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Blick in eine psychiatrische Station - allerdings nicht die im St. Hedwig-Krankenhaus.

© imago/Christian Ditsch

Borderline und Suchterkrankung: Die Basis ist Achtsamkeit

Manche Patienten leiden nicht nur am Borderline-Syndrom, sondern gleichzeitig auch noch an einer Suchtstörung. Station 34 im St. Hedwig-Krankenhaus ist auf diese doppelte Behandlung spezialisiert. Ein Besuch in Mitte.

Mit fünfminütiger Verspätung schlurft Max zur Tür herein. Raspelkurze Haare, Jogginghose, tätowierte Oberarme. Müde und abgekämpft schaut er aus. Nur mit Mühe behält er die Augen offen. „Max, nicht schlafen!“, ruft ihm jemand hinterher, als er sich auf den Weg zu seinem Platz macht.
Max ist heute der einzige Mann in der Runde. Sieben Frauen, alle kaum älter als 20, haben sich in dem Klinikzimmer mit Linoleumboden und grünen Stühlen bereits in einen Kreis gesetzt. Lisa in ihrem schwarzen Kapuzenpulli hat die Arme vor der Brust verschränkt, Saskia kramt in einem Ordner, Maja hat ein Stück Knete in der Hand. An der Wand ein Plakat mit goldenen Regeln: Respekt zeigen, Rücksicht nehmen, Ausreden lassen.
Vicky ergreift als Erste das Wort: „Wie hoch sind bei euch Anspannung und Suchtdruck? „30 zu 65“, „40 zu 70“, „35 zu 0“, „85 zu 30“ – „Waaas?“, ertönt es von Saskia, „85? Dann bist du ja schon fast vorm Explodieren.“ „Hm“, nuschelt Alena, während sie ununterbrochen ein rosafarbenes Stofftier von der einen Hand zur anderen wirft. Manche von ihnen sind erst seit einer, andere seit drei oder sogar zwölf Wochen hier, auf Station 34 der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus. Die acht Patienten eint dieselbe Diagnose: Sie haben eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und leiden gleichzeitig an einer Suchterkrankung.
Während andere Einrichtungen in Deutschland die Erkrankungen getrennt behandeln, bietet die Klinik in Mitte ein Konzept an, mit dem beide Störungen gleichzeitig behandelt werden können. Dazu wird die Dialektisch-Behaviorale-Therapie (DBT) mit Ansätzen der Suchtbehandlung kombiniert. DBT-S nennt sich das Programm.

Was genau ist das Borderline-Syndrom?

Was aber ist eine Borderline-Störung? Martin Voss, leitender Oberarzt der Station 34, hat seit vier Jahren mit Borderline-Patienten zu tun. Sie litten unter intensiven Anspannungszuständen, Impulsivität und emotionaler Instabilität, erklärt er. Und sie hätten häufig ein gestörtes Selbstbild und Probleme, ihre Gefühle zu regulieren. Damit einher gehe selbstschädigendes Verhalten – ein Versuch, schmerzhafte Gefühle zu beenden. „In der Öffentlichkeit sind Borderline-Patienten häufig nur als diejenigen bekannt, die sich die Arme aufritzen. Das Leiden der Betroffenen wird häufig überhaupt nicht gesehen und verstanden“, sagt Voss.

In Deutschland sind etwa zwei Prozent der Bevölkerung von einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung betroffen, so der Fachbegriff für das Borderline-Syndrom. Mindestens die Hälfte davon konsumiert Alkohol oder Drogen wie Cannabis oder Kokain. Wenngleich die Störung bei Männern und Frauen in etwa gleich oft auftritt, befinden sich wesentlich mehr Frauen als Männer in Behandlung. „Männer mit Borderline neigen stärker zu Gewaltausbrüchen und werden handgreiflich. Statt in die Klinik kommen sie eher ins Gefängnis. Die Erkrankung bleibt dann unentdeckt“
, so Voss.
Während sich die Symptome der Borderline-Störung erst im jungen Erwachsenenalter äußern würden, seien die Ursachen häufig schon in der Kindheit zu finden. Dazu zählten Missbrauch und Gewalterfahrungen. „Viele Borderline-Patienten wurden früh vernachlässigt und allein gelassen. Eltern sind nicht auf ihre Bedürfnisse eingegangen“, erklärt Voss. Sie seien aufgewachsen mit dem Gedanken: Ich bin nicht richtig. Meine Gefühle sind falsch.

