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Berlin: Borislav Boyadjiev (Geb. 1943)

Wer keine Heimat hat in sich, wird keine finden

Der Schrei ist unsere erste Reaktion auf die Welt, auf diese plötzliche beängstigende Offenheit. Offenheit? Die Angst war nicht nur in ihm, sie war auch außen, und sie blieb. Dieses Außen bebte, es dröhnte, stürzte fortwährend in sich zusammen. Borislav Boyadjiev wurde in die Bombennächte von Berlin hineingeboren, in den Untergang einer Stadt. Als er ein Jahr und sieben Monate alt war, wurde die Stadt plötzlich leise. Jetzt hätte eine Nachkriegskindheit wie so viele andere beginnen können, schwerer, aber vielleicht auch schöner, als Kindheiten vorher und nachher waren. Schöner vor allem, weil kein Abenteuerspielplatz der Welt sich mit einer Stadt in Trümmern messen konnte.

Aber für Borislav, den kleinen Berliner mit dem ungewöhnlichen Namen, fing das große Verlieren jetzt erst an. Damals hieß er Dschambov. Sein Vater Pawel Dschambov war Mitarbeiter der Botschaft des Zarenreichs Bulgarien in Berlin. Welche Laufbahn, von einem weltverlorenen bulgarischen Bergdorfjungen zum angehenden kaiserlichen Diplomaten in Deutschland! Und was für ein Zar war das: Boris III. hatte sich gemeinsam mit seinem Volk geweigert, die bulgarischen Juden deportieren zu lassen und der Sowjetunion den Krieg zu erklären.

Pawel Dschambovs Karriere besaß, als es still wurde in Berlin, nur einen Fehler: Den bulgarischen Zar gab es bald nicht mehr. Und kurz darauf verlor der Diplomat ohne Vaterland auch seine junge Frau. Die entkräfteten Menschen hatten den Krankheiten, die wie Seuchen in die Nachkriegsstädte kamen, nicht viel entgegenzusetzen. Borislavs Mutter, Berlinerin mit italienischem Vater, starb an spinaler Kinderlähmung, keine 24 Jahre alt. Da war Borislav vier. Mag sein, die Eltern hatten ihn nach Boris III. genannt. Aber außer seinem Namen war nichts bulgarisch an ihm.

Plötzlich waren die Häuser viel zu klein und die Bäume viel zu groß. Es gab keine Autos, keine S-Bahnen. Noch nie hatte der Junge so wenig Menschen unter einem so hohen Himmel gesehen. Sie trugen seltsame Kleider, und ihre Sprache verstand schon im nächsten Dorf keiner mehr. Sein Vater hatte ihn hergebracht, in dieses kleine Dorf hinter den sieben bulgarischen Bergen, in dem er seinen Weg in die Welt einst begonnen hatte. Hier wusste Pawel Dschambov seinen Sohn sicher vor aller Nachkriegsnot. Und war wieder abgefahren, allein. Wie lange mochte der Junge gewartet haben? Der Vater kam nicht zurück.

Leben war ein anderes Wort für Verlassenwerden. Vielleicht sollte er sich gar nicht darauf einlassen? Mochten andere Jungen groß werden, er blieb vorsichtshalber klein. Und dann, als er schon sprach wie die Menschen hier, als er bereits zu ihnen gehörte, als er sich längst hatte verführen lassen, doch noch zu wachsen, war er plötzlich „der Nazi“.

Wieder verstand Borislav Dschambov kein Wort. Nur das Wort „Nazi“, das verstand er beinahe intuitiv. Die anderen Kinder lachten, sobald er etwas sagte. Das sollte Bulgarisch sein? Hier in Sofia, in diesem Kinderheim, würde er etwas lernen, hatte seine Tante gesagt. Aber wie konnte er das mit einer Sprache, die man nur in einem Dorf auf der Welt verstand? Und als „Nazi“ obendrein. Er war allein, ganz allein. Seine Stellung in der Welt war unhaltbar.

Wer es zu etwas bringen will, geht am besten nach Berlin! Pawel Dschambov war nicht der einzige Bulgare gewesen, der vor dem Krieg diesem Ruf gefolgt war. Das Ehepaar Boyadjiev etwa: Er wurde Architekt, sie frisierte die Ufa-Stars. Zurück in Sofia hatte sich die Haarkünstlerin in Ermangelung anderer führender Köpfe denen der Funktionärsgattinnen zugewandt. Die kinderlosen Boyadjievs nahmen den kleinen „Nazi“ erst in Schutz und dann ganz zu sich. Berliner helfen Berlinern.

Wem verdankt man sein Leben? Borislav Boyadjiev verdankte es wohl dem Talent seiner Stiefmutter, Köpfe zu formen. So nah am Hirn operiert kaum eine fremde Hand, und vielleicht ist der Aufenthalt auf einem Friseursessel ohnehin der Spezialfall einer konspirativen Sitzung. Im Sommer 1956 öffnete sich für den 13-jährigen Boris der eiserne Vorhang. Er fuhr in die Stadt, aus der er kam, für einen Sommer nach West-Berlin.

