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Berlin: Brigitte Haucke (Geb. 1922)

Das war sie wohl: "die letzte Prinzessin vom Kurfürstendamm"

Brigitte Haucke war Teil einer Geschwistereinheit namens Ilse-Wolfgang-Biggi-Hajo. Ob sie jemals davon träumte, wie es wäre, eine aus ihrem Clan herausgelöste Biggi zu sein, weiß man nicht.

Die vier Kinder wurden hineingeboren in eine 300 Quadratmeter große Wohnung, Kurfürstendamm 216, in der der Vater eine Kanzlei betrieb. Rechtsanwalt Haucke, der seinen gutmütigen Charakter an all seine Kinder weitervererbte, hatte eine Schwäche dafür, „Wechsel querzuschreiben“, also Bürgschaften für arme Tröpfe auszustellen. Die Löcher, die dieses Hobby in die Familienkasse riss, überspielte Biggis Mutter mit sicherem Geschmack. Die Haucke-Gören waren die bestgekleideten Kinder vom Kurfürstendamm.

Und weil die Wohnung so schön und geräumig war, und weil die Kanzlei Geld und Arbeit für alle bot, und weil sie einander brauchten, blieb das Geschwisterquartett einfach dort wohnen, vier Leben lang.

Wolfgang übernahm den Posten des Vaters. Biggi hatte die Aufsicht über die Akten, den Briefverkehr und über die Schwester Ilse, das ewige Kind, hübsch, liebenswürdig, und geistig etwas zurückgeblieben. Hajo, der Jüngste, bewegte sich entweder auf den Gipfeln höchster Euphorie oder in den Abgründen tiefster Traurigkeit. Manisch-depressiv würde man heute dazu sagen. Er nahm sich im Alter von 24 Jahren das Leben.

Sie alle fühlten sich der Tradition der Eltern verpflichtet: Geld verdienen und zu viel davon ausgeben, am besten in Gemeinschaft mit solchen, die wenig oder gar nichts hatten. Zum Beispiel mit Tieren. Immer waren es mindestens zwei Hunde, Dackel zumeist, die Mandanten und Privatbesucher freudig begrüßten. Wer länger blieb, hatte zudem die Gelegenheit, den einen oder anderen Vogel, bevorzugt Wellensittiche, beim freien Flug oder beim Reiten auf einem Hunderücken zu beobachten.

Wolfgang, der nach dem Krieg über jeglichen Verdacht einer wie auch immer gearteten Nähe zu den Nazis erhaben war, bekam von den überlebenden jüdischen Freunden der Familie Aufträge. Er sollte sich um Rückerstattungsansprüche und Entschädigungsgelder kümmern. Die Summen, die diese Arbeit auf das Geschäftskonto der Geschwister spülte, setzten sie mit Vorliebe dafür ein, für mittellose Mandanten erbitterte Kriege gegen die Ungerechtigkeit der Welt zu führen, etwa gegen fahrlässige Ärzte oder ausbeuterische Chefs. Teure Kämpfe, die selten zu gewinnen waren.

Klebte auf dem Bechstein-Flügel nicht die Marke des Gerichtsvollziehers, dann sah er ungewohnt nackt aus, und man sorgte dafür, die fehlende Zier möglichst schnell zurückzuerobern. Umso schöner spielte es sich auf ihm. Und das tat mit Vorliebe Ilse, die außerdem sehr gerne den Kurfürstendamm herauf- und herunterspazierte, sich die Menschen anschaute und die, die ihr gefielen, zu Festen in die Wohnung lud.

Ilses Beute, meist eine Mischung aus Studenten, Obdachlosen und Straßenmusikern, war eine willkommene Ergänzung der bunten Runde des großen Freundeskreises. Zahllose Fotos zeugen von einer illustren Gesellschaft, die sich um üppig beladene Tafeln und Buffets drängt. War die Feier auf dem Höhepunkt, warf Wolfgang sein Hemd von sich und demonstrierte an einer im Türrahmen befestigten Turnstange seine Sportlichkeit, Ilse trällerte am Klavier mit hübscher Stimme die immergleichen Schlager oder setzte sich Fremden auf den Schoß. Und dazwischen Biggi, rothaarig, stilsicher, mit großer, roter Brille, nie einen Satz zu Ende bringend und trotzdem immer den Überblick behaltend, freundlich, witzig, nur dann und wann die Schwester zurechtweisend: „Ilse, es reicht!“

Biggi war es, die sich um die kranke Mutter kümmerte, um die Wiederauflage des Buches einer befreundeten Schriftstellerin, um den Erhalt eines kleinen Theaters in Kreuzberg, um die Vorbereitung der Gerichtstermine des Bruders, um das Gassigehen der Hunde.