Konsultations-Team auf Station 34: Psychologen, Ergotherapeuten, Sozialarbeiter und Krankenpfleger sitzen an diesem Dienstagmorgen an einem Tisch, haben Blöcke, Notizzettel und Stifte in den Händen. „Was ist mit Aggressivität oder suizidalem Verhalten?“, fragt Sozialarbeiterin Katja Weiß ihre Kollegen. Kopfschütteln. Die Entwicklung bei einer aktuellen Patientin sei nicht erfreulich, berichtet eine der Psychologinnen. Der Grund: Sie habe wieder Drogen konsumiert. „Wie ist das passiert?“ Die Anspannung habe sich bei ihr aufgestaut. Therapie und Abstinenz hätten Hassgefühle und traumatische Erlebnisse zutage gefördert.

Ähnlich viel Kopfzerbrechen bereitet Max. „Er hat Angst, dass er wieder anfängt zu trinken, wenn er nach Hause zurückkehrt“, berichtet ein Kollege aus der Runde. „Vergangene Woche hatte er einen verbalen Impulsdurchbruch, hat jemanden in der Bahn beschimpft. Hat gedauert, bis er damit rausgerückt hat“, erzählt eine Kollegin. Die Konsultationsrunde fragt sich: Wie soll es weitergehen mit Max? Muss er ins Time-Out? Also sich zwei Stunden zurückziehen, eine Verhaltensanalyse machen, um das Verhaltensmuster zu verstehen und Bewältigungsmöglichkeiten zu erarbeiten? „Da müssen wir was machen. Ich werde das mit ihm besprechen“, sagt einer der Psychologen abschließend.

Wer hier auf der Station aufgenommen werden will, muss mit einer wochenlangen Planung rechnen. Meist schon ein halbes Jahr vorher werden Gespräche geführt. Die Nachfrage ist groß, die Wartezeit lang. Wichtig: Die Patienten müssen selbst den Entschluss fassen, eine Therapie zu machen. Angehörige können zwar motivieren, aber letztlich muss der Patient den festen Willen haben. In welcher Verfassung aber befindet sich ein Borderline-Erkrankter, wenn er sich in der Klinik meldet? Oft hätten die Patienten schon eine lange Krankengeschichte hinter sich, verschiedene Kliniken besucht oder mehrere Entzugsbehandlungen durchlaufen, sagt Oberarzt Voss. Wer mit der Therapie beginne, sollte sich wirklich auf die Behandlung einlassen können. Deshalb raten er und sein Team den Patienten, sich vorher um Probleme wie einer drohenden Wohnungslosigkeit oder diversen Schulden zu kümmern.

Manche müssen sich erst einer Entgiftung unterziehen

Während manche Patienten bei der Aufnahme schon seit Monaten keine Drogen mehr konsumiert haben, müssen andere sich erst einer Entgiftung unterziehen. Bei etwa drei Viertel der Patienten sei das der Fall, sagt Voss. Maren etwa ist erst seit einer Woche auf Station. Die 21-Jährige geht seit ihrer Jugend wöchentlich zur Therapie. Ohne Erfolg. „Ich war in meiner Kindheit immer mit starkem Leistungsdruck konfrontiert. Meinen Eltern war ich nicht gut genug, meine Gefühle spielten keine Rolle“, erzählt sie. Allein und unverstanden habe sie sich gefühlt. Ihr niedriges Selbstwertgefühl habe sie dann versucht, mit Alkohol zu betäuben, später mit Kokain. „Vergangenes Jahr habe ich gemerkt, dass es so nicht weitergehen kann. Dass ich gerade auf dem Weg bin, mich umzubringen.“ Vor einigen Monaten hat sie einen Entzug gemacht. Drei Wochen vor der aktuellen Therapie ist sie aber rückfällig geworden. „Ich habe Panik bekommen.“

