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Die Erzählung über Rotkäppchen und den bösen Wolf der Gebrüder Grimm ist nicht die einzige Version des Märchens.

© IMAGO / Günter Schneider

Brandenburger Kinderbuchmuseum: Im Havelland gibt es Einblicke in 200 Jahre Märchen-Produktion

Im Museum in Kleßen-Görne ist eine märchenhafte Fülle an Schaustücken zu bestaunen. Ein ausgestelltes Buch ist sogar ein Einzelstück.

Rotkäppchen nackt im Bett mit dem bösen Wolf? Das haben wir aber ganz anders in Erinnerung. Und wer noch, wie so viele, die „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm im Bücherregal stehen hat, könnte sich jetzt augenblicklich vergewissern: Nein, sie liegt nicht im Bett mit dem großmütterlich maskierten Wolf, weder nackt noch bekleidet. Gefressen wird sie trotzdem.

Da ging es bei dem zu Zeiten des Sonnenkönigs Ludwig XIV. lebenden Schriftsteller und hohen Beamten Charles Perrault noch sehr viel sinnlicher zu, auf dessen Märchen „Le Chaperon rouge“ (1697) das von Jacob und Wilhelm Grimm zurückgeht: Rotkäppchen legt sich bei dem Franzosen völlig hüllenlos zum Wolf – offenkundig eine Warnung an junge Mädchen, es der Kleinen in ähnlichen Situationen ja nicht gleichzutun.

Diese erotische Färbung ist noch auf der berühmten Illustration von Gustave Doré (1862) klar zu erkennen, wenngleich Rotkäppchen, den neben ihr liegenden Wolf fasziniert betrachtend, sich ihrer Kleider noch nicht entledigt hat. Aber selbst dies war den Brüdern Grimm eine zu offenkundige Anspielung. Ihr Rotkäppchen bleibt züchtig am Bettrand stehen, so wurde das Märchen jugendfrei.

Wer seine Erinnerungen an die Märchen der Kindheit oder später gelesene Kunstmärchen, etwa Friedrich de la Motte-Fouqués „Undine“, auffrischen und dabei viel Wissenswertes und Spannendes über diese literarische Form erfahren will, dem sei ein Ausflug ins Havelland empfohlen, in das Kinderbuchmuseum in Kleßen-Görne.

Es wurde im Vorjahr eröffnet, ergänzend zum bereits bestehenden Spielzeugmuseum und ebenfalls als Initiative des Berliner Unternehmers und Sammlers Hans-Jürgen Thiedig. Der wollte sich an seinen über 1000 Büchern aus 300 Jahren nicht länger allein erfreuen und hat damit ein besonders in der warmen Jahreszeit gut besuchtes Ausflugsziel für Kulturbeflissene und deren Nachwuchs geschaffen, wie Kuratorin Birgit Jochens sagt.

Gemeinsam mit dem Gestalter Klaus-Dietrich Schulze hat sie jetzt die Sonderschau „Unterwegs im Anderswo. Über Märchen und Märchenbücher“ zusammengestellt, die einen Überblick über knapp 200 Jahre der Märchenbuch-Produktion geben will.

Von den Grimms bis zu japanischen Mangas

Dafür standen nur zwei Räume bescheidener Größe zur Verfügung, in denen aber eine schon fast märchenhaften Fülle an Schaustücken und Informationen zu dieser Kunstform versammelt wurde. Sie reicht, bleiben wir nur beim Rotkäppchen, von Perrault, Doré und der ausführlich gewürdigten Sammelleidenschaft der Grimms über japanische Manga-Variationen des Stoffes bis zu den mehrere Dutzend in Europa, Asien und Afrika auffindbaren Geschichten mit ähnlichen Motiven, die der Anthropologe Jamshid J. Tehrani und die Völkerkundlerin Sara Graça da Silva nachgewiesen haben.

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Gezeigt werden auch Sammelkarten mit Märchenmotiven, wie sie früher bestimmten Produkten als zusätzlicher Kaufanreiz beilagen, dazu seltene deutsche Volksmärchen-Bücher wie Franz Graf von Boccias „Blaubart“ (1845), Kunstmärchen-Bücher der Romantik, vom Jugendstil geprägte Märchenbücher wie die von Gertrud Caspari oder die von 1907 bis 1909 entstandenen Illustrationen Otto Ubbelohdes, die viel zum Erfolg der Grimmschen Märchen in Japan beigetragen haben.

Besonders stolz ist die Kuratorin auf ein Märchenbuch, von dem es nur ein einziges Exemplar gibt: „Wenn Mütter auf Reisen gehen. Eine Geschichte aus Puppen- und Tierleben“, um 1925 von Marie Bruns, der ältesten Tochter Wilhelm von Bodes, des langjährigen Generaldirektors der Berliner Museen, für ihre beiden Töchter ersonnen, aufgeschrieben und gemalt.

Rarität.Von Marie Bruns’ Puppenmärchen gibt es nur ein einziges Exemplar.
Rarität.Von Marie Bruns’ Puppenmärchen gibt es nur ein einziges Exemplar.

© Kinderbuchmuseum im Havelland

[„Unterwegs im Anderswo. Über Märchen und Märchenbücher“. Kinderbuchmuseum im Havellland, Schulweg 2 in Kleßen-Görne, bis Ende 2021, geöffnet Mittwoch bis Sonntag von 11 bis 17 Uhr.]

Das Märchenbuch, eine Leihgabe von Rainer Noltenius, dem Enkel der Autorin, erzählt von Puppen, die bei einer Familienreise zurückbleiben und nun, plötzlich lebendig wie die Spielzeugfiguren in E.T.A. Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“, allerlei Abenteuer erleben – und sich zur Belustigung der jungen Leserinnen in bester „Berliner Schnauze“ unterhalten, mit Begriffen, die heute weitgehend verschwunden sind, von „knorke“ bis „schnafte“.

Das Kinderbuch stelle in der Perspektive der Puppengesellschaft „ein Gemälde des Berliner Bildungsbürgertums“ dar, erzählt von einer klugen, humorvollen Frau, die selber eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben Berlins zwischen 1912 und 1945 gespielt habe, schreibt Rainer Noltenius über seine Großmutter.

Noch einmal zurück zu Rotkäppchen und den Grimms. Denn vielleicht war es ja doch anders, vielleicht haben sie die Geschichte nicht bei Perrault gefunden, sondern selbst ersonnen, zum Beispiel so, wie sich das der Karikaturist James Stevenson in einer Zeichnung für das US-Magazin „The New Yorker“ ausgedacht hat: Die beiden Märchenonkel rätseln in ihrem Studierzimmer, wovon ihre nächste Geschichte handeln könnte.

Kind im Wald, schlägt Jacob vor. Der Einwand des Bruders, Wald hätten sie schon zu oft gehabt, wird ignoriert, Wald gehe immer. Dort könne das Kind ja einen Zwerg treffen, oder auch zwei, spinnt Wilhelm die Geschichte weiter fort. „Das hatten wir schon.“ – „Wie wäre es mit einem Wolf, Jacob?“ Und so geschah es.

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