Es wurde der Beginn einer großen, nie endenden Liebe. Der Junge fand die Großmutter seines Lebens, Anna Otto, die ihre einzige Tochter so früh verloren hatte. Mit 13 holte er seine versäumte Berliner Kindheit nach, durchstreifte mit dem Fahrrad die Stadt, grenzenlos frei. Manchmal verkaufte er auf dem Charlottenburger Wochenmarkt Bananen, trug seinen Verdienst an die Kinokasse und sah einen Western nach dem anderen.

Leben, erfuhr er, ist auch Wiederfinden. Die Strecke selbst ähnelt wohl am ehesten einem Hindernislauf. Eigentlich sind die Hürden zu hoch, es sei denn, man trainiert. Irgendwann hatte er angefangen, ganz allein. 110 Meter Hürdenlauf, dann 400 Meter. Bulgariens Jugend-Olympiamannschaft nahm ihn auf, mit ihr sah er auch Italien, die Heimat seines Großvaters. Das Risiko des Verlassenwerdens, das hatte er längst entdeckt, ließ sich auch positiv formulieren: als Kunst des Alleinseins. Wann wäre man vollständiger als gemeinsam mit sich? Boris Boyadjiev wurde praktizierender Solist mit außergewöhnlicher Begabung zur Liebe und Freundschaft.

Architektur wollte er studieren. Chemie, entschied der Sozialismus. Also Chemie in Sofia und immer wieder West-Berlin. Hier traf er wie einst sein Vater irgendwann das Mädchen, bei dem er bleiben wollte. Doch nun schloss sich der eiserne Vorhang. Er konnte warten, er hatte gute Nerven. Als er auch diese Hürde genommen hatte, stand die nächste schon vor ihm: In West-Berlin war er gar kein Chemiker. Sein Diplom zählte nicht. Also machte er gleich noch einen Abschluss, wählte die Hürde nur ein wenig größer: Promotion statt Diplom.

Am Ende war er ein wenig älter als die Doktoren der Chemie mit nur einer Heimat. Mag sein, Borislav Boyadjiev war auch ein wenig eigensinniger. Und vielleicht hätte er das, was andere eine Karriere nennen, auch nicht gewollt. Er bewarb sich um Forschungsaufträge, bekam schließlich eine Stelle beim Umweltbundesamt und verlor sie beim ersten großen Sparen wieder. War er nicht „teamfähig“ genug? Mag sein, Boris Boyadjiev hat diese neue deutsche Tugend nie wirklich verstanden oder ihren Aposteln misstraut. Ihm war die Ich-Fähigkeit noch immer wichtiger. Wer keine Heimat hat in sich, wird keine finden. Diese Lehre verdankt er seiner Kindheit und dem Sozialismus auf unterschiedliche Weise. Vielleicht haben seine Kollegen auch nur gemerkt, dass er keine Position im Außen nötig hatte, die ihm sagte, wer er war.

Großmutter Anna Otto hatte ihm ihr Brieselanger Grundstück vererbt. Mit Laube. In Brieselang heißen Hotels noch heute „Zum ersten Siedler“, und der kulturelle Höhepunkt des Jahres ist gewiss das Platzkonzert auf dem Markt, aber für Boris Boyadjiev gab es keinen vertrauenswürdigeren Ort auf der Welt.

Bis zuletzt hatte er die Großmutter umsorgt, sie zu Grabe getragen. Es ist sehr leichtfertig, Menschen, die vor allem sich zum Leben brauchen, für Egoisten zu halten. Als er neun Jahre alt wurde, war es plötzlich ganz still geworden in dem kleinen Dorf mit dem großen linguistischen Eigensinn. All seine Bewohner lagen mit hohem Fieber in ihren Betten. Es war die Grippe. Der Junge schaute sich um, er kam immer wieder zum gleichen Ergebnis: Der Einzige, der hier noch auf seinen Beinen stand, war er, Borislav, der Wachstumsverweiger. Sollte er schon wieder allein bleiben? Kam es auf ihn an, nur auf ihn? Manchmal beginnt das Größerwerden mit dem Über-sich-hinaus-Wachsen.

Am besten hilft man allein, am besten arbeitet man allein, am besten denkt man allein, am besten erholt man sich allein? Auch die Frau, mit der er 25 Jahre seines Lebens teilte, hat lange gebraucht, dieses Bekenntnis nicht als Aussage gegen sich zu werten.

Vor anderen mag das Leben eben wie eine Ebene liegen, das seine glich bis zuletzt dem Hürdenlauf. Wie einst sein Vater ging er irgendwann in der bulgarischen Botschaft ein und aus, wurde deutsch-bulgarischer ökologischer Sondergesandter im eigenen Auftrag.

Der eigene Körper ist Hoheitsgebiet, er bestand auf der Unverletzlichkeit seiner Grenzen. Es kostete ihn schon Überwindung, Ärzten ein Inspektionsrecht zuzugestehen. Und nun sollte er einer Sonde Einlass in sich gewähren? Dieser Hürde – vielleicht war es die einzige – wich der krebskranke Boris Boyadjiev lange aus. Zu lange wohl. Kerstin Decker

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