Zwölf Wochen dauert das DBT-S Programm im St. Hedwig Krankenhaus. Das heißt nicht, dass die Patienten auch zwölf Wochen hier verbringen. Nach einigen Wochen stationärer Behandlung geht es zurück nach Hause. Dann kommen sie nur noch montags bis freitags zu einzelnen Therapien auf Station. Der Übergang von der Klinik in den Alltag soll so leichter fallen. Am Anfang jeder Therapie steht die Frage: Was sind meine Ziele? Diese müssen die Patienten dem Personal vorstellen, später halten sie eine Zwischen-, dann eine Schlussbilanz. Marens Ziele für die nächsten Wochen lauten: Gefühle zulassen, sich selbst akzeptieren, das Selbstwertgefühl steigern, sich von Anderen mühsam Aufgebautes nicht kaputt machen lassen. Die Therapie selbst besteht aus Gruppen- und Einzelsitzungen, Achtsamkeitstraining, Ergotherapie, Bewegungsgruppen, Skillsgruppen und dem Besuch externer Selbsthilfegruppen.

In den Skillsgruppen gehe es darum, Fertigkeiten und Strategien zu erlernen, um mit Anspannung und Druck zurechtzukommen. „Die Patienten brauchen Alternativen zu Selbstverletzungen oder Drogenkonsum, zu denen sie aufgrund ihrer emotionalen Instabilität neigen“, erklärt Voss. Drogen oder Alkohol könnten die Anspannungen zwar kurzfristig lösen, auf Dauer seien sie aber schädigend. Sport oder Hausarbeit können spontane Alternativen sein, um dem Druck beizukommen. Nicht ungewöhnlich: Patienten, die mit Knete in der Hand in den Kursen sitzen. Auch ein Ventil, um vor Anspannung nicht in die Luft zu gehen.

Nach zwölf Wochen stellt sich die Frage: Wie geht es weiter?

Achtsamkeit sei die Basis, um Gefühle besser wahrnehmen zu können. Bin ich gerade traurig, wütend, gestresst? Für viele ist es gar nicht leicht, ihre Gefühle richtig einzuordnen und adäquat damit umzugehen. Daneben lernen sie Stresstoleranz, Krisenbewältigung und -Vorbeugung, stabile Beziehungen aufzubauen, das Selbstwertgefühl zu verbessern. Nach zwölf Wochen Therapie stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Früh sollten die Patienten in ambulanter Therapie weiter an sich arbeiten. Die letzte Woche, sagt Voss, sei oft die schwerste. „Dann verlassen sie die geschützten und gut strukturierten Rahmen und sind wieder auf sich gestellt.“

Nicht jede Therapiesitzung leitet ein Psychologe. Manche werden auch von der Gruppe selbst geführt. Heute ist es Vicky, die das Wort übernommen hat. Nachdem sie alle von Anspannung und ihrem Suchtpotenzial berichtet haben, machen sie eine Achtsamkeitsübung und gehen dann an ihre Verhaltensanalysen. Vicky selbst ist es, die anfängt. Sie habe in der Nacht wenig geschlafen, wollte erst gar nicht herkommen. Ihr Hund sei krank: „Das hat mich ziemlich besorgt und deprimiert. Die Behandlung kostet ja auch Geld. Da bin ich panisch geworden.“ Dann schaut sie auf ihren Zettel, um vorzutragen, wie sie die Situation gemeistert hat, um dennoch herzukommen.

„Ich habe eine Atemübung gemacht und meine Mutter gebeten, auf den Hund aufzupassen“, sagt Vicky, holt Luft und ergänzt wie aus dem Lehrbuch: „Grundsätzlich sollte ich schauen, ob meine Handlung eigentlich adäquat zu dem Ereignis ist.“ Maren ist die Erste aus der Runde, die auf Vickys Verhaltensanalyse reagiert: „Toll, dass du trotzdem gekommen bist.“ Vickys Gesicht entspannt sich. „Danke, schön das von euch zu hören.“ Die Runde versucht sich gegenseitig mit Erfahrungen zu helfen, aus der Rolle des Patienten schlüpfen sie immer wieder in die des Helfers. Eine neue Erfahrung. Auch Lisa, bisher noch den Kopf im Kapuzenpulli versteckt, meldet sich zu Wort. Erst jetzt erkennt t man die Schrift auf ihrem Pulli. In farbenfrohen Buchstaben steht da: Smile!

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