Als Wolfgang in die Jahre kam, legte er seine Matratze auf einen Schrank in einem Hausboot in Tiergarten. So ließ er sich langsam aus dem Leben schaukeln, nicht ohne vorher seinen Kompagnon zu mahnen: „Kümmere dich um Biggi.“

Der Kompagnon kümmerte sich auf seine Weise. Für windige Spekulationsgeschäfte bat er Biggi um ihr gesamtes Vermögen: „Ich brauche es nur für einen einzigen Tag!“ Die erbetene Summe betrug 100 000 D-Mark, Biggi hatte sie von einer Tante geerbt und als Altersauskommen zurückgelegt. Doch Biggi wäre nicht Biggi gewesen, wenn sie es nicht sofort hergegeben hätte. Das Geschäft platzte. Das Altersauskommen war weg. Der Kompagnon nahm sich zusammen mit seiner Ehefrau das Leben.

Kein Geld. Alle drei Geschwister beerdigt. Biggi lebte von einer schmalen Rente und lernte die Einsamkeit kennen. An ihrer Menschenfreundlichkeit ändert das nichts. Sie lächelte, wenn Mitarbeiter der Kanzlei, in der jetzt Fremde arbeiteten, sich in ihrer Küche bedienten, freute sich über jeden, der bei ihr klingelte, füllte die einsamen Stunden mit guter Literatur. Zudem war sie engagiertes Mitglied der „Hunderunde“, einem Gassigeh-Club.

Eben hier erzählte man sich 1990, dass die russischen Besatzungssoldaten hungrig und vergessen in ihren Ost-Berliner Kasernen darbten. Und das kurz vor Weihnachten. Biggi hatte den rettenden Einfall: „In der Zeitung stand etwas über Bauern, die ihre Hammelherde nicht mehr ernähren können. Kaufen wir den Bauern einen Hammel ab und schenken ihn den Soldaten für ihren Weihnachtsschmaus!“ Sofort machte sie sich auf in die Kasernen und befragte die Soldaten nach ihrem Hunger auf Hammelfleisch. Der war groß. Die „Hunderunde“ legte zusammen, Biggi rechnete nach und verkündete froh: „Es reicht nicht nur für einen Hammel, es reicht sogar für zwei!“ Beseelt davon, Bauern und Soldaten geholfen zu wissen, berichtete sie sämtlichen Nachbarn, dem Friseur, dem Postboten, dem Gemüsehändler und dem Bäcker von dem Hammelglück. Und die, froh über den weihnachtlichen Gesprächsstoff, brachten die Nachricht zusammen mit Biggis Telefonnummer unter die Leute. Am Ende ging so viel Geld bei Biggi ein, dass die verwunderten Russen schließlich eine Herde von 120 Hammeln sowie zwei Säcke Karotten in Empfang nahmen.

Das lange Leben der Brigitte Haucke neigte sich dem Ende zu. Ein Leben, das sie ganz in den Dienst der Kanzlei, ihrer Familie und Freunde gestellt hatte, nie aber in die Liebe zu einem Mann. Wenn schon Männer, dann Schwule. Die anderen waren ihr unheimlich und stimmten sie verlegen.

Das rote Haar war weiß geworden, doch von den blauen Augen ging immer noch ein jugendliches Leuchten aus. „Zwei Wochen noch“, sagten ihr die Ärzte nach der Feststellung einer Krebserkrankung.

Zum ersten Mal hörte man Biggi lebensmüde, missmutige Sätze sagen. Ihre Nichte machte sich auf die Suche nach einem Pfleger – und fand Roman. Der gebürtige Pole verkörperte genau die Sorte Mann, die Biggi fürchtete: Er war riesenhaft groß, hatte eine sonore Stimme, dunkle Haut, schulterlanges, schwarzes Haar, einen Bart und trug bunte Hemden. Etwas ängstlich stellte die Nichte die beiden einander vor. Entgegen aller Erwartung schlug Biggi kokett die Beine übereinander und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Der ist doch ganz reizend!“

Roman war tief angerührt von der belesenen, lustigen, menschenfreundlichen Dame und wich bald nicht mehr von ihrer Seite. Er kochte für sie, kaufte ihr Blumen, spielte ihr auf seiner Gitarre vor, schob sie in ihrem Rollstuhl ins „Hard Rock Café“. Stellte er in ihre geschmackvoll eingerichtete Wohnung amerikanischen Kitsch, sagte sie mit vergnügter Stimme: „Mach du nur.“ Bekam Biggi Besuch, begann sie nach nicht allzu langer Zeit darauf hinzuarbeiten, diesen wieder zu verabschieden. Nur mit Roman wollte sie zusammen sein, dem Mann, der sie auf Händen trug. Und der sie „die letzte Prinzessin vom Kurfürstendamm“ nannte.

Wenn sie doch einmal an ihren Kräften zu zweifeln begann, fragte Roman: „Was willst du? Sterben oder mit mir ein Eis essen gehen?“ Zuverlässig hieß die Antwort: „Eis essen!“

Nie hatte man Biggi so glücklich und strahlend gesehen wie in diesen letzten drei Jahren ihres wundersam verlängerten Lebens. Sie starb still und friedlich, in den Armen von Roman. Ein Weihnachtsmärchen? Ja. Aber ein wahres! Anne Jelena Schulte

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