Egal ob es die Pankower Mitarbeiterin eines Frauenvereins, ein Londoner Professor, ein Journalist oder Regisseur war – immer traf er auf fassungslose Menschen in Grenzsituationen. Die exemplarische Grenzsituation der modernen Existenz ist der Computerkollaps. Den Fehler, den er nicht fand, gab es nicht.

Wahrscheinlich hat Brunos Intelligenz schon seine Lehrer verängstigt. Sicher ist sicher, dachte die DDR und ließ ihn kein Abitur machen. Zerspanungsfacharbeiter also, Handlanger der Zerteilung. Aber seine Leidenschaft war das Gegenteil. Wie die Weltspäne zusammensetzen, dass ein richtiges Ganzes entsteht, angefangen mit der DDR?

Dass es sich beim Theater um einen Versuchsraum der Geschichte handeln muss, war dem Mitglied des Theaterjugendklubs der Volksbühne schnell klar. Er konnte nächtelang diskutieren, etwa über Millers „Tod eines Handlungsreisenden“. Da ist einer nur gesellschaftlicher Zerspanungsabfall und hält sich trotzdem für ein Ganzes? Oder über Sigmund Freud: Späne mit Unterbewusstsein und Ich-Illusion.

Es lässt sich nicht leugnen, Bruno Brunner hatte etwas gegen Späne, insbesondere gegen ihr Verhalten im elektromagnetischen Feld. Oder eben in der DDR. Sei kein Span! Niemand weiß, warum er drei Jahre zur Armee ging, immerhin der Ernstfall eines elektromagnetischen Feldes. Er, der ohnehin nicht studieren konnte und nicht einmal die Grundqualifikation eines jeden Humanspänchens aufbringen konnte: eine Überzeugung. Er verbrachte viel Armeezeit im Arrest. Nach drei Jahren war man normalerweise mindestens Unteroffizier – er ging, wie er gekommen war, als Soldat.

Vielleicht hat sich Bruno Brunner nur einmal als Partikel in einer Menge wohlgefühlt, am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, in der ersten Reihe mit Schärpe und Transparent. Und beim „Neuen Forum“ natürlich, dieser Organisation der Nichtorganisierbaren. Spänchen der Republik, unterscheidet euch!

Da arbeitete er, der Tüftler längst mit am elektronischen Fortschritt der DDR, unter dem Dach von RFT, „Radio- und Fernmeldetechnik“. 1991 traf ihn die Abwicklung. Er nahm es nicht persönlich; damals, er wusste es nur zu genau, hätten sie selbst Bill Gates abgewickelt.

Er war Mitte 20, Freunde begannen noch einmal zu studieren. Aber er, der immer seine eigene Universität gewesen war, die einzige, an die er glaubte? Es war nicht Hochmut, nur Realismus. Und wahrscheinlich bestätigte die Entlassung auf verhängnisvolle Weise das Grundgefühl seiner Existenz: Nicht- Späne sind allein, heute wie gestern. Tüftler sind allein. Man muss andere nicht mit seiner Begabung belästigen. Und wer glaubt schon an Genies, die das Arbeitsamt schickt?

Wer nicht frei ist in sich selbst, wird es nie sein. Bruno Brunner war es vor 1989, er war es jetzt wieder. Freiheit ist schwer, manchmal ist sie die schlimmste Fron.

Fordern und fördern. Schon die DDR war eine Erziehungsdiktatur, hier war also, schröderreformiert, die nächste. Arbeitsämter wissen nichts von lebenslangen Selbstförderern.

Er brauchte doch nicht viel zum Leben. Schon dass er überhaupt etwas brauchte, empfand sein Verstand wohl als Kränkung. Die Bewegung hatte er längst seinen Gedanken überlassen. Der Körper, nur die Fessel dieses Geistes? Und er expandierte. Schnürte den Hochmütigen, diesen vermeintlich Grenzenlosen ein, drückte ihn zu Boden. Und siegte. Kerstin Decker

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