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I love Berlin steht auf dem Regenschirm der italienischen Touristinnen - aber wie lange wird dieses Gefühl noch halten?

© dpa

Boomtown Berlin am Ende?: Die Hauptstadt leidet unter ihrer Normalität

Wohnen wird immer teurer, und Starbucks wird immer mehr: Berlin ist schon lange nicht mehr einzigartig oder wenigstens "arm, aber sexy" - und das führt auch zu sinkender Attraktivität. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Werner van Bebber

Noch sind es bloß Indikatoren: Die Mieten sind in Berlin seit 2004 um rund 70 Prozent angestiegen. Die Touristenzahlen sind 2016 in geringerem Maß gestiegen als in den Jahren zuvor. Steigende Mieten und sinkende Besucherzahlen könnten etwas miteinander zu tun haben. Womöglich weisen sie auf das Ende eines Trends hin: Die Boomtown verliert an Anziehungskraft.

Ach was, werden Statistiker, Zahlenfreaks und Mitglieder des Senats jetzt sagen: Die Bevölkerung wächst! Das Steueraufkommen steigt! Es gibt immer mehr Start-ups! Aufs Ganze gesehen hat auch der Tourismus zugelegt! Was heißt denn da „schwindende Anziehungskraft“, Ende des Booms?

Doch genauso kann man die beiden Indikatoren (Entwicklung bei Mieten und Touristen) verstehen. Man muss sich bloß klar machen, wie zerbrechlich die Trends sind, die Berlin in den vergangenen Jahren blühen ließen. Dass die Stadt so viele junge Leute aus ganz Europa angezogen hat, lag ja gerade an den Möglichkeiten, hier billig zu wohnen. Klaus Wowereit brachte seinen unvergessenen, Tourismus-politisch genialen „Arm-aber-sexy“-Spruch im Jahr 2003 und damit das damalige Lebensgefühl der Stadt auf den Punkt. Inzwischen sind dem Spruch die Grundlagen abhandengekommen, und ein Beweis ist die Entwicklung der Mieten.

Vielleicht ist es ja bei allen Trends so, dass sie mit der Zeit ihre Voraussetzungen abschaffen. Längst hat die Gentrifizierung auch Neukölln erreicht. Die ganze Innenstadt atmet im Vergleich zum „Arm-aber-sexy“-Jahr 2003 Wohlstand und selbstbewusste Eleganz. Die Szene der Jogginghosen-Berliner, die einem gewissen Thilo Sarrazin mal als unangenehm stilprägend aufgefallen war, haben sich an die Stadtränder verlagert.

Doch wird sich nun auch unter der Jugend Europas herumsprechen, dass das Leben in Berlin nicht mehr billig ist. In den vergangenen zehn, 15 Jahren ist Berlin – jedenfalls in den Innenstadtbezirken – flächendeckend hübscher, besser, neuer und deutlich teurer geworden: more crafted, aber weniger krude.

Auf einmal wollen "alle" nach Berlin

Macht man sich klar, wo der Anfang der Trendmetropole lag, nämlich in den etwas rotten Zuständen der 1990er und frühen 2000er Jahre, sieht man auch hier einen Trend, der seine Voraussetzungen gefressen hat. Damals kamen Leute, die das Krude, Rohe, Runtergerockt-Ruinöse mochten. Berlin war eine Problemstadt kurz vor der Pleite, so spannend wie billig. Dann setzte das ein, was in vielen anderen ehemaligen Industriestädten auch passierte, die Gentrifizierung.

Die Trendsetzer der Gentrifizierung waren Leute, die sich zutrauten, Fabriketagen, alte Wasserwerke, Banktresorräume oder Hochbunker zu bespielen. Sie erfanden das Neue im Alten. Dazu kamen die Trend-Beschleuniger, fasziniert vom Neuen und entschlossen, mit dabei zu sein: Studenten, Lebenskünstler, Lyriker, Existenzphilosophen, T-Shirt-Drucker. Als die Trend-Dynamik so stark geworden war, dass sie es in bunte Magazine und ins Fernsehen schaffte, kamen die Touristen. Schließlich wollen auf einmal „alle“ nach Berlin.

So lief leicht verkürzt der Berlin-Boom der vergangenen 15 Jahre. Dass er nun auch mit Blick auf die Touristenzahlen schwächelt, ist kein Wunder. Angeblich kamen und kommen die Leute, um die neue deutsche Hauptstadt mit ihrer ganz speziellen Geschichte zu sehen. Doch deren spektakulärste Orte, allen voran der Checkpoint Charlie, sind längst so kommerzialisiert, dass sie Ausstrahlung, Aura und Authentizität verloren haben. Die Mauer musste 1990 weg. Das war gut so und hinterließ doch eine Leerstelle. Doch schon der Streit um den Abriss des Palastes der Republik ließ in den frühen 90ern ahnen, dass der Stadt etwas abhandenkommen könnte: ihre Einzigartigkeit.

An den Kommerz, das überall Gleiche, die Kettenläden-Ketten, die Starbuckisierung der Zentren hat man sich nicht bloß in Berlin gewöhnt. Das gehört zu großen Städten und erst recht zum Städtetourismus – auch wenn man sich bei jedem Trip in eine andere große Stadt im In- oder Ausland fragt, warum diese Entwicklung zu globalen Mustern und Strukturen niemanden nervt.

Doch an eins wird sich niemand gewöhnen wollen: an den Terror als Begleiter im Städtetourismus. In Paris, Brüssel, Istanbul haben das alle gemerkt, die vom Tourismus leben. Berlin hat nach dem mörderischen Anschlag vom Breitscheidplatz eine erste Ahnung davon bekommen, wie Terror auf Tourismus wirkt. Ein Internet-Reiseunternehmen hat in einer Umfrage das trendigste städtische Reiseziel für 2017 ermittelt. Es ist Reykjavik.

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